Auf den Flügeln des Friedens
Yossi Leshem und Imad Atrash sind sehr ungleiche Partner. Gerade deshalb ist das, was sie gemeinsam erreichen, besonders bemerkenswert.
Bei einer internationalen Vogelmesse in England eilen Yossi Leshem und Imad Atrash von Konferenz zu Konferenz – so vollkommen ins Gespräch vertieft, dass sie ihre Umwelt kaum wahrnehmen.
Was diese Umwelt nicht weiß, ist, dass hier eine Freundschaft gepflegt wird, die aller Wahrscheinlichkeit widerspricht.
Diese weltweit größte internationale Jahreskonferenz für Vogelfreunde und Ornithologen findet auf dem Gelände einer Farm bei Leicester statt; die Wege zwischen den Zelten und anderen Aufbauten bestehen aus dickem, nassem Schlamm. Doch offenbar lassen sich die beiden Unzertrennlichen bei ihren Eilmärschen von Konferenz zu Konferenz davon weder beeindrucken noch aufhalten. Sie denken nur an ihr gemeinsames Ziel: die Umwelt am Flusslauf des Jordan zu schützen, speziell die Lebensräume der Zugvögel. Sie wissen, dass ihre gemeinsame Zeit kostbar ist, denn nach diesen vier kurzen Tagen im triefnassen England, wenn Leshem nach Israel und Atrash nach Palästina zurückkehrt, wird eine durch die Politik gerissene Kluft sie trennen. Ein neues Treffen zu arrangieren, um Informationen auszutauschen, wird eine zeitraubende und erschöpfende Herausforderung sein.
Ironischerweise leben und arbeiten diese beiden Männer nur einige Kilometer voneinander entfernt. Sie zusammenzubringen, wäre in fast jeder anderen Weltregion eine Routineangelegenheit, nichts Besonderes; doch hier – der eine in Israel und der andere im Westjordanland – ist es, als lebten sie auf entgegengesetzten Seiten des Erdballs. Es wäre sogar einfacher, wenn es so wäre, und das war einer ihrer Hauptgründe, nach England zu reisen.
Ihre Gespräche bei der Vogelmesse sind intensiv, und ihr Zeitplan ist hektisch. Sie hasten zu Konferenzen mit Leitern von Stiftungen und Unternehmen, aber auch mit privaten Philanthropen, die sie um Unterstützung bitten, und dabei sieht man ihnen ihre Sorge an. Werden sie diese potenziellen Förderer davon überzeugen können, wie wichtig ihre Arbeit mitten in einer der ältesten und gefährlichsten politischen Sackgassen der Geschichte ist? Was sie sich vorgenommen haben, wäre schon genug, um zu verzagen, wenn beide auf der gleichen Seite dieses jahrhundertelangen Konflikts zwischen Palästinensern und Israelis stünden. Dass es anders ist, verstärkt sowohl ihre Sorge als auch die Ungeheuerlichkeit ihres Vorhabens.
Diese beiden Männer – aufgrund der regionalpolitischen Lage einst Feinde – sind echte Freunde geworden, weil beide etwas lieben und schützen wollen, das älter ist als der palästinensisch-israelische Konflikt.
„Tagsüber ist er mein Feind, aber nachts mein Freund. Oder umgekehrt“, scherzt Atrash in einem seltenen ruhigen Moment, als er und Leshem einem anderen Delegierten auf der Vogelmesse über ihre ungewöhnliche Beziehung und Arbeit erzählen.
Leshem – ranghoher Forscher des Zoologie-Seminars an der Universität Tel Aviv – schießt sofort zurück: „Er ist die ganze Zeit mein Freund.“ Beide lachen laut und geben einander einen herzhaften, klatschenden Handschlag.
Von der Geste angerührt, erklärt der Vogelfreund, mit dem sie sprechen: „Wunderbar, wie man die Politik komplett vergisst, wenn es um Naturschutz geht!“
FÜR DIE VÖGEL
Die Geschichte von Atrash und Leshem begann vor 20 Jahren in Israel und Palästina – einer Region mit vielen Überraschungen für jeden Besucher, der sie ausschließlich durch die Bilder von Fernsehnachrichten und Kinofilmen kennt. Viele stellen sich nur endlose Gewalt und staubtrockene Landshaften vor, explodierende Raketen und tödliche Busbomben oder Jugendliche, die reaktionslose Panzer mit Steinen und Flaschen bewerfen. Es ist tatsächlich ein Land, das von der Wüste und ständiger Gewalt bedroht ist – aber nicht nur. Es gibt noch Gegenden, in denen die Gewalt nicht zu hören ist, wo das Wasser emporsprudelt und üppige, schöne, sogar friedvolle Oasen schafft.
„Das fruchtbare Jordantal, die Wiege des Ackerbaus im Nahen Osten, ist die Heimat einer einzigartigen Tier- und Lebenswelt, die derzeit schwer gefährdet ist.“
Diese Orte, an denen das Leben gedeiht und sich drängt, offenbaren eine der größten Überraschungen der Region: Sie ist Lebensraum für Vögel scheinbar jeder Art, zu Hunderten von Millionen. Jedes Jahr im Frühling und Herbst landen Adler, Kraniche, Störche und sogar leuchtend rosa Flamingos am Jordan, um sich auf ihrem Weg von Europa oder Asien nach Afrika und zurück auszuruhen. Diese Zwischenlandung macht eine halbe Milliarde Vögel bei ihrem halbjährlichen Flug um die Welt.
Die größten Konzentrationen finden sich im Hule-Tal, an der Nordgrenze Israels nahe der Jordanquelle. Während der Zugperiode im Hule-Tal zu sein, ist eine überwältigende Erfahrung, die das Leben eines Menschen verändert. Man erlebt die Majestät unserer Erde und gleichzeitig das fragile Gleichgewicht ihrer Wechselwirkungen.
Gerade hier war der Staat Israel vor 20 Jahren mit einem wachsenden Problem konfrontiert. Israelische Militär- und sogar Zivilflugzeuge stießen auf diese Vögel, und lokale Schlagzeilen berichteten immer öfter über tödliche Kollisionen. Nicht nur Menschen kamen ums Leben, sondern es bestand auch ernste Gefahr für Vogelarten, die diese Route seit zahllosen Jahrhunderten flogen. So bat das israelische Militär den engagierten Ornithologen Leshem, bei der Lösung des Problems zu helfen. Er begann sofort, Daten zu sammeln, führte die erste Zählung der Vögel durch und zeichnete ihre Flugrouten auf. Anhand dieser Informationen konnte er Zeit und Position von Schwärmen in den Hauptperioden des Vogelzugs bald mit erstaunlicher Genauigkeit voraussagen. Flugzeugunfälle mit Vögeln gingen nicht nur dramatisch zurück, sondern kamen fast gar nicht mehr vor. Leshem wurde ein Nationalheld.
„In den 1960er- und 1970er-Jahren verlor die israelische Luftwaffe mehr Maschinen durch Vögel als durch feindliches Feuer.“
Er beschloss, seinen Erfolg und neuen Ruhm zu nutzen, um für den Schutz dieser Millionen von Vögeln zu werben. Das israelische Militär war so dankbar, dass er wie noch niemand zuvor Zugang zum israelischen Luftraum erhielt, um seine Forschung zu betreiben.
Bald wurde Leshem jedoch klar, dass es nicht zu schaffen war, wenn nur sein Land kooperierte. Diese Vögel sind auf eine Zugstraße angewiesen, die weit länger ist als der Jordan. Auf ihren Reisen zwischen Eurasien und Afrika fliegen sie an einer der größten geologische Formationen der Erde entlang: dem Großen Afrikanischen Grabenbruch, der sich von der Türkei und Syrien durch den Libanon, Israel und Palästina, das Rote Meer und dann nach Süden bis Mosambik erstreckt. Leshem wusste, dass seine Bemühungen um den Schutz des Jordanlandes vergeblich sein würden, wenn nicht erreicht werden konnte, dass die internationale Gemeinschaft dieses massive Ökosystem verstünde und sich verpflichtete, seine Gesundheit und sein Überleben zu sichern.
„Wer nicht auf regionaler Ebene arbeitet, verliert. Wir können in Israel hervorragende Arbeit leisten, aber wenn die Palästinenser und Jordanier ihren Lebensraum zerstören, haben wir nichts erreicht – oder umgekehrt“, sagte Leshem zu Vision.
Dies wurde für ihn zu einem vorrangigen Ziel, obgleich er wusste, dass es enorme Hindernisse geben würde – nicht zuletzt die Tatsache, dass die meisten Länder entlang dieser großen Zugstraße muslimisch sind und keine diplomatischen Beziehungen zu Israel haben. Wie sollte Leshem Zugang zu Menschen bekommen, die ihn in seinem Anliegen unterstützen konnten? Aufgrund der politischen Lage konnte er nicht einmal in jene Länder einreisen.
Doch dadurch ließ er sich nicht entmutigen. Er begnügte sich damit, klein anzufangen, und wandte seine Aufmerksamkeit den palästinensischen Gebieten zu. Dort fand er einen Mann mit geringen Mitteln, aber einer ähnlichen Leidenschaft und Liebe für den Schutz der Natur. Er fand Imad Atrash.
Atrashs Vater war der Gründer einer Organisation, die man in Bethlehem, einer Stadt im Westjordanland, nicht erwartet hätte. Die „Palestine Wildlife Society“ entstand zu einer Zeit, in der es jeden Tag, jede Minute vor allem um das Überleben der Menschen ging. Zeit und Mittel zur Naturbetrachtung waren in der Tat knapp. Doch Atrashs Vater erkannte die Bedeutung der Umwelt selbst in jenen schweren Zeiten.
Für Atrash sind die Bedingungen heute nicht viel besser, doch trotz des starken politischen und wirtschaftlichen Drucks führt er das Werk seines Vaters fort. Mit ihm fand Leshem einen Mann in Palästina, der seine Vision teilte, und zu seiner großen Freude sagte ihm Atrash seine Hilfe zu. So begann eine außergewöhnliche Freundschaft.
Sie machten sich daran, zu planen, wie sie ihre Vision auf andere Länder entlang des Großen Afrikanischen Grabenbruchs ausweiten konnten. Frühere Versuche, eine Konferenz mit Teilnehmern aus allen Ländern zu organisieren, waren gescheitert, weil so viele Vertreter muslimischer Länder eine Zusammenkunft mit Leshem abgelehnt hatten. Atrash dagegen war ein akzeptabler Botschafter für die Not des Afrikanischen Grabenbruchs, und er trägt nun ihr Anliegen ungehindert in die arabischen Länder.
„Das langfristige Ziel ist, entlang dem Afrikanischen Grabenbruch ein einziges Regionalsystem zu entwickeln und 20 weitere Länder für dieses Ziel zu gewinnen“, erklärte Leshem. „Imad ist jetzt Botschafter der Umwelt und des Friedens in Syrien, dem Libanon, dem Jemen, Saudi-Arabien und dem Irak. Er geht in der Region überall hin.“
An einem von Yossis und Imads erfolgreichsten Gemeinschaftsprojekten waren auch Jordanier beteiligt. Jahrhundertelang galten Eulen in Jordanien als Unglücksboten. Daher war es gang und gäbe, Eulen zu töten, um potenzielles Unglück abzuwenden. Die Folge war, dass die Bauern auf beiden Seiten der Grenze zwischen Israel und Jordanien unter Nagetierplagen litten. In Zusammenarbeit mit der Regierung Jordaniens und dem pensionierten General Mansour Abu-Rashed konnten Yossi und Imad diesen Bauern zeigen, dass Eulen tatsächlich nützliche und in der Region notwendige Beutegreifer sind. Statt sie abzuschießen, stellen Jordanier und Israelis ihnen nun entlang der gesamten Grenze Nistkästen bereit. Die Eulen gedeihen, und die Nagetierpopulation wird wieder in Grenzen gehalten. Viele dieser Nistkästen sind ehemalige Munitionskisten – in einer symbolischen Geste gespendet von den israelischen und den jordanischen Streitkräften.
VÖGEL OHNE GRENZEN
Als Leshem und Atrash mit ihrer Zusammenarbeit begannen, entschieden sie sich, ihrer Leidenschaft für die Natur und diese Vögel zuliebe ihren tiefsitzenden Argwohn gegeneinander zu überwinden. Es war nicht einfach, doch sie sind enge Freunde geworden. Natürlich haben sich ihre politischen Differenzen nicht aufgelöst, und in ihren Gesprächen treten diese Meinungsverschiedenheiten oft zutage. Man muss nicht lange bei ihnen sein, um die emotionale Spannung zu spüren, die durch ihre kulturelle und religiöse Identität entsteht. Beim Bier in einem Pub in der Nähe der Vogelmesse streiten sie laut über den politischen Weg zum Frieden. Die Beklommenheit des Zuhörers bei diesem langen Gespräch weicht der Begeisterung, als die beiden sich wieder ihrer Arbeit zuwenden – und damit den Problemen, die ihnen wichtiger sind als ihre ethnischen oder politischen Belange. Beim Abschied umarmen sie sich kurz, um zu zeigen, dass sie einander nicht gram sind.
„Atrash und Leshem, die sind wie Zwillinge“, kichert Haya Helal, Direktorin für Kommunikation und Marketing der Palestine Wildlife Society: „Sie reden und reden und reden, und wenn es irgendwie um die Umwelt geht, hören sie nie wieder auf. Als wenn ihre Mutter die Umwelt wäre und ihr Vater die Natur. In Sachen Umweltschutz sind sie das Rückgrat der ganzen Beziehung zwischen Palästinensern und Israelis.“
Wenn Atrash für seine Arbeit zum Schutz der Vögel wirbt, sagt er oft, für den Konflikt in Palästina werde es keine politische Lösung geben. Dennoch ist er nicht ohne Hoffnung, denn er hat persönlich erfahren, dass Palästinenser und Israelis zusammenarbeiten können. Auch Leshem weiß, dass der jahrhundertealte Nahostkonflikt nur zu lösen ist, wenn sich Menschen von beiden Seiten in gemeinsamen Werten und Zielen persönlich begegnen. Darum bemühen sich beide Männer darum, dass junge Menschen in Israel und Palästina Seite an Seite zusammenarbeiten, Wissen über die Vögel erwerben und Daten sammeln, die den Willen zu ihrem Schutz stärken werden.
„Die Menschen hier leiden auf beiden Seiten des Flusses zu sehr unter dem Krieg. Wir müssen ihnen den Nutzen eines Friedensvertrages zwischen Jordanien und Israel zeigen. Das ist der Gedanke hinter unserem Projekt.“
„Wir glauben nicht an die Politiker“, erklärt Leshem. „Sehen Sie sich doch den Friedensprozess an ... sie versagen. Die Macht der Natur bringt Menschen zusammen.“
Was er und Atrash bisher gemeinsam geleistet haben, widerspricht aller Wahrscheinlichkeit – die einem solchen Gemeinschaftswerk zwischen Feinden eigentlich keine Chance gibt. Es ist fragil und in seiner Existenz bedroht, ebenso wie das empfindliche Ökosystem, das sie zu erhalten suchen.
Die Symbolik der herrlichen Vögel am Himmel über dem Jordantal entgeht niemandem, der ihre Geschichte kennt. „Zwischen den Vögeln gibt es keine Grenzen.“ Atrash lächelt und fährt fort: „Sie können morgens in Bet-Shan auf Nahrungssuche gehen, und am Nachmittag kommen sie nach Jericho.“ Von diesem Bild haben Leshem und Atrash ihren Slogan abgeleitet – „Zugvögel kennen keine Grenzen“ – und ein Projekt mit dem gleichen Namen ins Leben gerufen. Es bringt vor allem arabische und israelische Schüler zusammen; sie lernen mehr über diese Zugvögel und helfen beim Sammeln von Daten sowie bei der Feldforschung. Das Programm wurde 1996 in Zusammenarbeit mit dem israelischen Bildungsministerium entwickelt. Inzwischen ist es in 60 israelischen, 30 jordanischen und 30 palästinensischen Sekundarschulen eingeführt und wurde sogar auf Schulen in den USA, Russland und Europa ausgeweitet. Manche Vögel tragen winzige Satellitensender, die ihren Standort auf einer Internet-Website sichtbar machen; so können die Schüler fast in Echtzeit den langen Flug der Vögel von Europa und Asien über den Nahen Osten nach Afrika und zurück verfolgen.
ALLEN SCHWIERIGKEITEN ZUM TROTZ
Seit Hunderten von Jahren ist der Konflikt der Menschen im Nahen Osten ein bedeutender Faktor der weltpolitischen Lage. Doch die Vögel kommen schon viel länger dorthin. Letztlich kommt die Arbeit dieser beiden Männer nicht nur den Vögeln zugute – für die Menschen könnte sie sogar noch wichtiger sein. Die beiden und ihre jungen Schüler lehren uns, dass man Jahrhunderte menschlicher Erfahrung überwinden kann, wenn man sich für etwas einsetzt, das größer ist als man selbst, tiefsitzende Vorurteile überdenkt und Feinden die Hand reicht.
Allen Schwierigkeiten, allen politischen Gefahren zum Trotz setzen die beiden Männer mit der Leidenschaft, ihre Umwelt zu schützen, ihr Ansehen und ihr Leben aufs Spiel, um etwas scheinbar Unmögliches zu erreichen. Es ist ein schweres Ringen, doch dabei zeigen sie anderen etwas, das für den wahren Frieden der Menschheit entscheidend ist: Der Schlüssel zur Lösung vieler Probleme in der heutigen Welt besteht darin, Beziehungen zu verbessern – nicht nur zwischen Menschen über ethnische, kulturelle und nationale Grenzen, sondern auch zwischen der Menschheit und der Erde mit ihren empfindlichen Lebensräumen.
Leshem und Atrash finden einen Weg zur Überwindung von eingefleischtem politischen und ethnischen Hass mit einer größeren Vision der Erde – nicht als Planet, der durch von Menschen geschaffene Grenzen zerteilt ist, sondern als ein Organismus, der internationale Zusammenarbeit verzweifelt nötig hat, um ökologische wie politische Krisen zu bewältigen.