Darwins Gemmulae
Es bedarf keiner hoch kultivierten Beobachtungsgabe, um festzustellen: „Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm“ – jede Generation bringt Nachkommen hervor, die ihr ähnlich sind. Dies entspricht der biblischen Anweisung, sich „ein jeder nach seiner Art“ zu vermehren (1. Mose 1, 11-25). Dass dies so ist, regt jedoch die menschliche Wissbegierde an, zu verstehen, wie es zu dieser Kontinuität kommt. In der philosophischen Aufbruchsstimmung des 19. Jahrhunderts fragte man weiter, wie eigentlich neue Lebensformen entstehen können (oder, wie man damals sagte, „transmutieren“ oder evolvieren) – es müsse einen Mechanismus geben, der neben Kontinuität auch Veränderung und Anpassung ermöglicht.
Besonderes Interesse an dieser Frage hatte Charles Darwin. Der Kern seiner Theorie der natürlichen Selektion ist das Überleben von Varianten – die Vorstellung, dass die Natur aus einer Vielzahl kleiner Variationen zwischen Individuen auswählt. Doch woher kommen Variationen und wie können sie an Nachkommen vererbt werden? Die damals vorherrschende Theorie war Jean-Baptiste de Lamarcks Lehre der Anpassung durch Vererbung von Merkmalen, die ein Organismus entweder durch Gebrauch oder durch Nichtgebrauch von Anlagen erwirbt, um seine Überlebenschancen zu verbessern.
Auch Darwin hielt dies für richtig; das Problem war jedoch der Mechanismus. „Wie kann der Gebrauch oder Nichtgebrauch eines bestimmten Gliedes oder des Gehirns ein kleines Aggregat reproduktiver Zellen, die in einem entfernten Teil des Körpers ihren Sitz haben, so beeinflussen, dass das Wesen, das sich aus diesen Zellen entwickelt, die Merkmale eines oder beider Elternteile erbt?“, fragte Darwin. „Selbst eine unvollkommene Antwort wäre zufriedenstellend.“
Aber Lamarcks Antwort war einfach zu unvollkommen. Er nahm als treibende Kraft eine vage und leicht spiritistische „Notwendigkeit“ an, die das Leben dazu dränge, nach Vervollkommnung und Anpassung zu streben, sodass es immer komplexer werde. Was die Darwinisten daran störte, war der Grundgedanke, dass dieser Prozess zielgerichtet sei.
Nach fast 30 Jahren des Nachdenkens und Beobachtens und neun Jahre nach Erscheinen der ersten Auflage von Die Entstehung der Arten veröffentlichte Darwin 1868 seine Erklärung in Die Variation von Tieren und Pflanzen unter Domestikation. Er nannte es „Pangenesis“: Die Idee, dass alles (pan) im Körper von seiner Umwelt beeinflusst wird und dass diese Erfahrung gebündelt an die nächste Generation weitergegeben werden kann (genesis).
Wie Lamarck glaubte Darwin, dass der Gebrauch oder Nichtgebrauch von Merkmalen – die Art, wie Lebensformen mit ihrer Welt interagieren – in einer Generation registriert und gespeichert wird und kleinste Variationen bewirkt, die in der nächsten Generation auftreten. Er meinte dabei wohl nicht, dass Giraffen fänden, sie bräuchten einen langen Hals, um zu überleben, doch glaubte er, dass etwas die Entwicklung längerer Hälse anregt, dass sie nicht bloßer Zufall sei.
Zu Darwins Zeiten waren Chromosomen und die mendelsche Vererbungslehre noch nicht bekannt. Die Zellentheorie war hingegen auf dem Vormarsch und Darwin übernahm diese. Darin war er genial, ungeachtet aller Kritik: Erklärungsmodelle der großen Enzyklopädie der Naturgeschichte, die in seiner Zeit zusammengetragen wurde, zu einem einzigen zusammenzufassen.
Er schrieb: „Ich nehme an, dass Zellen, bevor sie zu vollständig passivem oder ,ausgebildetem Material‘ werden, winzige Körnchen oder Atome von sich abstoßen, die frei durch das gesamte System zirkulieren […] Diese Körnchen können zum Zweck der Unterscheidung als Zellen-Gemmulae (= Zellenkeimchen) bezeichnet werden.“ In einer Neubearbeitung des Werkes von 1875 fügte er hinzu: „Dass die Einheiten des Körpers autonom sind, wird von den Physiologen generell eingeräumt. Ich gehe einen Schritt weiter und nehme an, dass sie reproduktive Gemmulae abstoßen. So erzeugt ein Organismus nicht als Ganzes seinesgleichen, sondern jede einzelne Einheit erzeugt ihresgleichen […] Wenn eine Zelle oder Einheit aus irgendeiner Ursache abgewandelt ist, werden die von ihr stammenden Gemmulae in der gleichen Weise abgewandelt sein.“ So spekulierte er, dass „es nicht die Fortpflanzungsorgane oder Knospen sind, die neue Organismen erzeugen, sondern die Einheiten, aus denen jedes Individuum zusammengesetzt ist. Diese Annahmen stellen die provisorische Hypothese dar, die ich Pangenesis genannt habe.“
Die Pangenesis-Theorie war zwar in ihren Einzelheiten letztlich irrig, doch der Entwurf enthält schon vieles von dem, was wir heute Genetik und Epigenetik nennen. Die sogenannte Synthetische Theorie (Überleben des am besten Angepassten plus Wissen über DNA, Chromosomen und Mutation) ist die heute gängigste Erklärung für Variation und evolutionäre Anpassung. Kombiniert mit der neu erblühten Wissenschaft von der epigenetischen Vererbung könnten Darwins Gemmulae doch noch zu Ehren kommen.
Darwin wusste, dass es letztendlich immer mehr Fragen als Antworten geben wird; deshalb wäre er nicht überrascht darüber, dass selbst die Synthetische Theorie aktualisierungsbedürftig ist. Er postulierte natürlich, dass die Vielfalt des Lebens auf der Erde, einschließlich der Menschheit, das Ergebnis einer ungeplanten Kette zufälliger Ereignisse sei. Man fragt sich allerdings, wie lange selbst er für die Komplexitäten des Prozesses Leben, die seither entdeckt wurden und ständig weiterentdeckt werden, eine ausschließlich materielle Erklärung aufrechterhalten würde. Es könnte durchaus sein, dass die Naturwissenschaft allein nie in der Lage sein wird, die erstaunlichen interaktiven Systeme, die die Anpassungsfähigkeit des Lebens ermöglichen, in vollem Maß zu offenbaren.