Der Korb mit reifem Obst
Alle großen Reiche entwickeln komplexe Finanzsysteme für ihre wirtschaftliche Aktivität und ihre soziale Integration. Solche Systeme sind ein wesentlicher Bestandteil der wirtschaftlichen Überlegenheit dieser Reiche. In unserer Zeit vielleicht mehr denn je macht Geld uns mobil und integriert die ganze Welt.
Als ein Instrument des Handels, der Lebensführung und der Wirtschaft muss Geld zuverlässig, stabil und allgemein als Zahlungsmittel anerkannt sein. Sir Thomas Gresham, ein englischer Finanzier des 16. Jahrhunderts und Berater der Königin Elisabeth I., formulierte dieses Prinzip, das heute als Greshams Gesetz bezeichnet wird. In einem Brief anlässlich ihrer Thronbesteigung im Jahr 1558 soll er ihr geschrieben haben: „Gute und schlechte Münze können nicht zusammen umlaufen.“ Greshams Gesetz ist eines der wenigen Gesetze der Wirtschaftswissenschaft, die selten angefochten worden sind. Doch welchen Preis es hat, dagegen zu verstoßen, wurde nie gelernt.
Historisch bestand „schlechtes“ Geld primär aus minderwertigen Münzen – Gold- oder Silbermünzen mit Anteilen anderer, weniger wertvoller Metalle. Eine weitere gängige Praxis war das „Beschneiden“ von Münzen, um ihr Gewicht zu verringern. Mit dem Aufkommen von Banknoten wurde schlechtes Geld einfach dadurch geschöpft, dass man mehr Noten druckte als der Wirtschaftsleistung entsprach, und sie dann in Umlauf brachte. Geld kann auch durch das Einschleusen gefälschter oder fehlerhafter Produkte in die Wirtschaft minderwertig werden. Heute jedoch ist billiger oder exzessiver Kredit (Geld aus Schulden, dem kein Wert zugrunde liegt) die häufigste Form von schlechtem Geld ‒ und möglicherweise die schlimmste.
Obgleich das Gesetz vom „schlechten Geld“ Sir Thomas zugeschrieben wird, war er nicht der Erste, der dieses Prinzip formulierte. Der französische Bischof Nikolaus Oresimus lieferte im 14. Jahrhundert in De Moneta, seinem Traktat über Geld, eine detaillierte Erklärung der Funktion des Geldes und der mit schlechtem Geld verbundenen Probleme. Und der polnische Astronom Kopernikus trug in einer Denkschrift über gutes und schlechtes Geld, gerechte Preise und Währungsreform 1526 die Quantitätstheorie des Geldes vor.
Doch mehr als 2000 Jahre vor Oresimus oder Kopernikus hatte der Prophet Amos schon im 8. Jahrhundert v.Chr. die Verwendung von schlechtem Geld angeprangert. In seiner Anklage gegen das Königreich Israel schrieb er: „Höret dies, die ihr die Armen unterdrückt und die Elenden im Lande zugrunde richtet und sprecht: Wann will denn der Neumond ein Ende haben, dass wir Getreide verkaufen, und der Sabbat, dass wir Korn feilhalten können und das Maß verringern und den Preis steigern und die Waage fälschen, damit wir die Armen um Geld und die Geringen um ein Paar Schuhe in unsere Gewalt bringen und Spreu für Korn verkaufen?“ (Amos 8, 4-6). Der Anlass dieser Beschuldigungen war eine Vision, die dem Propheten gegeben worden war, und in der er einen Korb mit reifem Obst gesehen hatte (Vers 1-2a). Diese Vision war ein Bild für den Zustand des Volkes.
Das 8. Jahrhundert v.Chr. brachte Israel und Juda eine Zeit wirtschaftlicher Erholung (das alte Königreich Israel war zwei Jahrhunderte zuvor, nach dem Tod des Königs Salomo, in zwei Königreiche geteilt worden). Obgleich beide Reiche großen Wohlstand genossen, war Israels Zeit als Volk zu Ende. Das ist die Botschaft der Vision vom Korb mit reifem Obst, die Amos gegeben wurde (Vers 2b-3). Israel war reif, das Unglück zu ernten, das es durch seine moralische Verderbtheit gesät hatte. Sein Niedergang wurde zum Teil durch die Verbreitung von schlechtem Geld an seinen Märkten ausgelöst. Händler verwendeten für ihre Waagen Gewichte, die zu leicht waren, d. h., sie gaben für das erhaltene Geld weniger Ware ab – und es wurde fehlerhafte Ware verkauft. So wurde Israels Wirtschaft korrumpiert. Israel hatte keine Entschuldigung, denn viele Jahrhunderte zuvor, als ein im Entstehen begriffenes Volk, hatte es das Gebot erhalten: „Ihr sollt nicht unrecht handeln im Gericht, mit der Elle, mit Gewicht, mit Maß. Rechte Waage, rechtes Gewicht, rechter Scheffel und rechtes Maß sollen bei euch sein“ (3. Mose 19, 35-36). Es war ein Gesetz, das den Umlauf von schlechtem Geld, das Durchsetzen ungerechter Preise und den Verkauf minderwertiger Ware verbot.
Das „Gesetz des schlechten Geldes“, Greshams Gesetz, gilt als ein Gesetz der Wirtschaftswissenschaft. Der Bibel zufolge ist schlechtes Geld aber eine Frage der Moral. Es ist nicht schwer zu verstehen, warum, wenn wir seine Auswirkungen auf die Beziehungen in der Gesellschaft sehen. Heute trauen Käufer und Verkäufer einander nicht; das Vertrauen der Bürger in ihre Regierungen ist schwächer denn je, während immer höhere Prozentsätze des persönlichen Wohlstands durch Steuern konfisziert werden und wir nun auf die verheerenden Folgen der Inflation warten; die Finanzinstitute haben jede Glaubwürdigkeit verloren (sogar untereinander); und die wirtschaftliche Aktivität, die für die Ordnung und den Wohlstand der Gesellschaft erforderlich ist, steht in vielen Ländern nahezu still. Geld, das einmal soziale Integration sogar weltweit möglich gemacht hat, ist nun eine Kraft, die soziale Desintegration bewirkt.
Das reife Obst, das Amos sah, muss verlockend ausgesehen haben – appetitlich reif und bereit, gegessen zu werden. Schlechtes Geld, und besonders billiger Kredit, kann einen ähnlichen Reiz haben: Es braucht nur genommen zu werden und kann sofort unsere Wünsche erfüllen. Doch das schlechte Geld, das heute umläuft, wird und kann keine gute Frucht bringen. Angesichts der Selbstnivellierung moralischer Gesetze ist es schwierig, sich vorzustellen, wie der ständig vermehrte Einsatz von solchem Geld – Geld, das aus Schulden geschöpft wird und dem kein Wert zugrunde liegt – das Problem, das es verursacht hat, beheben soll.
Vielleicht hat Amos’ Vision mit ihrem uralten Bild uns heute etwas zu sagen.