Gebt mir eure Migranten
Migration ist heute eines der am heißesten umstrittenen Themen. Mit den Worten der Autorin: „Die populistischen Diskurse haben sich durchgesetzt, Hass geschürt, Angst kultiviert und hinterhältig Immigration mit Terrorismus assoziiert.“ Die Geschichte legt eine bessere Herangehensweise nahe.
Auf Bildern zu der Migration im 21. Jahrhundert sieht man kleine Boote, die sich abmühen, über enge Stellen des Mittelmeers von Afrika nach Europa zu gelangen. Oder man sieht lange Kolonnen von Flüchtlingen aus Syrien, Afghanistan und dem Irak, die von Osten her über die Grenzen strömen, um dasselbe Ziel zu erreichen.
Doch mit der Zeit sind sowohl Terrorzellen als auch populistische Regierungen aufgekommen, und die Reaktionen auf die bedürftigen Fremden von heute beginnen mancherorts, Formen von Gleichgültigkeit und sogar Härte anzunehmen. Es gibt mehr Barrieren und andere Einschränkungen der Freizügigkeit; neuen Berichten zufolge werden Flüchtlinge an einigen Grenzen gewaltsam abgewehrt. Corona-Ausbrüche werden die Lage nur noch verschlimmern, wenn Entwicklungsländer ihre wirtschaftlichen und sozialen Auswirkungen spüren und noch mehr Migranten in sicherere Gebiete fliehen.
Inmitten dieser Entwicklungen ist Donatella Di Cesares Stranieri residenti (2017) nun auch in englischer Übersetzung erschienen (Resident Strangers, 2020). Das Buch ist von begrüßenswerter Humanität. Di Cesare, Professorin an der Sapienza Università in Rom, hat das Thema auf ebenso erfrischende wie kenntnisreiche Weise bearbeitet. Ihr Buch ist gleichzeitig lehrreich und poetisch, stellenweise unklar und ein wenig verschachtelt. Im Mittelpunkt stehen drei Modelle des Zusammenlebens, die jeweils in einer historischen Weltstadt vorliegen: Athen, Rom und Jerusalem. Diese drei Städte, schreibt sie, decken die Haltungen der Welt zu Migranten und Migration ab.
Einleitend rät Di Cesare davon ab, Antworten auf Fragen nach Migrationskontrolle, der Unterscheidung zwischen Flüchtlingen und Wirtschaftsmigranten oder der erfolgreichen Integration von Zuwanderern in die aufnehmenden Gesellschaften zu erwarten. Sie will vielmehr eine neue Philosophie der Migration vorstellen – abseits der ausschließenden Politik moderner Staaten. Sie wendet sich gegen die herkömmliche Berufung auf „Blut und Boden“ als Säulen nationaler Identität und „Stützen der Diskriminierung“ des „Anderen“. Stattdessen plädiert sie dafür, den Begriff des Staates neu zu denken und eine aufgeklärte Gastfreundlichkeit wiederzuentdecken und auszubauen.
Di Cesare beginnt mit Texten bedeutender politischer Denkerinnen und Denker zu den Themen Immigration, Immigranten und Flüchtlinge – von Hannah Arendt bis zu Michael Walzer, von Kant bis zu Heidegger, Habermas, Foucault und anderen. Wichtig ist jedoch, hinzuzufügen, dass im Zentrum ihrer neuen Philosophie die Migranten selbst stehen, nicht der abstrakte Gedanke der Migration, nicht einmal der emotionslose politische Entscheidungsträger. Die Menschen, die zusehen, wie das überfüllte Schlauchboot kämpft, um das Land zu erreichen, müssen das Gegenteil von distanzierten Beobachtern werden, die bereit sind, ihr Territorium gegen fremde Eindringlinge zu verteidigen. Für diese neue Denkweise ist vielmehr jeder dieser Zuschauer „der Bürger, der sich zum Fremden zu machen weiß, indem er seine feste Verwurzelung aufgibt, [...] sodass er sich an seinem eigenen Ufer nicht länger beheimatet fühlt.“ Di Cesare meint, die Antwort sei nicht „erweiterte Empathie“ (obgleich sie keinen klärenden Alternativbegriff anbietet), sondern ein kontinuierliches Sichvorstellen, wie es für den anderen ist. Es kann durchaus sein, dass Mitgefühl – das, wie sie schreibt, in unserer Zeit nicht mehr lebt – das notwendige Attribut ist.
„Die häufig kruden und brutalen Bilder, von den Medien aufgenommen und veröffentlicht, haben recht wenige bewegt. Nein, keinerlei Erbarmen. Mitgefühl ist ausrangiert, hat seinen Sinn verloren.“
Der Autorin zufolge sind Staaten Migranten und Migration mit jeweils einer von zwei Haltungen begegnet: mit geschlossenen Grenzen oder mit offenen Grenzen. Die erste unterstützt die staatliche Souveränität, die zweite die Freizügigkeit. Hier, schreibt sie, geraten zwei liberale Gedanken in Konflikt miteinander – einen Konflikt, der heute in Europa und in einem großen Teil der Englisch sprechenden Welt präsent ist. Di Cesare spricht sich für keine der beiden Haltungen aus, sondern präsentiert stattdessen den Migranten als ansässigen Fremden, dem der Bürger einen gleichberechtigten Status zuerkennen sollte, weil Bürger selbst einmal Migranten waren: „In der Stadt der Fremden deckt sich Bürgerschaft mit Gastfreundschaft.“
Drei Modelle
Der Gründungsmythos Athens bestimmte das Selbstbild der Stadt als rein und originär. Die Erde als Mutter (Gaea oder Gaia) brachte die ersten Menschen hervor. Darauf bezog sich Platon, als er schrieb, die Menschen seien ein „erdgeborenes Geschlecht“, nicht aus der Paarung von Eltern hervorgegangen. Im erweiterten Sinn war der Gründer einer Stadt aus dem Boden und im Boden der Stadt geboren. Darum war Athen „autochthon“ (auto, „selbst“; chthon, „Erde“), seine Gründer originär und rein, unvermischt mit Leuten aus anderen Städten und Orten.
Ausschließlich gebürtige Athener konnten Besitzanspruch auf das Stadtgebiet erheben. Fremde und Ausländer – Menschen anderer Herkunft – konnten niemals den gleichen Wert haben wie gebürtige Athener: „Athen war das Vaterland des Selbst – das leuchtende und unerreichbare Beispiel reiner Autochthonie.“ Dies führte wiederum zu der Vorstellung von der Reinheit athenischer Geburt und der Blutlinie und der Verneinung von Gleichheit. Selbst andere Griechen waren geringer angesehen als Athener. Mit diesen Prinzipien als Basis der Demokratie Athens fanden Vorstellungen von rassischer Reinheit und somit der Bedeutung von Blut und Boden Eingang in die politische Geschichte.
Diese Betonung des indigenen Einwohners stand im Gegensatz zu Roms inklusiver Ausweitung des Bürgerrechts auf freie Männer im gesamten Imperium. Der Legende zufolge suchte der Ausländer Aeneas aus Troja Zuflucht in Latium und gründete die Stadt Lavinium. Sein Sohn baute später Alba Longa, wo Romulus und Remus, die Gründer Roms, geboren wurden. Roms Stammbaum war somit eine Erblinie von Ausländern und ihren mitgebrachten Hausgöttern.
Es war eine offene Stadt, wo der Einzelne die Gemeinschaft bestimmte, im Gegenastz zu Athens Modell, wo die Gemeinschaft den Vorrang vor dem Einzelnen hatte. Alle Römer hatten zwei Identitäten, definiert nach origo – der Herkunft der Familie aus einer Kolonie oder Gemeinde, die eine kollektive Bürgerschaft begründete – und dem Bürgerrecht des Einzelnen im Reich. Römer hatten also eine doppelte Staatsbürgerschaft. Innerhalb des Reiches waren auch freie griechische und jüdische Männer Römer. Und während Athen mit seiner direkten Demokratie und einer Wählerbasis von 30 000 männlichen Bürgern nach einigen Jahrzehnten zerfiel, konnte Rom sich über Jahrhunderte als Weltreich halten, in dem besiegte Ausländer zu Bürgern mit gleichen Bürgerrechten wurden.
„Streng genommen ist niemand römischer Bürger im reinen Sinn. Alle römischen Bürger kommen von woanders und haben eine externe origo.“
In dem dritten Modell, das man in Jerusalem vorfand, war es nicht ganz so einfach; die Aufnahme eines Fremden als Gleichberechtigter war nuanciert. Di Cesare erkundet die biblischen Modelle Ansässigkeit (für Fremde) und Bürgerschaft (für gebürtige Einheimische). Beide Modell waren keine Gegensätze, sondern eng miteinander verbunden. Di Cesares Exkurs über die biblische Auffassung von „Raum“ in seiner Beziehung zu Schöpfung, Stadt, Religion und menschlichen Beziehungen (Offenheit und Gemeinschaft im Gegensatz zu Abgrenzung und Beschränkungen) untermauert ihre neue Perspektive.
Die Autorin erinnert an eine entscheidende Dimension, die in Athen und Rom fehlte: Bürgerschaft war im biblischen Israel zweigeteilt, dies kommt in den hebräischen Begriffen ger für den ansässigen Fremden, der innerhalb der Stadtmauern lebte, und esrach für den Bürger zum Audruck. Der Israelit – befreit aus der Sklaverei in Ägypten, wo er ein Fremder war – muss den Fremden in seinem eigenen Volk mit großem Respekt behandeln. „Wenn ein Fremdling [ger] bei euch wohnt in eurem Lande, den sollt ihr nicht bedrücken. Er soll bei euch wohnen wie ein Einheimischer [esrach, „einheimisch,“ „gebürtig“] unter euch, und du sollst ihn lieben wie dich selbst; denn ihr seid auch Fremdlinge [gerim] gewesen in Ägyptenland. Ich bin der HERR, euer Gott.“ (3 Mose 19, 33–34). Dies ist die Basis für Di Cesares Behauptung: „Gemäß der politischen Verfassung der Thora sind alle Bürger Fremde, und alle Einwohner sind Gäste/Gastgeber.“ Blutlinie konnte also eine nicht gleichberechtigte Behandlung des Fremden als Einwohner deshalb nicht rechtfertigen.
Weiter gebot Gott den Israeliten Folgendes über dauerhaften Landbesitz: „Darum sollt ihr das Land nicht verkaufen für immer; denn das Land ist mein, und ihr seid Fremdlinge [gerim] und Beisassen [toschawim, „Gäste“, „Einwohner auf Zeit“] bei mir. Und bei all eurem Grundbesitz sollt ihr für das Land die Einlösung gewähren“ (3 Mose 25, 23–24). Die zweite Säule athenischer Identität – permanente Bindung an den Boden – konnte im hebräischen Denken keinen Platz haben und auch nicht Grundlage für die Diskriminierung von Fremden sein. Die Israeliten waren selbst immer nur Landbesitzer auf Zeit und immer Gäste auf Gottes Eigentum.
„Die Verfassung der Thora ist durchzogen, nahezu beherrscht, von einer regelrechten Charta des ,ansässigen Fremden‘, des Zugewanderten, der bei dem Volk Israel wohnt.“
Mitmenschlichkeit und Mitgefühl
Di Cesares Suche nach einer neuen Philosophie der Migration könnte durch zwei weitere Quellen unterstützt werden: Jesus und den Apostel Paulus. Sie hält es für keinen Zufall, dass „die Theoretiker des Liberalismus dem Gleichnis vom barmherzigen Samariter ausführliche Kommentare gewidmet haben, in der Absicht, seinen Inhalt abzuwerten, der als unmöglich beurteilt wird.“
Dies war genau die Art Widerstand, mit der es Jesus zu tun hatte, als er dieses Gleichnis erzählte. Es forderte den ichbezogenen Fragesteller auf, der Mitmenschlichkeit und dem Mitgefühl nachzueifern, die der Fremde unter ihnen dem verwundeten, am Wegrand sich selbst überlassenen Mann erwiesen hatte – nicht der Scheinheiligkeit der exklusivistischen Religionsanhänger. Jesus zeigte auf, dass jeder, der in Not ist, unser Nächster ist. Ein großer Teil seiner Lehre, die in und um das romanisierte Jerusalem und Palästina des ersten Jahrhunderts vermittelt wurde, konzentrierte sich auf die Notwendigkeit von Barmherzigkeit, Fürsorge und Respekt gegenüber den Unterprivilegierten und Benachteiligten.
Paulus genoss dank seiner hellenistischen, römisch-jüdischen Herkunft das Bürgerrecht im Reich. Auf seinen vielen Reisen brachte er die Lehre Jesu über Jerusalem hinaus nach Athen und Rom. Unter seinen Zuhörern waren Juden, Griechen und Römer, die er alle gleichermaßen mit Achtung und Offenheit behandelte. Wie Di Cesare anmerkt, sprechen seine Worte an Gläubige in der großen romanisierten Stadt Ephesus Bände über seine grenzenlose Mitmenschlichkeit: „So seid ihr nun nicht mehr Gäste und Fremdlinge, sondern Mitbürger der Heiligen und Gottes Hausgenossen“ (Epheser 2, 19).
Kann das Modell Jerusalem bei der Suche nach Gleichbehandlung von Migranten im 21. Jahrhundert die Modelle Athen und Rom ablösen? Die Antwort dürfte davon abhängen, ob man eine andere biblische Maxime akzeptiert: „Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst.“