John Maynard Keynes – der Retter des Kapitalismus?
Auch anderen Ökonomen wie David Ricardo, Thomas Malthus, John Stuart Mill, Alfred Marshall und Frederick Hayek verdanken wir bedeutende Beiträge zu dem Wirtschaftssystem, wie wir es heute kennen. Doch nur wenige haben die sozialen Folgen ökonomischen Denkens mehr beeinflusst als John Maynard Keynes. Sein Platz in dieser Denkerelite ist ihm sicher: Seine Theorien veränderten moderne Wirtschaftsmodelle und spielten eine direkte Rolle bei der Neuorientierung der westlichen Gesellschaft in den dunklen Tagen der Weltwirtschaftskrise. Genau als die Welt einen glänzenden Widerspruchsgeist brauchte, bot sich Keynes eine Bühne – und sein Auftritt war in der Tat eine Glanzleistung.
John Maynard wurde 1883 als Sohn des Ökonomen John Neville Keynes geboren. Im selben Jahr starb Karl Marx, dessen kommunistische Theorien der junge Keynes später maßgeblich konfrontieren und widerlegen sollte. Robert L. Heilbroner schreibt in Worldly Philosophers über John Maynard: „Mit viereinhalb Jahren fand er schon ganz allein die ökonomische Bedeutung der Verzinsung heraus; mit sechs fragte er sich, wie sein Gehirn funktionierte; mit sieben empfand ihn sein Vater als ,durch und durch entzückenden Begleiter‘.“ Die privilegierte Bildung, die Eton und King’s College in Cambridge zu bieten hatten, war daher vielleicht selbstverständlich. Wie Heilbroner aufzeigt, war Keynes so hoch begabt, dass „es war, als wären die Talente, die für ein halbes Dutzend Männer genügt hätten, durch einen Glücksfall in einer Person zusammengedrängt“. udem war er mit zwei Metern Körpergröße eine imposante Erscheinung.
Schon früh entwickelte Keynes eine Vorliebe für die feinen Dinge des Lebens; er fand Geschmack an Champagner und fühlte sich in den Kreisen der gehobenen Gesellschaft wohl. In seinem ersten Jahr am King’s College wurde er in eine exklusive Geheimgesellschaft mit dem Namen Apostel aufgenommen, zu deren Mitgliedern Bertrand Russell, G.M. Trevelyan, Leonard Woolf, G.E. Moore und E.M. Forster zählten. Mehrere von ihnen wurden Gründungsmitglieder der freidenkenden Bloomsbury Group, eines ebenso exklusiven Clubs bedeutender zeitgenössischer Künstler und Literaten. Forster und Keynes ebenso wie Leonard und Virginia Woolf waren unter den ersten Mitgliedern.
Keynes’ Biograph Robert Skidelsky zufolge begann er, sich „ein Urteil über jedes Thema“ zuzutrauen. Er war zutiefst von sich überzeugt und schien in allem, was er begann, Hervorragendes zu leisten. Er wagte sich in die gefährliche Welt der Währungs- und Rohstoffspekulation, häufte ein Vermögen von einer halben Million Pfund Sterling an und machte sich auch als Investor einen glänzenden Namen: Von 1928 bis 1945 verwaltete er einen Fonds für das King’s College und produzierte eine durchschnittliche Jahresrendite von 13,2% – trotz des Börsenkrachs von 1929 und der darauf folgenden Weltwirtschaftskrise.
Der viel versprechende Ökonom begann seine Regierungskarriere 1906 in Indien als subalterner Beamter. Die ersehnte Stellung im Finanzministerium war ihm entgangen, da er in der britischen Beamtenprüfung nur Zweiter geworden war. Doch Indien und seine Arbeit dort begannen Keynes bald zu langweilen; er quittierte den Dienst und ging zurück nach Cambridge. Seine Jahre in Indien waren allerdings nicht vergebens, denn sein Verständnis für die Belange des Landes trug in seinem ersten Werk Indian Currency and Finance (1913) Früchte. Es wurde bald als Meisterwerk anerkannt und bescherte dem Neunundzwanzigjährigen einen königlichen Auftrag, das Problem der indischen Währung zu untersuchen.
Später wurde Keynes ein wichtiger Mann im Finanzministerium, und nach dem Ersten Weltkrieg nahm er 1919 an der Versailler Friedenskonferenz teil. Als Mitglied der britischen Delegation war er Zeuge der Diskussionen über deutsche Reparationen. Aufgrund seiner eigenen Berechnungen sah Keynes, dass Deutschland diese Reparationen niemals zahlen konnte und, wenn man sie ihm auferlegte, nur in Armut geraten und Feindseligkeit gegenüber Frankreich und England entwickeln würde. Er fürchtete, die extreme Strafe der Alliierten würde die deutsche Wirtschaft ruinieren und zu weiteren Konflikten in Europa führen. Seine Voraussagen erfüllten sich, als Deutschland 1923 von einer Hyperinflation heimgesucht wurde, die zum Aufstieg Hitlers und der Nazipartei beitrug. Kurz nach Versailles veröffentlichte Keynes seine Ansichten in seinem Werk The Economic Consequences of the Peace (Die wirtschaftlichen Folgen des Friedensvertrages), das ihm breite Anerkennung und nationale Prominenz einbrachte.
Im Jahr 1923 nahm sich der inzwischen berühmte Ökonom in seinem Tract on Monetary Reform (Traktat über die Geldreform) den Goldstandard vor. Sein späteres Werk Treatise on Money (Vom Gelde, 1930) suchte zu erklären, wie die gesamte Volkswirtschaft und die Wechselwirkungen zwischen Ersparnis und Investitionen funktionierten. Keynes behauptete, Spar- und Investitionsentscheidungen würden von unterschiedlichen Personengruppen getroffen. Steven Pressman fasst sein Argument in Fifty Major Economists zusammen: „Es sei die Verantwortung der Zentralbank, diese beiden Variablen gleich zu halten“, um Inflation und Rezession zu verhindern.
So brillant das Werk auch war – es erklärte nicht die Ursache der Weltwirtschaftskrise, die fast gleichzeitig mit seiner Treatise on Money entstand. Die Depression wurde immer tiefer, und die Fachleute konnten sich nicht erklären, warum die Volkswirtschaften der Welt sich nicht erholten, wie es nach früheren Rezessionen geschehen war. Sie nahmen an, Ersparnis und Investitionen würden im Lauf der Zeit immer ein Gleichgewicht erreichen, das zu einem Konjunkturaufschwung führen würde. Doch in den 1930er-Jahren waren die Fakten andere. Die Konjunktur erholte sich nicht; es wurde immer schlimmer, und niemand wusste warum.
Inmitten der Weltwirtschaftskrise schrieb Keynes ein Buch, das das ökonomische Denken veränderte und die klassische Wirtschaftstheorie auf den Kopf stellte. Die im Jahr 1936 veröffentlichte General Theory of Employment, Interest and Money (Allgemeine Theorie der Beschäftigung, des Zinses und des Geldes) kam zu einem verblüffenden Schluss: Es gibt keinen „automatischen Sicherungsmechanismus“ in der Wirtschaft, der für ein Gleichgewicht zwischen Ersparnis und Investitionen sorgt und einen Konjunkturaufschwung herbeiführt. Die Konjunktur konnte im Keller landen und dort bleiben. In einer Depression konnte die Konjunktur schlecht bleiben und stagnieren – auf unbegrenzte Zeit.
Wenn eine Volkswirtschaft in einer Depression steckt, funktionieren herkömmliche ökonomische Regeln über Ersparnis und Investitionen möglicherweise nicht so wie in einem normalen Konjunkturzyklus. Sparen ist ein Luxus für Leute, die Geld in der Tasche haben. Arbeitslose hingegen sparen nicht nur nicht – sie verkaufen Vermögenswerte und geben zuvor gespartes Geld aus. Arbeitslose üben aufgrund ihres fehlenden Einkommens kaum einen positiven Einfluss auf die Konjunktur aus. Die einzige Lösung in dieser Situation ist mehr Beschäftigung, denn dadurch steigt das Einkommen und der Verbrauch. Keynes erklärte, wenn die Wirtschaft dazu nicht imstande sei, müsse der Staat eingreifen.
Er führte den Begriff „aggregierte Nachfrage“ ein – die Theorie, dass die Produktion und das Wachstum einer Volkswirtschaft weit gehend von der Gesamtnachfrage (d.h. der privaten plus der öffentlichen Nachfrage) bestimmt werden. Er glaubte, dass es Zeiten gibt, in denen die privaten Investitionen unzureichend sind und ein Eingreifen des Staates erforderlich ist, um sie zu stabilisieren. Der Staat sollte sich daher Geld leihen und Haushaltsdefizite in Kauf nehmen, um öffentliche Investitionen wie neue Straßen, Brücken und sonstige öffentliche Vorhaben zu finanzieren. Allerdings schrieb Keynes auch, der Staat solle aufhören, sich Geld zu leihen, und die öffentlichen Ausgaben verringern, wenn das Vertrauen der Verbraucher und der Wirtschaft wiederhergestellt sei. Mit Defiziten finanzierte Staatsausgaben sollen also eine kurzfristige Maßnahme sein, um die Wirtschaft wieder in ihr natürliches Gleichgewicht zu bringen. Als langfristige Politik befürwortete er sie nie.
Keynes war einer der Hauptarchitekten des Nachkriegssystems fester Wechselkurse, das 1944 bei einer Konferenz in Bretton Woods (New Hampshire) ausgehandelt wurde. Dieser Konferenz verdanken sowohl die Weltbank als auch der Internationale Währungsfonds ihre Entstehung. Das System sah vor, dass alle Staaten ihre Währungen an eine Feinunze Gold koppeln und diesen Wert beibehalten. Da alle Währungen an Gold gekoppelt sein würden, stünde ihr Wert in einem festen Verhältnis zu allen anderen. Das System der festen Wechselkurse hielt sich bis August 1971, als US-Präsident Richard Nixon die Konvertibilität des Dollars in Gold durch einen flexiblen oder variablen Wechselkurs ersetzte, bei dem der Dollar im Verhältnis zu einer Unze Gold schwanken konnte.
Nach dem Zweiten Weltkrieg und Bretton Woods war Keynes am Höhepunkt seiner Laufbahn. Im Jahr 1942 war er geadelt worden – er war nun Lord Keynes, Baron von Tilton –, und er wurde mit weiteren Ernennungen und Ehrungen überhäuft. Doch die Anforderungen seiner Pflichten lasteten schwer auf ihm und forderten ihren gesundheitlichen Tribut. Im Jahr 1946 kehrte er nach Sussex zurück, um sich auszuruhen und für die erneute Lehrtätigkeit in Cambridge vorzubereiten. Doch er erlitt einen Herzinfarkt (möglicherweise mehrere Infarkte) und starb in seinem Haus.
Sein Platz im Pantheon des ökonomischen Denkens ist John Maynard Keynes sicher. Obwohl seine Vorstellungen zunächst als ketzerisch und als Bedrohung für den Kern des klassischen ökonomischen Denkens galten, wurde der Keynesianismus zu seiner Zeit weithin akzeptiert. Vieles davon ist heute überholt und man macht sich darüber lustig, doch nur wenige Wirtschaftswissenschaftler können von sich behaupten, „die düstere Wissenschaft“ des 20. Jahrhunderts so nachhaltig beeinflusst zu haben oder direkt daran mitgewirkt zu haben, dass die Weltwirtschaft nach den Tiefen der Depression wieder zum Wohlstand zurückkehrte. Keynes spielte seine Rolle auf der internationalen Bühne zu einer entscheidenden Zeit der Weltgeschichte; Pressman nennt ihn darum den „pragmatischen Retter des Kapitalismus“.