Depression
Fachleuten zufolge sind die meisten Formen der Depression heute heilbar. Die Frage stellt sich: Kann man sie auch verhindern?
Depressionen treten oft zu bestimmten Jahreszeiten erhöht auf. Zum Beispiel bei einsamen Menschen zur Weihnachtszeit oder für andere als „Nach-Weihnachts-Tief“. Manchmal, wenn sich der Winter in den nördlichen Breiten lange hinzieht, kann man von einer „Winterdepression“ erfasst werden. Bei Wöchnerinnen kann sie auch als schwerer Fall von „Wochenbettdepression“ vorkommen. Für viele Menschen hat Depression jedoch nichts direkt mit Jahreszeiten oder irgendwelchen Ereignissen zu tun. Sie gehört einfach zu ihrem Leben dazu.
Als eine der Hauptursachen für häufige Arbeitsunfähigkeit gelten heute laut Weltgesundheitsorganisation Depressionen. So kennen Sie wahrscheinlich, wo immer Sie auch leben, entweder jemanden, der unter einer depressiven Erkrankung leidet, oder Sie hatten vielleicht schon selbst mit dieser Krankheit zu tun.
Jährlich erkranken in Deutschland nach Daten des Max-Planck-Instituts für Psychiatrie (2008) etwa 4,4 % der Männer bzw.13,5 % der Frauen an einer Depression. Das entspricht 7,8 Mio. Betroffenen (2,8 Mio. Männer und 5 Mio. Frauen). Ungefähr 1 % der Bevölkerung erkranken an einer manisch-depressiven (oder bipolaren) Störung, d. h. insgesamt etwa 0,82 Mio. Bundesbürger. In den USA leiden bis zu 20 % der Einwohner irgendwann in ihrem Leben an depressiven Symptomen, und bei 5 bis 10 % wird jedes Jahr eine schwere, eine sogenannte klassische Depression diagnostiziert.
Spezialisten, die dieses zunehmende Problem feststellen und behandeln, berichten darüber hinaus, dass sie es in jeder neuen Generation bei jüngeren Patienten sehen. Das National Mental Health Information Center der US-Regierung gibt an, dass zu jeder Zeit bis zu 15 % aller Kinder und Jugendlichen depressive Symptome aufweisen. In Deutschland leiden immerhin zu jedem Zeitpunkt auch 5 % aller Jugendlichen und 2 bis 3 % aller Kinder an einer depressiven Störung (Max-Planck-Institut, 2008).
Trotzdem, so sind Forscher der Meinung, ist das Problem unterdiagnostiziert und untertherapiert. Viele Erkrankte kommen nicht einmal auf den Gedanken, dass sie depressiv sind, und suchen stattdessen Hilfe wegen körperlicher Symptome wie Schlaflosigkeit, Schmerzen oder Antriebslosigkeit. Die Zahlen können auch dadurch verfälscht werden, dass Männer weniger häufig Hilfe suchen als Frauen, vielleicht aus Furcht vor gesellschaftlicher Ausgrenzung oder Scham.
Es gibt viele Statistiken, doch wie man die Zahlen auch deutet – der Konsens ist, dass die Häufigkeit von Depressionen zunimmt; sie kommt in jüngeren Jahren, und sie bereitet den Fachleuten im Gesundheitswesen ernste Sorgen. Auf der positiven Seite versteht die medizinische Forschung heute das Problem immer besser und entwickelt neue Behandlungsmethoden – Methoden, die weit über verbesserte Medikation hinausgehen und stattdessen die Veränderung des Verhaltens in den Vordergrund stellen.
In Vision befassen wir uns vorwiegend mit Problemen und Lösungen auf der geistigen Ebene, insofern schenken wir diesem neuen Trend unsere besondere Aufmerksamkeit. Viele der heute scheinbar unlösbaren Probleme können nur auf der geistigen Ebene dauerhaft gelöst werden, wir treten deshalb auf vielen Gebieten für eine neue Ebene „der Aufklärung“ ein.
„Genesung von einer Depression ist wie Genesung von einer Herz- oder Alkoholkrankheit. Der gute Herzpatient weiß, dass Medikamente nicht ausreichen; lebenslange Ernährungs- und Bewegungsgewohnheiten, wie man mit Stress umgeht, müssen sich ändern.“
Was können also Betroffene und Familien solchen Erkenntnissen zufolge tun, um dem Anwachsen der Depression zu begegnen und vielleicht künftigen Generationen zu helfen, dieser psychisch lähmenden Krankheit zu entgehen? (S. auch unseren Kastenartikel „Gegengewicht Glaube und Hoffnung“)
DAS PROBLEM DEFINIEREN
Depression ist eine Affektstörung und nicht mit gelegentlichen Höhen und Tiefen zu verwechseln, die zum normalen Leben dazugehören. Kennzeichen einer klinischen Depression sind lange Phasen der Traurigkeit oder inneren Leere, in denen nichts Freude macht und die körperliche Aktivität nachlässt. Symptome sind u. a. Stimmungsschwankungen, ein Gefühl der Empfindungslosigkeit, Veränderungen der Ess- und Schlafgewohnheiten, Antriebslosigkeit und ein Gefühl der Wertlosigkeit oder Untauglichkeit. Im Fall einer chronischen leichten Depression (Dysthymie) kann ein Mensch funktionieren, wenn auch nicht mit voller Kapazität, sodass das Problem oft unerkannt bleibt.
Emotionen sind natürlich an diesem Problem beteiligt, doch gelten sie als ein normaler Bestandteil des Lebens, da Körper und Psyche auf Situationen reagieren. Diese Gefühle sind zumeist vorübergehender Natur; sie kommen und gehen den ganzen Tag. Wenn Emotionen jedoch intensiv werden, nicht mehr aufhören und nicht mit einem besonderen Auslöser verbunden sind, werden sie als Stimmungen bezeichnet, und extreme, anhaltende Verstimmungen können sich zu Depressionen auswachsen.
Ein weiterer Faktor der depressiven Erkrankung ist Stress – ein allgegenwärtiges Phänomen des modernen Lebens. Doch wiederum ist nicht jeder Stress von Übel. Wie Emotionen kann er gut oder schlecht sein, je nach Dauer und Stärke. Eine kurze Stressphase befähigt uns, Ziele zu erreichen und Aufgaben als Herausforderung zu behandeln. Dies wird als guter Stress [Eustress] oder akuter Stress bezeichnet. Der schlechte Stress ist chronisch und kann negative Folgen für die körperliche Gesundheit nach sich ziehen, u. a. Schlaflosigkeit, Krankheit und Depression.
WER WIRD DEPRESSIV?
Bestimmte Teile der Gesellschaft sind anfälliger für Depressionen. Einigen Schätzungen zufolge ist das Risiko bei Frauen doppelt so hoch wie bei Männern: Jungen und Mädchen haben bis zum Alter von zwölf Jahren das gleiche Risiko; danach verdoppelt es sich bei Mädchen im Laufe ihres Heranwachsens und bleibt bei Frauen bis nach der Menopause konsistent höher.
Das amerikanische National Institute of Mental Health (NIMH) berichtet: „Die höhere Depressionsquote bei Frauen kann mit biologischen, durch den Lebenszyklus bestimmten, hormonellen und psychosozialen Faktoren zusammenhängen, die nur Frauen betreffen. Forscher haben nachgewiesen, dass Hormone direkte Wirkungen auf die Chemie des Gehirns ausüben, die Emotionen und Stimmungen steuert.“ Der Artikel fährt fort: „Besonders anfällig für Depressionen sind Frauen nach einer Entbindung; dann können hormonelle und körperliche Umstellungen, zusätzlich zu der neuen Verantwortung für ein Neugeborenes, überwältigend sein.“ Dies kann eine kurze Episode des sogenannten Baby-Blues sein, doch es kann sich auch zu einer schwereren Störung ausweiten, die als postnatale Depression oder Wochenbettdepression bezeichnet wird. Hormonelle Veränderungen bei Frauen in den Wechseljahren können ebenfalls mit einem höheren Depressionsrisiko zusammenhängen.
Weiter berichtet das NIMH: „Viele Frauen sind zusätzlichen Belastungen durch Pflichten in Beruf und Haushalt, die Versorgung von Kindern und alternden Eltern, Misshandlung, Armut und Beziehungsprobleme ausgesetzt.“ Allerdings ist anzumerken, dass nicht alle Frauen, die solche Schwierigkeiten haben, von ihnen überwältigt werden. Das NIMH kommentiert: „Es ist noch unklar, warum manche Frauen bei enormen Herausforderungen depressiv werden, andere bei ähnlichen Herausforderungen hingegen nicht.“
Depressionen werden tendenziell auch vererbt, und das genetische Risiko ist wiederum bei Frauen stärker ausgeprägt als bei Männern. Ein weiterer Faktor sind negative frühkindliche Erfahrungen, u. a. der Verlust eines Elternteils im Alter von unter zehn Jahren, Misshandlung, sexueller Missbrauch oder andere traumatische Erlebnisse, die später als Auslöser wirken können.
Ein letzter ursächlicher Faktor sind einschneidende Lebensereignisse wie Scheidung, Gewalterfahrungen, Verlust des Arbeitsplatzes, chronischer Stress, schwere Krankheit oder der Tod eines nahestehenden Menschen. Im letzteren Fall ist Trauer eine normale emotionale Reaktion und führt nicht automatisch zu einer Depression, wenn Trauerarbeit geleistet wird; diese kann allerdings viele Monate in Anspruch nehmen. Wenn Trauer jedoch über einen langen Zeitraum immer tiefer in den Betroffenen einsinkt, kann sie in eine Depression münden.
Trotz dieser Prädispositionen lässt sich nicht sicher vorhersagen, wer depressiv werden wird. Geringes Selbstwertgefühl, ein Gefühl des Abgelehntwerdens und eine Unfähigkeit, sich mit sich selbst oder in seinem Leben wohlzufühlen, können Folgen von Schwierigkeiten in der Kindheit oder eines katastrophalen Ereignisses im späteren Leben sein. Doch können auch Menschen, die keine derartige Geschichte haben, die stabil und gut integriert scheinen, in einen depressiven Zustand verfallen; und Menschen, die ein Kindheitstrauma erlitten haben, große Belastungen oder Lebensumstellungen durchmachen, sind nicht unausweichlich zu einem Leben in Depression verurteilt.
DIAGNOSE UND BEHANDLUNG
Die gute Nachricht ist, dass Depression in den meisten Fällen therapierbar ist. Wie bei anderen gesundheitlichen Problemen sind natürlich die Erfolgschancen höher, je eher sich der Patient in Behandlung begibt. Ohne Behandlung steigt das Risiko weiterer Episoden dramatisch. Und mit dem Risiko steigt die Wahrscheinlichkeit von Begleitproblemen wie Drogensucht, Alkoholmissbrauch und Selbstmord.
Was also tun, wenn Sie bei sich selbst oder bei jemandem, der Ihnen nahesteht, Symptome einer Depression vermuten? Als Erstes ist festzustellen, ob die Symptome durch eine affektive oder eine körperliche Störung verursacht werden. Viele Symptome können Folgen einer Schilddrüsenfehlfunktion, von Vitaminmangel, Schlafapnoe, Medikamenten oder hormonellen Umstellungen sein. Auch stressbedingte Erschöpfung und Müdigkeit können zu depressionsähnlichen Symptomen führen.
Dies bedeutet, dass die Diagnose nicht so unkompliziert ist, wie man erwarten könnte, und es hilft, die bereits erwähnten Probleme der Unterdiagnose und Untertherapie zu erklären. In einer vom Primary Care Companion to the Journal of Clinical Psychiatry veröffentlichten Studie wird berichtet: „Nur 50 % der Patienten mit Depressionen werden vom Hausarzt korrekt diagnostiziert, und von diesen werden weniger als 10 % angemessen therapiert“ („Depression: Diagnosis and Management for the Primary Care Physician“, Oktober 2000).
Die Behandlungsmöglichkeiten sind heutzutage vielfältiger, da die Fachleute die Vorstellung hinter sich lassen, eine angemessene Behandlung für einen Patienten mit Verdacht auf Depression sei es, einfach ein Antidepressivum zu verschreiben. Heute haben Spezialisten eine Fülle therapeutischer Ansätze zur Verfügung, und da jeder Mensch anders ist, ist es auch die Anwendung der Therapie. Manche Formen der Depression erfordern vielleicht ein Medikament oder eine Kombination von Medikamenten, um die Genesung zu unterstützen; andere können dagegen ohne Medikamente behandelt werden. Es ist wichtig zu bedenken, dass es für den Arzt oder Psychotherapeuten keine gültige Methode gibt, um festzustellen, welche Therapie einem bestimmten Patienten helfen wird. Der Patient und seine Familie müssen ganz persönlich Verantwortung für das Problem übernehmen, sich ihm stellen und sich aktiv um erfolgreiche Lösungen bemühen. Deshalb kann die Psychotherapie ein besonders hilfreicher Teil des Heilungsprozesses sein: Sie sorgt dafür, dass der Patient dabei bleibt, an dem Problem zu arbeiten. Die meisten Fälle von Depression sind therapierbar und heilbar, aber es kommt darauf an, sich Hilfe zu holen und den Kampf nicht aufzugeben.
NEUES DENKEN IN DER WISSENSCHAFT
Die Hirnforschung hat gezeigt, dass die Funktion des Gehirns sowohl bei der Entstehung als auch bei der Behandlung depressiver Erkrankungen eine wichtige Rolle spielt. Die Neurowissenschaft fördert immer neues Wissen darüber zutage, wie das Gehirn funktioniert, und führt die Forscher zu erstaunlichen neuen Erkenntnissen über unser Denken – ein zentrales Element der Depression.
Manchen Autoren zufolge hat das menschliche Gehirn über 100 Milliarden Neuronen oder Hirnzellen. Jede ist mit Tausenden anderer Neuronen vernetzt und kann Hunderte von elektrischen und neurochemischen Impulsen pro Sekunde über Synapsen zu anderen Neuronen feuern. Neuronen geben entweder eine elektrische Ladung weiter oder nicht. Allen unseren mentalen Prozessen liegen Schaltketten und -kreise dieser Neuronen zugrunde, die entweder „an“ oder „aus“ sind. Sie bilden neurale Bahnen, die Reaktionen wie Bewegung, Wahrnehmung, Fühlen, Sprache und Denken anregen. Je häufiger diese Bahnen genutzt werden, desto fester – d. h. gewohnheitsmäßiger – werden das angeregte Verhalten bzw. die Wahrnehmung oder der Gedanke.
Diese komplexe neurale Kommunikation geschieht mithilfe chemischer Botenstoffe, der Neurotransmitter. Bekannt sind über 30 verschiedene Neurotransmitter im Gehirn – manche Forscher schätzen, dass es 100 oder mehr gibt. Man weiß, dass einige von ihnen, die Monoamine (z. B. Serotonin, Epinephrin und Dopamin), zur Stabilität der Stimmung beitragen; bei abnormalem Niveau können jedoch anhaltende Affektstörungen die Folge sein.
In den 1960er-Jahren wurde die Auffassung populär, Depressionen seien auf genau solche Störungen des chemischen Gleichgewichts im Gehirn zurückzuführen. Im Mittelpunkt der „Monoamin-Hypothese“ stand Serotoninmangel, insbesondere als Ursache von Depressionen, und daher wurde die medikamentöse Therapie bevorzugt.
Doch in den späten 1990er-Jahren zeigten neuere Forschungen, dass Antidepressiva dadurch, dass sie das Serotoninniveau erhöhen, tatsächlich das Wachstum von Hirnzellen im Hippocampus fördern – einem Teil des Gehirns, der mit der Regulierung von Stimmungen zu tun hat. Die Entdeckung, dass das erwachsene Gehirn in der Lage ist, neue Neuronen zu bilden, hat nicht nur die Behandlung von Depressionen revolutioniert, sondern zu der „bahnbrechenden“ Erkenntnis geführt, dass das Gehirn neue neurale Bahnen bilden kann, indem es seine Art des Denkens verändert. Wenn wir auf ein Trauma und andere einschneidende Lebenserfahrungen in der Kindheit reagieren, legen wir eine neurale Bahn im Gehirn an. Wenn später ähnliche Ereignisse eintreten, lösen sie eine Reaktion aus, für die es bereits diese „voreingestellte“ Bahn gibt. Wenn unsere frühere Reaktion negativ war, reagiert das Gehirn deshalb wahrscheinlich auch auf das spätere Ereignis mit negativen Gedanken und entsprechend gedrückter Stimmung. Mit der Zeit bildet das Gehirn die Gewohnheit aus, auf die vertrauten Auslöser negativ zu reagieren. Diesen Schaltkreis gilt es zu unterbrechen.
Die Folge dieses Durchbruchs in der Hirnforschung ist, dass Ärzte heute nicht mehr versuchen, die Depression von einem einzigen Bezugspunkt aus zu erklären und zu therapieren, sondern sie meist mit einer kombinierten Therapie zu behandeln. Medikamente sind nicht mehr automatisch die erste Taktik. Sie können nützlich sein, besonders bei schwereren Affektstörungen, aber Techniken, die dem Depressiven helfen, sein Denken zu verändern, können die Bildung neuer Zellen und alternativer neuraler Bahnen im Gehirn fördern. Dies unterstützt nicht nur die Genesung, sondern es ist von offensichtlicher Bedeutung für die Prävention von Rückfällen.
LEBENSFÜHRUNG
Ein Gehirn, das durch Kindheitstrauma, chronischen Stress oder sogar genetisch geschädigt ist, hat die Fähigkeit, diesen Schaden zu heilen. Das Gehirn verändert sich durch Erfahrung, oder wie die Neurowissenschaft sagt, es kann „neu verdrahtet“ werden, um auf neue Arten zu denken. (Siehe „Weitere Informationen zu diesem Thema“ am Ende des Artikels)
Wie schon gesagt, deuten viele aktuelle Forschungsergebnisse darauf hin, dass Depressionen von Generation zu Generation häufiger werden und im Durchschnitt jüngere Menschen betreffen. Obgleich Vererbung eine Rolle spielt, lässt dieser Trend auch einen Zusammenhang zwischen Depression und Lebensführung vermuten.
Für die Lebensdauer eines Menschen, so heißt es, sind zu 30 % genetische Faktoren und zu 70 % seine Lebensführung verantwortlich. Mit anderen Worten: Langlebigkeit liegt nicht nur in den Genen, sondern ist auch eine Folge unserer Entscheidungen, wie wir leben wollen.
Auch der Zusammenhang zwischen Lebensführung und Krankheit ist unumstritten. Die US-Organisation Centers for Disease Control berichtet: „… chronische Krankheiten haben einen Anteil von 70 % an allen Todesfällen in den USA. […] Obgleich chronische Erkrankungen zu den am weitesten verbreiteten und kostenträchtigsten Gesundheitsproblemen zählen, sind sie auch mit am einfachsten zu vermeiden. Gesundheitsfördernde Verhaltensweisen wie gesunde Ernährung, körperliche Aktivität und nicht rauchen können die verheerenden Wirkungen dieser Krankheiten verhindern oder in Grenzen halten.“
Was bislang nicht so offensichtlich war, ist der Zusammenhang zwischen Lebensführung und Depression, zumindest in der Behandlung. Schließlich – was ist Lebensführung, wenn nicht eine Art zu leben, eine Summe von Verhaltensweisen?
Der Psychotherapeut Richard O’Connor drückt es sehr direkt aus: „Ich glaube, man kann bedeutende Veränderungen in seinem Gefühlsleben, seiner Persönlichkeit, sogar in der Chemie seines Gehirns bewirken, indem man sein Verhalten ändert.“
Um mit Depressionen fertig zu werden, sind einige Veränderungen der Lebensführung entscheidend. Depressives Denken führt zu Gewohnheiten und Verhaltensweisen – zu einer ganz bestimmten Art, zu denken und zu fühlen –, die durch andere ersetzt werden müssen. Durch bewusste Entscheidungen darüber, wie wir leben, ermöglichen wir es Körper und Geist, in ihrer Wechselwirkung positives Denken und Fühlen zu verstärken. Das heißt nicht, dass es leicht wäre, aber es ist machbar. Insbesondere täte ein Depressiver gut daran, vier Aspekte seiner Lebensführung zu überprüfen – Bewegung, Ernährung, Struktur und Schlaf –, ehe er zu Medikamenten greift, denn diese vier Verhaltensweisen haben direkte Auswirkungen auf das Funktionieren des Gehirns.
VORBEUGEN IST BESSER ALS HEILEN
Wenn man in den meisten Fällen von Depression etwas Positives bewirken kann – kann man dann auch die Psyche so beeinflussen, dass einer depressiven Neigung von vorneherein vorgebeugt wird? Mit anderen Worten, wenn das Gehirn in seinen Denkgewohnheiten umtrainiert werden kann, könnte es dann nicht von Kindheit an trainiert werden, „richtig“ zu denken?
Die Masse des heute verfügbaren Materials über Depression befasst sich in erster Linie mit ihrer Behandlung, sowohl mit Medikamenten als auch mit Psychotherapie. Diese enge Sicht könnte aber den Blick auf das Ganze verhindern. Das Gehirn ist fähig, Verbindungen zwischen Emotionen und Gedanken herzustellen; es hat die Fähigkeit, sich gedanklich mit Emotionen auseinanderzusetzen und Emotionen zur Förderung des Denkens zu nutzen.
„Jedes Mal, wenn jemand deprimiert wird, werden im Gehirn die Verbindungen zwischen Stimmung, Gedanken, dem Körper und dem Verhalten stärker, sodass erneut eine Depression ausgelöst werden kann.“
Durch die Forschung von John D. Mayer, Peter Salovey, David R. Caruso, Daniel Goleman und andere begannen in den 1990er-Jahren Informationen über die emotionale Intelligenz (EI) ans Licht zu kommen. Sie entwickelten Prinzipien, die neue Wege zum Verständnis und zur Analyse der Verbindungen zwischen Emotionen, Gedanken und Verhalten eröffneten. Eine allgemeine Definition der EI von Mayer, Caruso und Salovey ist, „eine Fähigkeit, die Bedeutung von Emotionen und ihre Beziehungen zu erkennen sowie auf ihrer Basis zu denken und Aufgaben zu lösen. Emotionale Intelligenz gehört zu der Fähigkeit, Emotionen wahrzunehmen, mit Emotionen verbundene Gefühle zu integrieren, den Informationsgehalt dieser Emotionen zu verstehen und mit ihnen umzugehen“ („Emotional Intelligence Meets Traditional Standards for an Intelligence,“ [Intelligence 27/4,] 2000). Manche Forscher meinen sogar, der „Emotionale Intelligenzquotient“ (EQ) eines Menschen könne für den Erfolg seines gesamten Lebens wichtiger sein als sein IQ. Die Fähigkeit, Emotionen zu kontrollieren und mit ihnen umzugehen, ist von entscheidender Bedeutung, besonders in stressträchtigen Bereichen des Lebens.
Statt also nur auf die emotionale Reifung Erwachsener als Mittel zur Veränderung der Chemie des Gehirns zu schauen, könnte man doch zu einer grundlegenden Ursache der Depression zurückgehen: frühkindlichen Erfahrungen oder Stress in der Kindheit. Um wirksam gegen die Volkskrankheit Depression vorzugehen, gilt es, bei der Ursache anzugreifen, nicht nur die Wirkung besser behandeln zu lernen. Dies war schon in den späten 1970er-Jahren ein Forschungsschwerpunkt des Psychologen Martin Seligman (s. den Artikel (in Englisch) „Building Resilience in a Turbulent World“).
Es ist kein Zufall, dass die Zunahme von Depressionen von einer Generation zur nächsten parallel zum Niedergang der traditionellen Familie verläuft. Wenn Menschen nicht in der Kindheit traumatisiert würden, wäre es weniger wahrscheinlich, dass sie depressiv werden. Der Kinderpsychologe Lawrence E. Shapiro macht in seinem Buch How to Raise a Child With a High EQ – A Parents’ Guide to Emotional Intelligence diese interessante Feststellung: „Obwohl es den Anschein hat, dass die Kinder mit jeder neuen Generation gescheiter werden, scheinen paradoxerweise ihre emotionalen und sozialen Fähigkeiten rasant abzunehmen. Wenn wir den EQ an der psychischen Gesundheit und anderen soziologischen Statistiken messen, können wir sehen, dass es Kindern von heute in vielfacher Hinsicht viel schlechter geht als früheren Generationen. […] Viele Sozialwissenschaftler sehen die Ursache der Probleme heutiger Kinder in den komplexen Veränderungen sozialer Muster, die in den letzten 40 Jahren geschehen sind, darunter steigenden Scheidungsquoten […] und dem Rückgang der Zeit, die Eltern mit ihren Kindern verbringen. […] Was können Sie tun, damit Ihre Kinder glücklich, gesund und produktiv sind? […] Sie müssen etwas daran ändern, wie sich das Gehirn Ihres Kindes entwickelt“ (Hervorhebung des Autors).
Die emotionale Reifung beginnt mit der Förderung und Liebe, die ein Kind in einer strukturierten Familie erfährt, wenn die Chemie des Gehirns die Muster bildet, die das Kind in ein glückliches Erwachsenenleben bringen. Eine stabile, liebevolle Familie, die dem Kind Selbstdisziplin und Selbstkontrolle vermittelt, trägt so zur Herausbildung seiner emotionalen Biochemie bei, dass es mehr Kontrolle über sein Leben hat. Zerbrochene Familien, alleinerziehende Eltern, Scheidung, Misshandlung und Gewalt – dies alles beeinflusst die Entwicklung von Neurotransmittern wie Serotonin, während die neuralen Bahnen entstehen.
Kann man also dieser weitverbreiteten Krankheit mit ihren lähmenden Auswirkungen vorbeugen? Die aktuelle Forschung deutet darauf hin, dass der Kampf gegen die steigende Flut von Depressionen und Affektstörungen mit einer proaktiven, wirksamen Unterstützung der kindlichen Entwicklung beginnt. Kinder, die so erzogen werden, dass sie eine starke emotionale Reife erlangen, können tatsächlich dazu beitragen, das erdrutschartige Abgleiten der Generationen in die Depression aufzuhalten. Natürlich müssen wir Wege finden, Affektstörungen wirksamer zu behandeln, aber wir müssen uns auch mit der Vorbeugung als bedeutendem Teil der Heilung befassen.