C. G. Jung: Auf ewig „Jung“

Carl Gustav Jung (generell „C. G. Jung“ genannt) ist vor allem als einer der Väter der modernen Psychotherapie bekannt – neben seinen einstigen Weggefährten Sigmund Freud und Alfred Adler. Durch ihn fanden Begriffe wie introvertiert und extravertiert, kollektives Unbewusstes, Archetypen und Synchronizität Eingang in die Populärsprache. Abgesehen davon aber wissen die meisten Menschen heute wohl wenig über C. G. Jung. Doch sein tiefgreifender Einfluss ist von entscheidender Bedeutung für den heutigen Stand der westlichen Kultur.

Nachdem er sich 1910 von der „Wiener Psychoanalytischen Vereinigung“ unter Freud getrennt hatte, entwickelte Jung eine Methode, die er „analytische Psychologie“ nannte. Viele ihrer Aussagen waren so geartet, dass er für manche ein „Gründervater des New Age“ wurde – aber auch, dass weite Teile der wissenschaftlichen Welt ihn nicht ernst nahmen.

Jung ärgerte sich, dass er als Wissenschaftler nicht anerkannt wurde, und hasste es, als Mystiker bezeichnet zu werden. Gleichwohl blieb dieses Etikett bis zu seinem Tod und darüber hinaus an ihm haften. Selbst seine Sekretärin Aniela Jaffé räumte ein: „Dennoch kann nicht übersehen werden, dass deutliche Analogien zwischen der Mystik und der Jungschen Psychologie bestehen“, doch, wie sie betonte, „ohne dass Letzterer dadurch die Wissenschaftlichkeit abgesprochen werden müsste“.

Auch Gary Lachman merkt in seiner Biografie von 2010 an, trotz Jungs gegenteiliger Behauptungen „wäre er nach seiner eigenen Definition ein Mystiker“. Er bekannte sich offen dazu, dass er paranormale Erfahrungen hatte und an Séancen teilnahm. Lachman sieht Jungs Ruf als Mystiker auch im Zusammenhang mit der Tatsache, dass er behauptete, besonderes, geheimes Wissen zu besitzen – Gnosis, „die nicht durch die normalen Methoden der Erkenntnis erlangt wurde“. Wie Lachman bemerkt, „war Jungs Verbindung zum Gnostizismus so bedeutend, dass das C. G. Jung-Institut 1952 eine der gnostischen Schriftrollen erwarb, aus denen die Bibliothek [von Nag Hammadi] bestand, und ihr den Namen Codex Jung gab – zu Ehren des Mannes, den viele als modernen Gnostiker sahen“.

Die Erinnerung an die äußeren Fakten meines Lebens ist mir zum größten Teil verblaßt oder entschwunden. Aber die Begegnung mit der inneren Wirklichkeit, der Zusammenprall mit dem Unbewußten, haben sich meinem Gedächtnis unverlierbar eingegraben.“

ANIELA JAFFÉ, ERINNERUNGEN, TRÄUME, GEDANKEN VON C. G. JUNG (1962)

Jungs Verwendung religiöser Begriffe hat gelegentlich das Missverständnis gefördert, seine Vorstellung von Spiritualität sei in irgendeiner Weise mit einer biblischen Sicht vereinbar; doch in seinen Schriften stellt Jung die Themen Gott, Christus und allgemein Religion durchgehend als Mythologie dar.

Wer war nun dieser ehrgeizige Einzelgänger? Die meisten Biografien stellen die jeweilige Person vor allem in ihren Beziehungen dar – der Familie, in die sie hineingeboren ist, und den späteren Begegnungen, die ihre Entwicklung beeinflussen. Doch eine Skizze des Lebens von Carl Gustav Jung muss unweigerlich eine etwas andere Ausrichtung haben. Die Erlebnisse, die am tiefsten auf ihn wirkten, waren nach seinen eigenen Worten diejenigen, die sich in seinem Inneren abspielten; Menschen und die äußerlichen Fakten des Alltags waren für ihn relativ uninteressant.

Die Dinge, welche eine verständliche Biografie ausmachen“, diktierte er Aniela Jaffé in seiner Autobiografie, waren ihm „zu eben noch erinnerbaren Schemen geworden“, verblasst neben seinen „inneren Ereignissen“. Dies waren Träume, Visionen (manche würden sie vielleicht als Halluzinationen bezeichnen), das Wechselspiel zwischen den beiden Personen, als die er sich erlebte (seine „Persönlichkeit Nr. 2“ war ein einflussreicher Mann, „der im 18. Jahrhundert lebt und Schnallenschuhe trägt und eine weiße Perücke und in einer Kalesche fährt“) sowie „Imaginationen“. Sie bahnten in seinem Inneren den Weg zur „Individuation“ – so nannte er später den Prozess der Selbstwerdung durch die Integration des Bewusstseins mit dem Unbewussten.

Dennoch lassen sich einige Aspekte einer verständlichen Biografie finden und erzählen. Seine Geburt am 26. Juli 1875 war z. B. mit Sicherheit nichts Schemenhaftes, jedenfalls nicht für seine Mutter, Emilie Preiswerk-Jung. Carl war ihr viertes Kind, aber zwei Töchter waren Totgeburten gewesen, und der erste Sohn war kurz nach der Geburt gestorben. Der Vater Paul Jung war evangelischer Pfarrer, doch in seinem Beruf ebenso unglücklich wie in seiner Ehe – die für seine Frau gewiss auch nicht erfreulich war. Emilie wird als schwermütig beschrieben, mehr interessiert am Okkulten als an irgendeiner Zuwendung zu ihrem Sohn. Nach einem Zusammenbruch musste sie für eine Weile ins Krankenhaus; Carl war damals etwa drei Jahre alt, und das Ereignis hinterließ bei ihm einen bleibenden Eindruck. Jung berichtet, er habe Frauen nie wieder vertrauen können.

Er wuchs im Wesentlichen als Einzelkind auf, und die Geburt seiner Schwester Gertrude, als er neun war, änderte daran wenig. Jung erzählte: „Ich spielte allein und auf meine Manier. Leider kann ich mich nicht an das erinnern, was ich spielte, sondern nur daran, daß ich nicht gestört sein wollte.“ Lachman schreibt, diese Vorliebe für die Isolation sei „Jung sein Leben lang eigen geblieben“. Jungs lebenslanger Freund Albert Oeri erinnerte sich daran, wie er und Jung das erste Mal zum Spielen zusammengebracht wurden, weil ihre Väter „von der Studienzeit her gut befreundet“ waren und hofften, auch ihre Söhne würden enge Freunde werden. Diese Hoffnung wurde jedoch zunächst enttäuscht: Carl konzentrierte sich weiter auf sein selbstversunkenes Tun und weigerte sich, Albert zur Kenntnis zu nehmen. „Warum erinnere ich mich nach etwa fünfundfünfzig Jahren überhaupt an dieses Zusammentreffen? Wohl darum, weil mir ein solch asoziales Monstrum überhaupt noch nie vorgekommen war.

Selbst nachdem er Emma Rauschenbach geheiratet hatte und Vater geworden war, änderte sich nichts an Jungs generellem Desinteresse an anderen Menschen. In A Life of Jung merkt Ronald Hayman an, dass Jung zwar gelegentlich mit seinem Sohn Franz segeln ging (vielleicht mehr, weil er das Segeln liebte als aus sonderlichem Interesse an seinem Sohn), seine Töchter aber generell auf Abstand hielt. Bei einer der seltenen Bootsfahrten, zu denen er sie mitnahm, kaufte er ihnen etwas zum Naschen. „Schau“, rief die achtjährige Marianne ihrer Mutter zu, „Franz’ Vater hat mir ein Küchlein gekauft!“ Emma nahm die Gelegenheit wahr, ihrer Tochter zu erklären, dass Jung auch ihr Vater war.

Jungs Frau und die fünf Kinder lernten, sich an seine vielfältigen Seltsamkeiten zu gewöhnen. Sie mussten nicht nur eine seiner Geliebten als Mitglied des Haushalts akzeptieren, sondern auch mit den paranormalen Phänomenen leben, die sich zu steigern schienen, wenn Jung sich einschloss, um zu „imaginieren“ – dabei versetzte er sich in einen Zustand zwischen Schlafen und Wachen (Hypnagogie), in dem er mit seinen inneren Stimmen kommunizierte, um Konflikte zwischen Bewusstsein und Unbewusstem zu lösen. Jungs autobiografische Schilderungen der Visionen, die er in diesem Zustand erlebte, kommen vielen Lesern leicht bizarr vor, zumal angesichts seiner Ambition, als Mann der Wissenschaft zu gelten.

Es kommt mir vor, als ob jene Fremdheit, die mich von der Welt solange getrennt hatte, in meine Innenwelt übergesiedelt wäre und mir eine unerwartete Unbekanntheit mit mir selber offenbart hätte.“

ANIELA JAFFÉ, ERINNERUNGEN, TRÄUME, GEDANKEN VON C. G. JUNG (1962)

Doch seine offensichtliche Affinität zur Geisterwelt hatte eine lange, sogar familiäre Vorgeschichte. Seine Mutter war die Tochter eines Hebraisten, der in seinem Arbeitszimmer einen Stuhl für den Geist seiner verstorbenen ersten Frau freihielt. Er wurde auch von anderen Gestalten heimgesucht, und es war Emilies Aufgabe, sie zu verscheuchen, damit er an seinen Predigten arbeiten konnte. Mit der Zeit entwickelte Emilie selbst „mediale Kräfte“, einschließlich einer zweiten Persönlichkeit, die der kleine Carl regelmäßig beobachtete, bis nach einigen Jahren offenbar seine eigene „Nr. 2“ in Erscheinung trat. Jung berichtet, dass zwischen seinem achten und elften Lebensjahr „die nächtliche Atmosphäre sich zu verdichten begann“. Was da in seinem Elternhaus vor sich ging – „Ängstliches und Unverständliches“ –, beschreibt er so: „Aus der Tür zum Zimmer der Mutter kamen beängstigende Einflüsse. Nachts war die Mutter unheimlich und geheimnisvoll. Eines nachts sah ich aus ihrer Tür eine etwas luminose, unbestimmte Gestalt treten, deren Kopf sich nach vorn vom Hals abhob und in die Luft vorausschwebte, wie ein kleiner Mond. Sofort entstand ein neuer Kopf, der sich wieder abhob. Dieser Prozeß wiederholte sich sechs- bis siebenmal.“

Angesichts solcher Erlebnisse, zusammen mit Jungs Interessen und Praktiken in seinem ganzen späteren Leben, darunter seinem eindeutig gnostischen Spätwerk Antwort auf Hiob (1952), erscheint eigenartig, was er laut Lachman 1957 in einem Interview sagte. Damals erklärte Jung: „Wer sagt, ich sei ein Mystiker, ist einfach ein Idiot.“

Allerdings war Jung seiner eigenen Einschätzung nach nicht am besten geeignet, sein Leben zusammenzufassen. „Ich bin außerstande, einen definitiven Wert oder Unwert festzustellen“, ist in seiner Autobiografie zu lesen; „ich habe kein Urteil über mich und mein Leben. In nichts bin ich ganz sicher. Ich habe keine definitive Überzeugung – eigentlich von nichts. Ich weiß nur, daß ich geboren wurde und existiere, und es ist mir, als ob ich getragen würde.“ Trotz seiner Unsicherheit in dieser Frage äußerte Jung die Überzeugung, es gebe eine Art Kontinuität des Seins, ob durch Reinkarnation oder etwas anderes. Wie dem auch sei – viele der Begriffe, die er für seine besondere Philosophie prägte, werden wohl Bestandteile der Populärsprache bleiben.