China – friedlicher Löwe oder erweckter Drache?
Wie man China einschätzt, hängt weitgehend davon ab, aus welcher Perspektive man es betrachtet. Wie sollte man das aufstrebende Land in einer globalisierten Welt sehen?
Napoleon soll China einmal mit einem schlafenden Löwen verglichen und gesagt haben: „Wenn China erwacht, wird die ganze Welt erzittern.“ Dieses Zitat könnte zwar apokryph sein, doch spielte der chinesische Präsident Xi Jinping 2014 darauf an, als er sagte: „Heute ist der Löwe aufgewacht. Aber er ist friedlich, freundlich und zivilisiert.“
Dass China hellwach ist, dürfte nur wenigen entgangen sein. Allerdings fragen sich viele in aller Welt, wie friedlich und freundlich es tatsächlich ist und wie lange das wohl so bleibt.
Wie sehen wir Chinas Vormarsch und seine mögliche Bedeutung für das chinesische Volk, für seine Nachbarn und für die Welt?
Welches China?
Wie wir Chinas Erwachen wahrnehmen, kann auf einer bestimmten Ebene davon abhängen, woher wir kommen – geografisch und/oder ideologisch.
Aus der Sicht der Bürger westlicher Demokratien mit neoliberaler oder sozialer Marktwirtschaft kann Chinas Erwachen alarmierend sein. Sie könnten fürchten, dass sich die Normen, die nach dem Zweiten Weltkrieg etabliert wurden, wieder ändern – dass das weltweit vorherrschende Wirtschaftssystem am besten in demokratischen Gesellschaften gedeiht und dass Veränderungen daraufhin konzipiert werden, den Architekten des Wandels am meisten zu nützen. Oder sie könnten fürchten, dass die maßgeblichen Werte einer demokratischen Gesellschaft ausgelöscht würden, wenn ein autoritärer Staat die Gesellschaftsordnung der ganzen Erde beherrschte.
Menschen in aufstrebenden Ländern wie den afrikanischen haben vielleicht von den bedeutenden chinesischen Investitionen profitiert. Deshalb kann die Medaille für sie zwei Seiten haben: Die Hilfe beim Ausbau der Infrastruktur sowie der neue Absatzmarkt für ihre Rohstoffe sind willkommen, doch vielleicht fürchten sie auch, was Kritiker „Schuldenfalle-Diplomatie“ nennen: China vergibt bereitwillig Kredite, aber wenn Länder sie nicht zurückzahlen können, kommen sie unter Chinas Kontrolle.
Anders ist es dagegen in Hongkong oder Tibet: Dort wird China eher als aktiver Unterdrücker gesehen. Taiwan, Indien, Australien und Japan gehen vielleicht – bildlich gesprochen – auf Zehenspitzen um das erwachte China herum und wägen ab, wie sie dieser Macht begegnen können, die sie als ständige und unmittelbare Bedrohung sehen.
Innerhalb der Volksrepublik (VR) China, bei ihren engsten Verbündeten und bei anderen, die aus der Ferne ihre kommunistische Ideologie teilen, dürfte die Sicht allerdings recht positiv sein – verständlicherweise.
Doch selbst in China gibt es nicht nur Befürworter. Der Staat geht davon aus, dass alle, die in China leben, ideologisch vollkommen auf der Linie der Kommunistischen Partei Chinas (KPC) sind. Zwar zeigen Umfragen ein hohes Maß an Zufriedenheit, doch Umfragen in autoritären Ländern wird oft ein gewisses Misstrauen entgegengebracht. Eine eindeutig konträre Sichtweise herrscht zum Beispiel bei den 1,5 Millionen Uiguren vor, einer türkischsprachigen muslimischen Minderheit in der westlichen Provinz Xinjiang, die Berichten zufolge aktiver Unterdrückung durch chinesische Behörden ausgesetzt ist.
„Obgleich die Partei sagt: ,Wir sprechen für alle‘, gibt es mehr Meinungsvielfalt, als die Leute denken. […] Menschen haben unterschiedliche Überzeugungen; Menschen haben unterschiedliche Hoffnungen. Und das trifft in China ebenso zu wie überall sonst.“
Was alle Sichtweisen von Chinas Erwachen gemein haben, ist, dass dahinter jeweils die Auffassung eines Beobachters steht, was ihm zufolge wirtschaftlich und ideologisch am günstigsten und das Beste für die Welt sei.
Natürlich gehen Außenpolitik und Eigeninteresse überall auf der Erde oft Hand in Hand. Habgier, Korruption, selektive Transparenz und Menschenrechtsverletzungen sind überall möglich und auch real. Es ist Chinas Geschichte als autoritärer Staat, den Vertreter demokratischer Werte als die eigentliche Gefahr bezeichnen würden. Die Vorwürfe reichen von Diskriminierung über Zwangsumsiedlung, Inhaftierung und Zwangssterilisation bis zu Folter, Sklaverei und sogar Völkermord.
Es ist schwierig, den Wahrheitsgehalt dieser Behauptungen festzustellen, aber klar ist, dass das China, das wir sehen, darüber entscheidet, wie wir die Implikationen seines Erwachens deuten.
Erwachen nach der Pandemie
Lange glaubte man im Westen, nach Mao Tse-Tung werde der chinesische Kommunismus in sich zusammenfallen wie die sowjetische Variante im Jahr 1991. Doch er hat viele Katastrophen überdauert. 2011 schrieben Sebastian Heilmann und Elizabeth J. Perry in Mao’s Invisible Hand: „Anders als erwartet hat sich das Regime der VR China als überraschend fähig erwiesen, schwere, unerwartete Krisen zu überleben, von der asiatischen Finanzkrise von 1997-1999 über die SARS-Epidemie von 2003 bis zu der Weltwirtschaftskrise von 2008-2009. Für so manches andere, weniger widerstandsfähige Regime wären diese Herausforderungen das Todesurteil gewesen.“
Heute könnte man natürlich hinzufügen, wie die Bewältigung von SARS half, die VR China auf den Umgang mit der ersten Coronawelle vorzubereiten. Als Beauftragte der Weltgesundheitsorganisation (World Health Organization, WHO) begannen, den Ursprung der weltweiten Pandemie in der Provinz Wuhan zu untersuchen, hatte China bereits ein weltweit führendes Wirtschaftswachstum von 2,3 % für das Jahr 2020 bekanntgegeben.
Manche Kommentatoren bleiben angesichts Chinas Schuldenlast und Überkapazitäten, eines möglicherweise nicht nachhaltigen BIP-Wachstums und mikroökonomischer Herausforderungen vorsichtig, während andere seinen wirtschaftlichen Erfolg als Beschleunigung einer unvermeidlichen Verlagerung nach Osten verkündigen. Bei den Direktinvestitionen aus dem Ausland hat China 2020 erstmals die USA überholt. Analysten erwarten seit Langem, dass Chinas BIP irgendwann das der USA überholen wird. Dass die VR China Corona jedoch am Anfang überwand, kann nun bedeuten, dass dies um Jahre früher als erwartet eintritt, vielleicht noch in diesem Jahrzehnt. Außerdem hat China 2020 erfolgreich ein neues Handelsabkommen mit der Europäischen Union geschlossen, das der EU Zugang zu seinen 1,4 Milliarden Verbrauchern ermöglicht.
„China ist dank 38 Jahren der Reform und Öffnung zur zweitgrößten Volkswirtschaft der Welt geworden. Der richtige Pfad führt zu einer strahlenden Zukunft. China hat es so weit geschafft, weil das chinesische Volk unter der Leitung der Kommunistischen Partei Chinas einen Entwicklungspfad eingeschlagen hat, der Chinas tatsächlichen Bedingungen entspricht.“
Unter Xi ist es China gelungen, die Pandemie unter Kontrolle zu bringen. Die Trump-Regierung ist Geschichte. In den USA und in aller Welt ist die Demokratie in den letzten Jahren in ihren Grundfesten erschüttert worden. Dies kann durchaus das Selbstvertrauen der chinesischen Führung beflügelt haben, China auf der Weltbühne als alternative Führungsmacht zu propagieren. Beim digitalen Davoser Weltwirtschaftsforum im Januar 2021 warnte Xi die Mächtigen der Welt davor, „einen neuen Kalten Krieg“ in Gang zu setzen, außerdem vor „Bedrohungen und Einschüchterungen gegen andere“. Nachdem er bereits 2017 in seiner Rede in Davos für Globalisierung plädiert hatte, forderte er nun, die G-20 „sollten eine offene Weltwirtschaft aufbauen, diskriminierende und ausschließende Standards, Regeln und Systeme verwerfen“, Barrieren für Handel, Investitionen und Technologietransfer abbauen und sich „für eine enge makroökonomische Koordinierung der Politik einsetzen“.
Die Worte des chinesischen Präsidenten wurden als Reaktion auf die Handelskriege und die „America First“-Außenpolitik unter Trump verstanden. China bot an, Führer der weltweiten Erholung zu sein und multilateral mit Institutionen wie der WHO, den G-20 und der EU zusammenzuarbeiten – eine Zurückweisung des Unilateralismus, den die USA in den letzten Jahren verfolgt haben. Wahrscheinlich waren seine Kommentare auch eine Antwort auf die Behauptungen über Huawei und die Bemühungen von Präsident Biden, den USA und ihren Verbündeten um eine Wiederherstellung globaler Bündnisse mit dem Ziel, Chinas Einfluss entgegenzuwirken und demokratische Ideale in aller Welt zu unterstützen.
Diesem erneuten Vorstoß stehen Chinas Handlungsweise und Intransparenz im Zusammenhang mit Corona gegenüber. Die VR China hat sich Zeit gelassen, die Sequenz des neuen Coronavirus mit der übrigen Welt zu teilen. Am Anfang hielt sie im Interesse ihrer Stabilität die Beweise für die Übertragung des Virus von Mensch zu Mensch geheim – sowohl vor der eigenen Bevölkerung als auch vor der Welt. Der Augenarzt Li Wenliang, der versucht hatte, Alarm zu schlagen, wurde von der Polizei zum Schweigen gebracht und soll dann an Corona gestorben sein. Und obgleich das Regime die Bewegungsfreiheit bald stark einschränkte, durften die Chinesen vor dem chinesischen Neujahr noch reisen, trotz der klaren Gefahr für die eigene Bevölkerung und die Welt.
Das weltweite Chaos infolge der Pandemie war auch der Moment, in dem China drakonische Gesetze verabschiedete, um Tibet und Hongkong noch stärker unter Kontrolle zu bringen und gleichzeitig gegenüber Taiwan und Indien aggressiver die Muskeln spielen zu lassen. Manche Beobachter meinen sogar, die Militärs in Myanmar – das in den USA weitgehend als östliche Grenze der Demokratie gegolten hatte – seien durch Unterstützung aus Peking zu ihrem Putsch ermutigt worden.
Chinas Wachtraum
Die unter Nixon sorgfältig choreografierte Einladung an China, „aus der Kälte zu kommen“, war 1972 ein klarer Wendepunkt. Das Erwachen des Landes hat viel zu tun mit der zunehmend progressiven und nach außen orientierten Politik, mit der Deng Xiaoping gegen Ende der 1970er-Jahre begann. Die Hoffnung des Westens war immer, dass China seine autoritären Methoden mit mehr Inklusion mildern und sich dem Rest der Welt öffnen würde.
Heute, unter Xis Führung, ist China dabei, den „Chinesischen Traum“ zu verwirklichen: seine Erneuerung als große Weltmacht. Frühere Staatsoberhäupter hatten diesen Traum ebenfalls, aber Xi hat ihnen vorgeworfen, dass sie ihn nicht verwirklicht hätten. Als er 2012 gewählt wurde, sagte er, die Parteiführung und er hätten von der Geschichte die Aufgabe übernommen, „die große Erneuerung [oder Wiedergeburt] der chinesischen Nation“ zu verwirklichen. Doch anders als bei seinen Vorgängern, schreibt Elizabeth Economy, sei Xis Herangehensweise eine „Reform ohne Öffnung“.
Der Buchautor und Journalist Howard French zeigt auf, dass China fast immer Einfluss auf der Weltbühne hatte: „Spätesten seit der Tang-Dynastie (618-907) bis kurz vor dem chaotischen Ende dynastischer Herrschaft in China im Jahr 1912 fanden die seefahrenden Völker dieser Region oft Wege, sich mehr oder weniger an China zu binden.“ Dies konstituierte „eine äußerst lose und distanzierte Art indirekter Herrschaft Chinas über einen sehr erheblichen Teil der Menschheit“.
Im „Jahrhundert der Demütigung“ erlitt Chinas Bedeutung jedoch einen schweren Schlag. Es war eine Zeit zahlloser nationaler Katastrophen – vom Ersten Opiumkrieg und den Ungleichen Verträgen der Briten, gefolgt von der Niederlage gegen Großbritannien und Frankreich im Zweiten Opiumkrieg (1856–1860) bis zu den Siegen der Japaner in den beiden Japanisch-Chinesischen Kriegen (1894–1895 und 1937–1945).
„Die Bezeichnung ,historischer Nihilismus‘ […] wird für jede Darstellung der Vergangenheit verwendet, die das Prestige der KPC mindert, ihre orthodoxen Narrative hinterfragt oder ihre politischen Positionen untergräbt.“
Elizabeth Economy, Senior Fellow for China Studies bei der privaten US-Denkfabrik Council on Foreign Relations, merkt an, dass Xi diese Vision näher erläutert hat: „Voraussetzung für den Chinesischen Traum war für Xi, dass eine Reihe konkreter Ziele erreicht würde: China sollte sein Pro-Kopf-BIP von 2010 bis 2020 verdoppeln; es sollte ein Militär haben, das ,fähig ist, Kriege zu führen und zu gewinnen‘, und es sollte die sozialen Leistungen erbringen, die die Menschen brauchten.“ Im Gegensatz zu dem „eher individualistischen American Dream“, schreibt sie, präsentiere Xi die chinesische Version als einen „Traum des ganzen Volkes ebenso wie jedes Einzelnen“.
Jene Worte sprach Xi in einer Rede vor dem Nationalen Volkskongress im März 2018. In ihrem Bericht darüber fasste die offizielle KPC-Zeitung The People’s Daily die sonnigen Zusicherungen des Präsidenten an die Welt so zusammen: „Der Chinesische Traum [wird] global.“ Das Blatt vermeldete: „Chinas Wachstum ist nicht bedrohlich für irgendwelche Länder, denn wir werden niemals Hegemonie oder Expansion anstreben, betonte Xi. China will vielmehr die chinesische Weisheit zu der globalen Führung beitragen und der Welt seine Entschlossenheit zeigen, für eine gleichberechtigte, offene und friedliche Welt zu arbeiten.“ Wie gesagt, einige Nachbarn Chinas sehen das durchaus anders.
Als Wirtschaftsmacht steht China weltweit an zweiter Stelle. Laut Economy rief Xi sein Volk im Jahr 2014 auf: „Seid bereit, nicht nur zu helfen, die Spielregeln zu schreiben, sondern auch, das Spielfeld zu bauen, auf dem das Spiel ausgetragen wird.“ Dies sahen mehrere Analysten als Bruch mit der Vergangenheit und schlossen, Xi wolle tatsächlich das Spielfeld der Weltwirtschaft umbauen.
Ein Beispiel für diesen Aspekt des Chinesischen Traums ist die Belt and Road Initiative (BRI, in Deutschland als „Neue Seidenstraßen-Initiative“ bekannt) ein groß angelegtes außenpolitisches Unterfangen, das Xi 2013 initiiert hat. Es beinhaltet nichts Geringeres als die Wiederbelebung der alten Seidenstraße, von China aus nach Westen über Eurasien bis nach Italien und Portugal. Der portugiesische Politiker und Politologe Bruno Maçães schreibt: „Der eurasische Handel mit Gütern beläuft sich nun jedes Jahr auf nahezu 2 Billionen Dollar, konsistent über das Doppelte des transatlantischen Handelsvolumens und erheblich mehr als das transpazifsche Handelsvolumen.“ Dies sieht danach aus, dass Xi dabei ist, sein Spielfeld zu bauen, und Maçães merkt an: „Wer imstande ist, die Infrastruktur zu bauen und zu kontrollieren, die die beiden Enden Eurasiens miteinander verbindet, wird die Welt beherrschen.“
Es gibt Befürchtungen, die BRI könnte über Nacht einer vordringenden Armee einen Einfall nach Westen ermöglichen. Ob solche Befürchtungen realistisch sind oder nicht – der Ethikprofessor Clive Hamilton und die Sinologin Mareike Ohlberg schreiben jedenfalls: „Die Initiative ist Pekings primärer Mechanismus für eine Neuordnung des globalen geopolitischen Systems.“
„Xi Jinping hat die BRI wiederholt als wesentlich für seine Vision vom Bau einer ,Schicksalsgemeinschaft für die Menschheit‘ bezeichnet. Der Gedanke mag für westliche Ohren gut klingen, aber sein Ziel ist eine sinozentrische Welt.“
Was das Militär betrifft, so unterhält China die größte Streitmacht der Welt und hat sein Verteidigungsbudget in den letzten zehn Jahren jedes Jahr um zwischen 6,6 % und 12,5 % erhöht. Das Säbelrasseln im Südchinesischen Meer – einer der weltweit meistbefahrenen und lukrativsten Seeschifffahrtsstraßen – ist unter Xi eskaliert und zu einem wahrscheinlichen Konfliktherd geworden. Im Jahr 2015 hat China begonnen, auf die umstrittenen Riffe der Spratly-Inseln Sand zu pumpen und buchstäblich neue Inseln zu erschaffen, um seinem Anspruch dort weiteren Nachdruck zu verleihen. 2016 urteilte der Internationale Gerichtshof in den Haag, bei dem die Philippinen Klage erhoben hatten, dass China keinen historischen Anspruch auf das Südchinesische Meer habe. Viele Länder begrüßten das Urteil, doch China machte klar, dass es die Autorität des Gerichtshofes nicht anerkenne und sich seinem Urteil nicht beugen werde. Unterdessen fährt es fort, seine Kriegsflotte auszubauen. Sie ist derzeit nach der Flotte der USA die zweitgrößte der Welt, aber der Abstand wird kleiner.
Unvermeidlicher Krieg?
Der Harvard-Professor Graham Allison fragt in Destined for War, ob das aufsteigende China einen bewaffneten Konflikt mit den USA überhaupt vermeiden könne. Sein Modell ist die Thukydides-Falle. Thukydides war ein athenischer Geschichtsschreiber und Stratege, der meinte: „Es waren der Aufstieg Athens und die Furcht, die er in Sparta auslöste, was den Krieg unvermeidlich machte.“ Diesen Gedanken überträgt Allison auf die aktuelle Situation mit China, das den USA die Dominanz auf der Weltbühne streitig macht: „Wenn eine Großmacht droht, eine andere zu verdrängen, ist fast immer Krieg das Ergebnis.“
Wenn es je zu einem bewaffneten Konflikt zwischen einem vollständig entwickelten und erstarkten China und der schwächer werdenden USA käme, ist die Möglichkeit eines Krieges, der die ganze Erde gefährden würde, nicht auszuschließen.
Allison meint allerdings, die Falle könne erfolgreich umgangen werden. Heute werde China, das seine Pläne mit Druck weiterverfolgt, nicht mehr Barack Obama oder Donald Trump begegnen, sondern Joe Biden. Sowohl Xi als auch Biden haben ein starkes Gefühl von der Größe ihrer jeweiligen Nation. Beide glauben fest an ihre entgegengesetzten Ideologien. Der US-Präsident sagte in seiner ersten großen Rede zur Außenpolitik im Februar 2021: „Die amerikanische Führung muss dieser neuen Herausforderung eines fortschreitenden Autoritarismus gerecht werden, darunter auch die zunehmenden Bestrebungen Chinas, mit den Vereinigten Staaten zu konkurrieren.“ Und er nannte einen der Gründe für die USA, in Diplomatie zu investieren: „Wir tun es, weil es in unserem ganz eigenen Interesse liegt.“
Ob Napoleon tatsächlich gesagt hat, die ganze Welt werde erzittern, wenn der chinesische Löwe erwache, oder nicht – China ist erwacht und rüttelt am globalen Status quo. Der Grund kann durchaus in den unterschiedlichen politischen Ideologien liegen – Autoritarismus gegen Demokratie – und einem Kampf um die Vorherrschaft, sei sie politisch, militärisch, wirtschaftlich oder sozial.
Im Hintergrund dieser primären Sorgen spielen jedoch andere, fundamentale und tief verwurzelte Unterschiede eine Rolle. Chinas fünftausendjährige Geschichte gibt ihm zum Beispiel eine Perspektive, die sich die fast 250 Jahre alten USA nicht vorstellen können. Chinas Geschichte ist zyklisch. Heute mögen Präsidenten und ihre Regierungen kommen und gehen, aber China hat über Jahrtausende den Aufstieg und Fall aufeinanderfolgender, langlebiger Dynastien erlebt. Deshalb ist das Volk daran gewöhnt, nationale Höhen und Tiefen durchzustehen. Dagegen haben die USA in ihrer kurzen Geschichte vor allem Wachstum und zunehmende Macht erlebt, und deshalb kann ihr Volk nur in dieser Richtung denken und mehr davon erwarten. Auch der Vorrang der Rechte des Einzelnen in den USA ist unvereinbar mit Chinas Betonung nationaler Interessen.
Wie bereits angemerkt, sind die unterschiedlichen Sichtweisen auf China von einem gewissen Maß an Eigeninteresse bestimmt. Solange die verschiedenen Parteien ihre grundlegendsten Unterschiede nicht berücksichtigen – einander nicht berücksichtigen –, werden sowohl Vertrauen als auch Fortschritt praktisch unmöglich sein. Ein Versäumnis, zu verinnerlichen, wie groß die Unterschiede zwischen den jeweiligen Philosophien, Ideologien und Kulturen sind, wird einen sinnvollen Dialog zwischen den Mächtigen mit Sicherheit verhindern.
Vielen Kulturen gemeinsam ist allerdings die Goldene Regel in der einen oder anderen Version. Im überwiegend jüdisch-christlichen Abendland stammt sie von dem biblischen Prinzip ab, für Mitmenschen im gleichen Maß zu sorgen wie für sich selbst (Lukas 6, 31). Man könnte es als Selbstlosigkeit im Gegensatz zu Selbstsucht definieren. Wenn jeder Bürger der Welt das Prinzip der Selbstlosigkeit verinnerlichen und auch praktizieren könnte, welche unmittelbaren Vorteile hätte dies zur Folge – für einzelne Menschen, für Völker und dadurch für die Welt als Ganzes? Das Problem ist, dass das Prinzip selbst sehr einfach ist, es zu praktizieren allerdings nicht. Gegen Fürsorge für Leute, die nicht zu uns gehören, setzt sich in dieser Welt meistens das Eigeninteresse durch.
Statt Konflikte darüber auszulösen, was wir für das Beste für uns und unsere Leute halten (ohne Rücksicht auf euch und eure Leute), wäre es viel vorteilhafter, anzuerkennen, dass universelle Selbstlosigkeit der einzige Weg zu weltweitem Frieden ist. Selbstlosigkeit, die zu Frieden führt, hat sich für die Menschheit als Ganzes als unerreichbar erwiesen. Wir als Einzelne werden das nicht ändern. Was jeder von uns allerdings tun kann, ist, dieses Prinzip in unserem persönlichen Umgang mit anderen anzuwenden. Und das beginnt mit dem Bemühen, einander besser zu verstehen.