Das leidvolle Vermächtnis des Kolonialismus
Solange wir uns den grausamen Aspekten unserer kolonialen Vergangenheit nicht stellen, wird eine gerechtere Welt unerreichbar bleiben.
Im Juni 2022 nahmen fast 17 Millionen Menschen aktiv Anteil an der Feier des Platin-Thronjubiläums von Queen Elizabeth II. – des 70. Jahrestags seit Beginn ihrer Zeit als britische Königin. Medienberichte zeigten Straßen voller Gratulanten, und weitere Millionen verfolgten die Festlichkeiten an ihren Bildschirmen zu Hause. Schließlich ging es um die Person, die länger als alle anderen auf dem britischen Thron war – eine Monarchin, die breites Ansehen wegen ihres engagierten Dienstes und ihres unermüdlichen Pflichtgefühls genoss.
Doch während die Festlichkeiten ihren Lauf nahmen, sahen nicht alle Menschen die Monarchie in positivem Licht. Tatsächlich nimmt seit einiger Zeit an vielen Orten der Welt ein gegenteiliges Gefühl zu.
Im März, drei Monate vor Beginn der offiziellen Jubiläumsfeiern, gingen Prinz William und seine Frau Catherine auf Rundreise durch Belize, Jamaika und die Bahamas, um eine Verbundenheit mit der Krone zu zementieren. In jedem der drei Länder sahen einige Einwohner die jungen Royals als das Gesicht einer Institution, die den Kolonialismus unterstützt und ermöglicht hatte – und somit als verbunden mit Landstreitigkeiten und angeblichen Gräueltaten von britischen Kolonisten.
Diese Bedenken wurden in einem offenen Brief der jamaikanischen Menschenrechtskoalition namens Advocates Network ausgedrückt: „Wir sind der Ansicht, dass eine Entschuldigung für britische Verbrechen gegen die Menschlichkeit – einschließlich, aber nicht beschränkt auf die Ausbeutung der Ureinwohner Jamaikas, den transatlantischen Handel mit Afrikanern, die Versklavung von Afrikanern, Vertragsknechtschaft und Kolonisierung – notwendig ist, um einen Prozess der Heilung, Vergebung, Versöhnung und Entschädigung zu beginnen.“
Es ist nicht zu bezweifeln, dass die verschiedenen Kolonialmächte und die afrikanischen Mächte, die an dem Sklavenhandel beteiligt waren, schweres Unrecht an den Menschen begingen, die sie so bereitwillig missbrauchten.
Menschen als Kapital
Zu verstehen, mit welcher Grausamkeit der transatlantische Sklavenhandel mit Afrikanern betrieben wurde, bedeutet hilfreiches Hintergrundwissen, und hier sagt ein Bild mehr als tausend Worte. Auf Diagrammen sieht man Hunderte von Gefangenen, dicht an dicht gepackt auf Sklavenschiffen. Kapitäne stellten sicher, dass jedes bisschen verfügbarer Raum auf den Unterdecks genutzt wurde – ihnen ging es darum, den Profit aus ihrem Menschenkapital zu maximieren.
In einem TED-Ed-Video mit dem Titel „The Atlantic Slave Trade: What Too Few Textbooks Told You“ erklärt der Historiker Professor Anthony Hazard von der Santa Clara University: „Die Sklaven selbst waren unvorstellbarer Brutalität ausgesetzt. Nachdem sie zu Sklavenforts an der Küste getrieben, zur Vorbeugung gegen Läuse rasiert und gebrandmarkt worden waren, lud man sie auf Schiffe, die nach Nord- und Südamerika fuhren. Rund 20 % von ihnen sollten nie wieder Land sehen. […] Da es keinerlei Hygiene gab, starben viele an Krankheiten, und andere wurden, weil sie krank waren oder als disziplinarische Maßnahme, über Bord geworfen. […] Die Überlebenden wurden vollkommen entmenschlicht und als bloße Fracht behandelt. Frauen und Kinder wurden über Deck gehalten und von der Besatzung missbraucht; die Männer mussten Tänze aufführen, damit sie körperlich in Form blieben und um sie im Zaum zu halten.“
Zwar war ihre menschliche Fracht versichert, doch die Kapitäne der Schiffe wussten, dass ihre Verluste nicht abgedeckt waren, wenn Gefangene an natürlichen Ursachen wie z. B Krankheiten starben, während sie an Bord waren. Dass Tod durch Ertrinken dagegen versichert war, motivierte sie, die Kranken über Bord zu werfen, wenn es danach aussah, dass deren Krankheit tödlich sein könnte.
An dem Sklavenhandel über den Atlantik beteiligte sich nicht nur Großbritannien, sondern auch Spanien, Portugal, Brasilien, die Niederlande, die USA, Frankreich, Dänemark und verschiedene afrikanische Königreiche, die aus Profitgier ihr eigenes Volk verrieten. Geschätzte 12,5 Millionen Afrikaner wurden aus ihrer Heimat zum amerikanischen Doppelkontinent verschleppt; rund 20 % von ihnen starben auf der Überfahrt. Die rund zehn Millionen, die überlebten, erwartete ständige Demütigung über viele Generationen, ohne Hoffnung auf Befreiung. Sie mussten in Schmutz und Armut leben, wurden auf Sklavenmärkten verkauft, und alle Aspekte ihres Lebens wurden von einem Sklavenhalter kontrolliert, der unter anderem bestimmte, ob – und wenn ja, wen – ein versklavter Mensch heiraten durfte. Wenn Sklaven Kinder bekamen, waren diese automatisch selbst für ein Leben in Knechtschaft bestimmt und konnten von ihrer Familie getrennt und an andere Sklavenhalter verkauft werden.
Zwischen 1803 und 1836 schaffte ein Staat nach dem anderen die Sklaverei offiziell ab. Allerdings veränderte das weder etwas an den zugrunde liegenden Einstellungen, noch setzte es den Auswirkungen der Sklaverei ein Ende. In den Südstaaten der USA bekamen Sklaven erst 1865 effektiv ihre Freiheit. Selbst dann passte die Realität nicht wirklich zu dem Wort Freiheit. In der Zeit des Wiederaufbaus nach dem Sezessionskrieg erließen Südstaaten – allen voran Mississippi – sogenannte Schwarzen-Gesetze („Black Codes“), um das Verhalten der gerade Freigelassenen zu kontrollieren. Zum Beispiel konnte jedermann einen arbeitsfähigen Schwarzen wegen Landstreicherei festnehmen, wenn dieser lediglich gemächlich wanderte oder spazieren ging. Die Praxis der Sträflingsvermietung („Convict Leasing“), die es Gefängnissen erlaubte, ihre Häftlinge als billige – oder kostenlose – Arbeitskräfte zu vermieten, förderte die verbreitete Festnahme von „Landstreichern“ und machte Menschen, die erst kürzlich dem Namen nach frei geworden waren, erneut zu Verurteilten und Sklaven.
„Diese Gesetze waren darauf ausgelegt, Schwarzen Fallen zu stellen und sie wieder in Ketten zu legen, und sie waren wirksam; zum ersten Mal in der Geschichte der USA saßen in vielen Strafanstalten von Bundesstaaten mehr schwarze als weiße Gefangene ein – und sie alle konnten gewinnbringend vermietet werden.“
Selbst als die Schwarzen-Gesetze allmählich abgeschafft wurden, traten im gesamten Süden „Jim Crow“-Rassentrennungsgesetze an ihre Stelle. Hundert Jahre nach der Befreiung kämpften Amerikaner mit afrikanischen Wurzeln noch immer um viele Grundrechte, die andere genossen, einschließlich des Wahlrechts. Auf dem Weg der Legislative wurden die Rassentrennungsgesetze zwar durch das Bürgerrechtsgesetz (Civil Rights Act) von 1964 gekippt, aber altgewohnte Rassenvorurteile waren systemisch geworden. Die Folgen der Gefangenschaft von Menschen und der Zerschlagung ihrer Familien über Generationen sind schwer zu überwinden. Und Vorfälle wie ein Mord im Jahr 2020, als der Afroamerikaner Ahmaud Arbery von drei weißen Männern in weißen Kleinlastwagen getötet wurde, erinnern auf gespenstische Weise an das alte Landstreichergesetz. Arbery war lediglich joggen, was seine Angreifer seltsamerweise dahingehend deuteten, dass er etwas im Schilde führte und dass sie als Bürger ihn festnehmen sollten. Als Arbery Widerstand leistete, erschossen sie ihn.
Tatsache ist, dass die heutigen Ungerechtigkeiten, die ein Vermächtnis unserer gemeinsamen Kolonialgeschichte sind, weiter ihre Wirkung haben werden – manchmal subtil, manchmal nicht –, wenn nicht Völker und Gemeinschaften sie aktiv identifizieren, anerkennen und mit ihren Wurzeln entfernen.
Darum gibt es Gruppen wie Advocates Network, und darum schreiben sie Briefe an Mitglieder der britischen Königsfamilie und andere in einflussreichen Positionen. Eine Entschuldigung schiene ein vernünftiger Ausgangspunkt für die Anerkennung dessen, was geschehen ist, und seiner anhaltenden Auswirkungen.
In „Elements of an Effective Apology“ nennt die Ombudsfrau Marsha L. Wagner von der Columbia University dies „ein machtvolles Mittel der Versöhnung und der Wiederherstellung von Vertrauen“. Zu einer wirksamen Entschuldigung gehören Aussagen, betont sie, die zeigen, dass genau verstanden wurde, was das Unrecht war, dass die eigene Verantwortung eingeräumt, das zugefügte Leid anerkannt, das Unrecht verurteilt, Bedauern ausgedrückt wird und – das ist wichtig – dass Absichten für die Zukunft erklärt werden. Mit anderen Worten, eine aufrichtige und wirksame Entschuldigung muss einem Wandel vorausgehen – danach muss anders gehandelt und versucht werden, einiges von dem Unrecht wiedergutzumachen.
Der breitere Kontext des Kolonialismus
Einige Monate vor dem Protest der jamaikanischen Gruppe gegen die Jubiläumsfeierlichkeiten für die britische Königin setzte die einstige Kolonie Barbados die britische Monarchin als Staatsoberhaupt ab und entschied, eine Republik zu werden. König Charles III. (damals Kronprinz) zeigte seine Unterstützung und Bestätigung für den Willen der Barbadier, indem er im November 2021 nach Barbados reiste, um ihnen alles Gute zu wünschen. Vor Barbados hatte zuletzt Mauritius 1992 Königin Elizabeth II. als Staatsoberhaupt abgesetzt. Doch nach ihrem Tod könnten wohl weitere Mitglieder des Commonwealth das Gleiche tun.
Natürlich erklärten die amerikanischen Siedler 1776 ihre Unabhängigkeit von England – einer der berühmtesten Befreiungsakte von einer Monarchie. Doch das hielt die neue Nation nicht davon ab, den Kolonisierungsprozess selbstständig weiter voranzutreiben.
Die amerikanische Soziologin Crystal M. Fleming schreibt: „Die USA und viele Länder des amerikanischen Doppelkontinents wurden auf eine besondere Art der Kolonisierung namens Siedlerkolonialismus aufgebaut. Diese Art Kolonialismus liegt vor, wenn eine Gruppe beschließt, in einen anderen Teil der Welt zu ziehen, die dort heimische Bevölkerung zu entfernen und auf diesem Land ihre eigene Gesellschaft zu etablieren.“ Bespiele der Kolonisierung in Form von Entfernung oder Vertreibung eingeborener Völker außerhalb des Doppelkontinents sind unter anderem Australien, Neuseeland und Südafrika.
„Der amerikanische Siedlerkolonialismus entwickelte sich im Lauf von drei Jahrhunderten und führte für Millionen zu Tod und Vertreibung, schuf aber gleichzeitig die reichste, mächtigste und letztlich am höchsten militarisierte Nation der Weltgeschichte.“
„Warum wollten die europäischen Siedler das Land der Urbevölkerung überhaupt haben?“, fragt Fleming und stellt als Hauptfaktor Habgier fest. Sie reisten „auf der Suche nach Gold und anderen wertvollen Rohstoffen, die den Reichtum ihres heimatlichen Königreichs mehren konnten“, um die Welt.
Wie bereits erwähnt, zählten zu den „wertvollen Rohstoffen“, die sie suchten, auch Angehörige der dortigen Bevölkerung, die aus Afrika exportiert und gezwungen werden konnten, für nichts oder so gut wie nichts in Kolonien der Neuen Welt zu arbeiten. Doch die Unterjochung eingeborener Völker mit dem Ziel, ihre Ressourcen auszubeuten, war auch in Regionen wie Süd- und Südostasien weitverbreitet. Wichtige Beispiele hierfür sind Indien, Myanmar (Burma) und Indonesien.
Fleming behandelt vor allem den Kolonialismus weißer Amerikaner und merkt an, dass sie dank ihrer Rolle in der Regierung Gesetze konzipieren, verabschieden und umsetzen konnten, die ihnen auf Kosten von Minderheiten Vorteile brachten. Gier – jenes exzessive und selbstsüchtige Habenwollen (sei es Reichtum, Macht, Lebensmittel, Ressourcen oder was auch immer, gewöhnlich weit über den tatsächlichen Bedarf hinaus) – ist seit Langem ein Faktor, der das Verhalten der Mächtigen beeinflusst. Aber sie ist eine brachiale Triebkraft, für die jeder Mensch aus jedem Land und an jedem Punkt der Geschichte anfällig ist.
In der gesamten Geschichte waren Kolonisatoren recht oft Weiße europäischer Abstammung. Ihnen gegenüber standen im Fall des Siedlerkolonialismus eingeborene Völker, die gewöhnlich als weniger entwickelt dargestellt wurden. Ihre relative Machtlosigkeit machte es leichter, sie zu überwältigen und sie als die kolonisierten anderen abzusondern. Der australische Historiker Patrick Wolfe, ein Pionier in der Erforschung des Siedlerkolonialismus, erklärt: „Siedlerkolonien beruhten (beruhen) auf der Beseitigung der Gesellschaften der Ureinwohner. […] Die Siedler kommen, um zu bleiben – Invasion ist eine Struktur, kein Ereignis.“
„Manifest Destiny“
Die Gier nach materiellen Gütern, Reichtum und Land – die alle die Macht eines Volks generell steigern – treibt alle Arten von Kolonisierung an. Doch zu dieser Beutegreifer-Mentalität kam die amerikanische Vorstellung der „Manifest Destiny“ (offenkundigen Bestimmung) hinzu – wie Fleming erläutert, „der Glaube, das Volk der USA sei [von der Vorsehung oder von Gott] dazu bestimmt, sich über den Kontinent auszubreiten und die hier lebenden eingeborenen Gesellschaften zu vertreiben“.
Bald begannen weiße Siedler, unterstützt durch weiße Politiker, die Unausweichlichkeit der Vergrößerung ihres Territoriums „from sea to shining sea“ (vom Atlantik bis zum Pazifik – aus der Hymne „America the Beautiful“) zu proklamieren. Auf der Basis rassistischer Vorstellungen von der Überlegenheit der Weißen schlossen die Siedler, sie hätten ein moralisches Recht, den eingeborenen Völkern ihr Land zu nehmen.
Im 19. Jahrhundert war dies eine populäre Empfindung, insbesondere nachdem US-Präsident Thomas Jefferson im Jahr 1803 Louisiana „gekauft“ hatte. Durch diese Transaktion mit Frankreich wurde das Territorium der USA nahezu verdoppelt – für einen Preis von rund 15 Millionen Dollar (in heutigem Geldwert rund 350 Millionen) oder vier Cent (heute knapp einem Dollar) pro Acre (rund 4047 m²). Nun fühlten sich die weißen Amerikaner verpflichtet, das Land zu besiedeln, das sie als ihr Eigentum betrachteten, obgleich die indigenen Stämme nie etwas davon an die Franzosen oder irgendeine andere Kolonialmacht verkauft hatten. Tatsächlich hatte die amerikanische Regierung das vermeintliche Recht gekauft, die Ureinwohner einseitig und gewaltsam zu vertreiben, um das Land selbst zu erschließen und zu besiedeln. Versprechungen, man werde sie mit dem versorgen, was sie brauchten, blieben weitgehend unerfüllt.
„Die US-Regierung zwang viele Native Americans, ihre Kultur aufzugeben, und leistete keine angemessene Hilfe, um ihre Bedürfnisse in den Bereichen vernetzte Infrastruktur, Selbstverwaltung, Wohnraum, Bildung, medizinische Versorgung und wirtschaftliche Entwicklung zu erfüllen.“
Wolfe nennt diese zwangsweise Isolierung der Urbevölkerung von ihrem Land und ihrer Kultur Ethnozid: „Ich verwende diesen Begriff in diesem Kontext, weil Ethonizid im Gegensatz zu Genozid, dem physischen Völkermord, die kollektive Identität auslöscht, was nicht ausschließt, Menschen am Leben zu lassen.“
Andere behaupten dagegen, dass es sich im Wesentlichen sehr wohl um Völkermord handele. So führt die UNO in ihrer eigenen Diskussion des Begriffs aus, dass Genozid weit mehr umfasst als die direkte Ermordung eines anderen Volks. Das Wort wurde 1944 von dem polnischen Juristen Raphael Lemkin in seinem Buch Axis Rule in Occupied Europe eingeführt. Die Etymologie ist recht klar: geno- von Griechisch genos oder auch Lateinisch genus – Stamm, Geschlecht – und –zid von Lateinisch caedere/occidere – schlagen, erschlagen, töten. Lemkin verwendete es primär für die systematische Ermordung von Juden im Holocaust, räumte aber auch eine breitere Anwendung ein.
Das selbstsüchtige Streben nach Macht
Mit ihrer Blitzkrieg-Taktik eroberten die Nazis zu Beginn des Zweiten Weltkriegs große Teile des europäischen Festlands. Sie wollten Land haben: zusätzlichen „Lebensraum“ zum Entfalten und Wachsen. Nachdem Hitler erklärt hatte, Arier seien anderen Menschen überlegen – und dies umfasste nicht nur Juden, sondern auch Polen, Slawen, Roma, Menschen afrikanischer Abstammung, Zeugen Jehovas, Homosexuelle, Menschen mit geistiger oder körperlicher Behinderung und andere –, hatte er keine Skrupel, Europa von all diesen Menschen zu befreien. Es war eine Form von Siedlerkolonialismus, die es dem deutschen Volk ermöglichen sollte, sich auszubreiten und nach seiner demütigenden Niederlage im Ersten Weltkrieg militärisch und wirtschaftlich mächtig zu werden.
George VI., der Großvater von König Charles III., verstand, dass es den Nazis vor allem um Eigennutz ging. Am Anfang des Zweiten Weltkriegs, dem 3.September 1939, sagte er dem britischen Volk in einer Radio-Ansprache:
„Zum zweiten Mal im Leben der meisten von uns sind wir im Krieg.
Immer und immer wieder haben wir versucht, einen friedlichen Ausweg aus den Differenzen zwischen uns selbst und denen zu finden, die jetzt unsere Feinde sind; aber es war vergebens. Wir sind in einen Konflikt gezwungen worden, denn wir sind mit unseren Verbündeten aufgerufen, der Herausforderung durch ein Prinzip zu begegnen, das, wenn es sich durchsetzen sollte, tödlich für jede zivilisierte Ordnung in der Welt wäre.
Es ist ein Prinzip, das es einem Staat im selbstsüchtigen Streben nach Macht erlaubt, seine Verträge und seine feierlichen Zusagen zu missachten, die den Einsatz von Gewalt oder die Androhung von Gewalt gegen die Souveränität und Unabhängigkeit anderer Staaten sanktionieren.“
Heute zeigt auch der Krieg Russlands gegen die Ukraine „das selbstsüchtige Streben nach Macht“, von dem König George VI. sprach. Am Freitag, dem 30. September 2022, veröffentlichte Reuters einen Artikel, der die damals neueste Entwicklung in diesem Konflikt beschrieb:
„In einer pompösen Zeremonie im Kreml proklamierte Wladimir Putin trotzig Russlands Annektierung eines Stücks der Ukraine, und während er gerade mit einem potenziell schweren neuen militärischen Rückschlag konfrontiert war, verhieß er, Moskau werde mit seiner ,militärischen Spezialoperation‘ siegreich sein.
Die Machtergreifung Russlands über 15 % der Ukraine – die größte Annektierung in Europa seit dem Zweiten Weltkrieg – wurde von der Ukraine und westlichen Ländern rundweg als illegal verworfen.“
Der Nettoeffekt der Gier nach Land, Macht und Herrschaft über andere – einer im Kern kolonialen Denkweise – ist das Leid von Mitmenschen. Und auch wenn wir in unseren Geschichtsbüchern über spezifische, eklatante Beispiele einer solchen Haltung lesen können, ist dies ein uraltes, universales Problem der Menschheit.
„Woher kommt der Kampf unter euch, woher der Streit? Kommt’s nicht daher, dass in euren Gliedern die Gelüste gegeneinander streiten? Ihr seid begierig und erlangt’s nicht; ihr mordet und neidet und gewinnt nichts; ihr streitet und kämpft und habt nichts […]“
König George VI. sah, wie gefährlich es ist, wenn ein Volk oder Machthaber versucht, das Leben und die Freiheit anderer Völker umzustürzen:
„Ein solches Prinzip, aller Verkleidung beraubt, ist sicherlich die bloße primitive Lehre, dass Macht vor Recht geht, und würde dieses Prinzip weltweit etabliert, dann wäre die Freiheit unseres eigenen Landes und des gesamten britischen Commonwealth in Gefahr.
Aber weit mehr als das, die Völker der Welt würden in der Knechtschaft der Furcht gehalten, und alle Hoffnungen auf stabilen Frieden und auf Sicherheit, auf Gerechtigkeit und Freiheit unter den Völkern würden ein Ende haben.“
Was die Rede des Königs jedoch ausließ, war jede Form von Anerkennung der Rolle, die seine Vorfahren gespielt hatten, als sie in ihrem eigenen kolonialen Streben nach Land und Macht Völker anderer Länder unterjochten und ausbeuteten. Es ist oft leicht, zu erkennen, wie das Handeln anderer Leute Angst und Schrecken bringen und „alle Hoffnungen auf stabilen Frieden“ unter den Völkern gefährden könnte. Zu sehen, wie wir selbst – unsere eigenen, vermeintlich zivilisierten Gesellschaften oder Völker – an ähnlichem Unrecht in der Vergangenheit oder Gegenwart schuld sind, ist oft schwieriger.
Wir sind abhängig davon, dass die Regierenden unseres jeweiligen Heimatlands dem Volk den Weg weisen. Wenn sie die Doppelmoral, die die gesamte Menschheitsgeschichte prägt, nicht erkennen und der Ausbeutung anderer zu ihrem eigenen nationalen oder persönlichen Vorteil nicht Einhalt gebieten, dann wird sich definitiv nichts ändern. Nur wenn Menschen – wir alle – die Vorstellung „wer die Macht hat, hat recht“ revidieren und uns stattdessen aufrichtig um andere – alle anderen – und ihre Bedürfnisse kümmern, werden wir endlich erleben, dass der ewige menschliche Teufelskreis von Gewalt, Unterdrückung, Zerstörung und Leid aufhört.
Nach dem Tod der Monarchin, die den britischen Thron am längsten innehatte, dreht sich die Erde weiter, und ein neues Kapitel beginnt mit einem neuen König – der zweifellos gefordert sein wird, sich den Folgeschäden unserer gemeinsamen kolonialen Vergangenheit zu stellen. Vielleicht ist es nun an der Zeit, unsere persönlichen Motivationen zu überdenken und auf persönlicher Ebene eine Bereitschaft zu Dienst statt Unterdrückung und Mitgefühl statt Habenwollen zu zeigen.