Friedrich Nietzsche
Ist Gott tot oder Nietzsche?
Wenn man sein frühes Leben betrachtet, hätte man nicht erahnen können, welchen Einfluss Friedrich Nietzsche auf die Gesellschaft haben würde. Geboren 1844 in einer ländlichen Gegend südwestlich von Leipzig, war seine Kindheit sehr religiös geprägt. Sein Vater und beide Großväter waren lutherische Pfarrer. Als Nietzsche vier Jahre alt war, starb sein Vater an einer Gehirnkrankheit, und die Familie zog in das nahe gelegene Naumburg an der Saale.
1864 ließ er sich an der Universität von Bonn immatrikulieren, wo er Theologie und Philologie studierte, die Interpretation klassischer und biblischer Texte. Im folgenden Jahr schrieb er sich an der Universität Leipzig ein. Die Vorlesungen in Philologie machten ihn mit dem Werk Arthur Schopenhauers bekannt, dessen atheistische Ansichten, so behaupten die meisten Gelehrten, Nietzsches Abwendung von seinen religiösen Wurzeln inspiriert haben.
Im Alter von 24 Jahren akzeptierte Nietzsche eine Position als Philologe an der Universität in Basel. In den nächsten Jahren entwickelte sich eine enge Freundschaft mit dem Komponisten Richard Wagner. Wagners musikalische Inspiration und Nietzsches Studien in Philologie, gepaart mit seiner Frustration über das deutsche Kulturleben, führten zu Nietzsches erstem Buch, Geburt der Tragödie. Obwohl großes Lob seitens Wagners das Buch populär machte, war die akademische Welt weniger enthusiastisch.
Im Verlauf der nächsten Jahre schrieb Nietzsche eine Serie von vier Studien über die deutsche Kultur mit dem Titel Unzeitgemäße Betrachtungen. Obwohl er in der letzten dieser kleinen Studien Wagners musikalischen Einfluss in schmeichelnden Worten beurteilte, zerbrach die Freundschaft, als er in Menschliches - Allzumenschliches den Einfluss von Wagners Musik auf die zeitgenössische deutsche Kultur attackierte. Er wies die schopenhauerschen und wagnerianischen Ideale von sich, die Askese und Leiden glorifizierten, und erklärte, dass auch die Tendenz anderer, das Leben durch die Kunst zu idealisieren, gleichermaßen fehlerhaft sei.
Nietzsche argumentierte stattdessen, dass Gut und Böse keine Gegensätze seien, sondern Extreme ein und derselben motivierenden Kraft, die er später als den Willen zur Macht bezeichnete - der jedem Menschen angeborene Trieb, zu dominieren. Der Wille, so Nietzsche, sei tatsächlich motiviert vom Selbsterhaltungstrieb und dem Streben nach Lust, und er glaubte, dass weitere, tiefer gehende Analysen schlussendlich seine Theorie bestätigen würden.
1879, als Nietzsches Gesundheit nachzulassen begann, konnte er seine Arbeit in Basel nicht mehr fortsetzen. Sein Arzt schlug einen Klimawechsel vor, und so reiste er zu verschiedenen Teilen Europas. In Venedig fing Nietzsche an, seine erste wirkliche Kritik am Christentum niederzuschreiben. Er meinte, dass christliche Werte nur ein Grund wären, das Individuum an etwas zu fesseln, das nicht wünschenswert sei und das den Charakter verderbe. Er rief die Menschheit dazu auf, die konventionelle Moral zu überwinden, die er als Aberglaube sah.
In seinem Werk Fröhliche Wissenschaft proklamierte Nietzsche zum ersten Mal den Tod Gottes. Ohne Gott könne sich die Gesellschaft wahrer Freiheit erfreuen, so wie sie vom eigenen Willen zur Macht bestimmt würde. „Hören wir noch nichts von dem Lärm der Totengräber, welche Gott begraben?“, schrieb er. „Riechen wir noch nichts von der göttlichen Verwesung? Auch Götter verwesen! Gott ist tot! Gott bleibt tot! Und wir haben ihn getötet! Wie trösten wir uns, die Mörder aller Mörder? . . . Ist nicht die Größe dieser Tat zu groß für uns? Müssen wir nicht selber zu Göttern werden, um nur ihrer würdig zu erscheinen?“ Demgemäß kam er zu dem Glauben, dass er sich durch das Überwinden der Notwendigkeit, sich religiösen Idealen zu unterwerfen, aus sich heraus zu wahrer Größe emporschwingen könne.
Obwohl er mit dem Christentum total uneins war, schien er doch einen gewissen Respekt für Jesus, den Menschen, zu haben. Im Antichrist schreibt er: „Es gab nur einen Christen, und der starb am Kreuz.“ Er beschreibt Christus als jemanden, der der Menschheit gezeigt hätte, wie man leben sollte. Doch während er anscheinend dem Beispiel Jesu Christi als Mensch einen gewissen Wert zuerkannte, zeigte er andererseits deutlich auf, was er als Fehler in der konventionellen Religion sah, nämlich dass, während Christus einen Lebensweg aufzeigte, die Religion nur Dogma und blinden Glauben fördere. Er meinte: „Menschen reden immer von ihrem Glauben und doch handeln sie nach ihrem Instinkt.“ Diese Ungereimtheit konnte der frühere Theologiestudent nie miteinander in Einklang bringen.
1883 schrieb er Also sprach Zarathustra, was von einigen als sein größtes Werk gesehen wird. Darin erweiterte er die Theorie vom Willen zur Macht und vertrat die Ansicht, dass es die Angst ist, die den Menschen zur Konformität versklavt und ihn davon abhält, seine Schwachheiten, seien sie sozial oder moralisch, zu überwinden.
In Jenseits von Gut und Böse artikulierte Nietzsche seine Verachtung konventioneller Moral. Wieder beschrieb er die christlichen Standards als „Sklavenmoral“ - eine Ursache für das Abnehmen des menschlichen Geistes und für den Ruin des Charakters.
Jonathan Glover schrieb in seinem Buch Humanity: A Moral History of the Twentieth Century: „Der Mensch Nietzsche bewundert den Willen, das schlechte Gewissen zu überwinden, das er als das Zeichen der Sklavenmoral sah - und der Wille sei es, der andere zu dominieren suche. Er glaubte, dass Egoismus für die edle Seele lebenswichtig sei und definiert ,Egoismus' als den Glauben, ,dass andere sich von Natur aus unterordnen und sich für uns aufopfern müssten'.“
Der Einfluss Nietzsches auf das 20. und 21. Jahrhundert ist außer Zweifel. Zahllose Künstler, Schriftsteller, Soziologen und Philosophen sind von seinen Schriften bewegt worden. Zum Teil durch deren Einwirkung ist die Religion ins Abseits gedrängt worden und humanistische Ideale stehen im Vordergrund. Dies wiederum führte dazu, dass Egoismus und Atheismus eine gewisse Anerkennung erlangt haben.
„Es zeigt sich natürlich, dass es Nietzsche ist, der tot ist; Gott bleibt.“
William Bennet schreibt in seinem Essay mit dem Titel Truth (Wahrheit) über Nietzsches berühmte Aussage: „Es zeigt sich natürlich, dass es Nietzsche ist, der tot ist; Gott bleibt.“ Er fährt fort: „Wie alle vor ihm und nach ihm, die seine Ansicht teilen, erkannte er, dass, wenn Gott tot ist, wenn es keine Wahrheit gibt, dann alles erlaubt ist. Wir kreieren ein Vakuum, das menschliche Macht füllen wird.“
In den letzten 12 Jahren seines Lebens war Nietzsche geisteskrank. Ob er an derselben Gehirnkrankheit litt, die seinen Vater getötet hatte, oder ob es eine Gegenreaktion auf eine Medizin war, die er wegen einer langwierigen Krankheit einnahm, oder, wie manche vermuten, Syphillis - die letzten Jahre Nietzsches zeugen nicht von einem Geist, der mit sich im Frieden war.
Am 25. August 1900, kurz vor seinem 56. Geburtstag, verstarb Nietzsche in der Villa seiner Schwester, offenbar an einer Lungenentzündung in Verbindung mit einem Schlaganfall.
Es scheint fast wie der Gipfel von Ironie, dass seine Schwester für ihn, den Mann, der den größten Teil seines Lebens damit verbracht hatte, das Christentum anzugreifen, ein christliches Begräbnis arrangierte und ihn im Familiengrab in seiner Heimatstadt beisetzen ließ.