Der Stoff, aus dem die Helden sind
Als Hitler 1939 brutal und grundlos über Polen herfiel, wurde ein Mann unerwartet zum Helden – ein Held, der heute fast vergessen ist. Seine Geschichte lädt uns alle ein, zu bedenken, was wir an anderen idealisieren.
Heldentum ist, wie Größe, oft etwas, was sich einem Menschen aufdrängt. „Ich wollte nie ein Held sein, ich habe nur getan, was ich tun musste“ – so wird es üblicherweise ausgedrückt. Die Bezeichnung „Held“ kommt häufig von außen. Wir denken selten darüber nach, was das bedeutet und wie es unsere Interaktionen mit Menschen beeinflusst, zu denen wir aufschauen; doch in einer Welt, in der wir mehr Verbindungen mit nah und fern haben als jemals zuvor, ist das wichtig.
Heldinnen und Helden gibt es in allen Formen und Größen. Es gibt Heldinnen und Helden der Geschichte, die etwas Beachtliches erreicht haben oder deren Handeln rühmlich oder vorbildlich war. Es gibt prominente Heldinnen und Helden – Menschen, die in der Öffentlichkeit stehen und etwas Bewundernswertes verkörpern oder ein Beispiel dafür geben. Es gibt fiktive Heldenfiguren, sei es in Büchern oder Filmen. Und es gibt persönliche Heldinnen und Helden, die allgemeiner als Rollenvorbilder bezeichnet werden könnten. Sie alle stehen für beeindruckende Werte oder Eigenschaften. Das Wesen von Helden ist formbar; der Held von gestern kann leicht der Schurke von heute werden. Doch in jedem Fall verkörpern sie etwas, vielleicht wegen einer bestimmten Tat oder eines beispielhaften Verhaltens.
Abgesehen von fiktiven Figuren sind Helden auch Menschen und wenn man das bedenkt, wird die Situation unklar. Hinter dem, was sie verkörpern – den Rollen, mit denen man sie verbindet –, stehen Personen mit nicht nur Stärken, sondern auch Schwächen; sie machen Fehler und ändern ihre Meinung.
Wenn Heldinnen oder Helden ein Verhalten zeigen, das ihrer von uns übertragenen Rolle zuwiderläuft, reagieren wir meist nicht wohlwollend. Das bekommen Prominente häufig zu spüren, wenn sie versuchen, etwas anderes zu tun – wenn z. B. eine Popsängerin ein Buch schreibt oder ein Kinderstar heranwächst und erwachsene Dinge tut oder selbst wenn eine bekannte Schönheit ohne Make-up weniger außergewöhnlich aussieht. Die öffentlichen Kommentare in diesen Fällen sind selten freundlich. Solche Richtungswechsel wirken nur deshalb bestürzend, weil wir zu der Erwartung neigen, dass Menschen, die in der Öffentlichkeit stehen, gleich bleiben – die begrenzte Form bewahren, die wir ihnen zugewiesen haben.
Der Wert eines guten Beispiels steht außer Zweifel. Vorbild zu sein, „ist die machtvollste Form der Erziehung“, so der verstorbene amerikanische Basketballcoach John Wooden. Menschen, die wir respektieren, eifern wir oft nach. Deshalb ist es irritierend, wenn wir im Leben eines Helden Aspekten begegnen, die unserer konkreten Vorstellung von dieser Person widersprechen.
„Die Helden, die man bewundert, können die eigenen ethischen Ideologien beeinflussen, denn man identifiziert sich mit den persönlichen Eigenschaften, die man bei seinen Helden wahrnimmt, und versucht, ihrem Verhalten nachzueifern. Als Vorbilder spielen Helden eine wichtige Rolle bei der Entwicklung von Einstellungen und Identität.“
Besonders schwierig ist es, historische Figuren richtig zu bewerten, die heute für etwas Bedeutendes stehen. Da sind Winston Churchill und der britische Bulldoggen-Biss, Mahatma Gandhi und passiver Widerstand, Yue Fei und Loyalität in der Jin-Dynastie, Amerikas Gründerväter und die nationale Identität der USA. Da sind Johanna von Orléans, Nelson Mandela, Alexander der Große, Ned Kelly, Robert E. Lee, Jomo Kenyatta, Kleopatra, Simón Bolivar, Boudicca, Otto von Bismarck, Peter der Große. Ihnen allen wird eine Heldenrolle zugeschrieben, oft aufgrund von knappen Quellen oder gar Legenden.
In manchen Fällen ist über die Geschichte einer Person viel bekannt, doch die breite Öffentlichkeit will nur einen begrenzten Teil davon wahrnehmen. Ein bemerkenswertes Beispiel dafür ist Churchill. Seine Leistungen im Zweiten Weltkrieg überstrahlen generell seine weniger rühmlichen Rollen im Ersten Weltkrieg und bei der Hungersnot von 1943 in Bengalen.
In Büchern über Geschichte und in Biografien, insbesondere jüngeren Datums, ist versucht worden, ein umfassendes Bild dieser Figuren zu zeigen, mit allen Fehlern und Schwächen. Das ist auf den Widerstand derer gestoßen, die lieber an einem makellosen Bild ihrer historischen Helden festhalten möchten. Aber zwischen einem Menschen und seiner Rolle oder, wenn man will, seinem Heldenumhang gibt es einen Unterschied. Eine heldenhafte Personifizierung ist oft vereinfachend, reduzierend und, wie gesagt, von außen übertragen. Sie kann nicht alles sein, was eine Person ausmacht, aber in einer Zeit der Informationsschwemme ist es schwer, sich in dem Spektrum zwischen Vollständigkeit und Bequemlichkeit zurechtzufinden. Dieser Konflikt ist der Kern vieler Diskussionen um historische Figuren, nationale Identität, Denkmäler und populäre Versuche, öffentliche Figuren „vom Sockel zu reißen“.
Wo ist die Grenze zwischen der Person und dem Heldenumhang? Kann man Menschen trotz ihrer menschlichen Schwächen als Helden behandeln? Ist Heldentum überhaupt die Mühe wert oder ist es einfach zu unsubtil für unsere komplexen Zeiten?
In Romanen oder Filmen wird der Held oft für Siege im Kontext des Erzählten gelobt. Das Happy End für den Helden ist eng und in sich geschlossen: Der Soldat tötet den Feind, der Gute bekommt das Mädchen, die Forscherin oder Mathematikerin löst das Rätsel. So endet die Story und der Leser oder Zuschauer nimmt ein Hochgefühl mit – vielleicht auch einen Vorsatz, zu handeln. So ist eben die Notwendigkeit und Begrenztheit eines Handlungsbogens, der sich gut verkauft.
Ganz anders ist die Lage allerdings mit Helden im realen Leben, selbst wenn sie ähnlich auf unsere Emotionen wirken. Diese Helden sind Menschen; ihr Leben ist unserem nicht unähnlich. Die Grenzen dessen, was sie leisten können, sind im realen Leben weniger überwindbar als in der Fiktion. Immer wieder ist die Rede von der Macht menschlichen Handelns, der Fähigkeit jedes Einzelnen, unsere Welt zu verändern; doch selbst außergewöhnliche Menschen sind begrenzt in ihren Fähigkeiten. Um den realen Wert von Rollenvorbildern zu verstehen, ist es wichtiger denn je, ihr Menschsein von ihrem scheinbar unbesiegbaren Heldentum zu trennen.
Jan Karski – eine Fallstudie
Der Schauspieler Christopher Reeve, berühmt für seine Rolle als Superman, definierte einen Helden einmal als „eine normale Person, die die Kraft findet, trotz überwältigender Hindernisse standhaft zu bleiben und durchzuhalten“. Das ist eine breit angelegte, ermutigend inklusive Definition und vielleicht gibt es kein besseres Beispiel dafür als den außergewöhnlichen Fall eines jungen Polen vor fast einhundert Jahren. Die Geschichte dieses Mannes – eines Helden im wahren Leben – ist der Stoff für eine lehrreiche Fallstudie darüber, wie Heldentum in unserer Welt funktioniert.
Als deutsche Truppen am 1. September 1939 die Grenzen Polens durchbrachen, hatte Jan Karski gerade sein Studium abgeschlossen.
„Das Ausmaß an Tod, Zerstörung und Desorganisation, das dieses kombinierte Feuer in drei kurzen Stunden anrichtete, war unglaublich. […] Es war offensichtlich, dass wir nicht in der Lage waren, irgendeinen ernsthaften Widerstand zu leisten.“
Die Deutschen griffen an drei Fronten an, mit neunfach stärkeren Panzertruppen und fast fünffach überlegenen Luftstreitkräften, und überrannten das Land innerhalb weniger Tage.
Der rapide Zusammenbruch der eine Million starken polnischen Armee war ein Schock für viele, aber vielleicht unvermeidlich, da Polen – dem Rat der Briten und Franzosen folgend – nicht komplett mobilisiert hatte, um die Appeasement-Politik der Alliierten nicht zu untergraben. Bis Ende September hatte die belagerte Hauptstadt Warschau kapituliert. Stück für Stück begriff die desorientierte und bestürzte Bevölkerung den vollen Umfang der Situation: Russland und Nazideutschland hatten insgeheim vereinbart, Polen untereinander aufzuteilen und es als Nationalstaat von der Landkarte zu wischen – durch den sogenannten Molotow-Ribbentrop-Pakt – und Großbritannien und Frankreich waren trotz Gesten der Unterstützung nicht zu Hilfe gekommen.
Für die Polen fühlte es sich an wie ein Déjà-vu. Die einst mächtige Königliche Republik Polen-Litauen war nicht einmal, sondern dreimal von preußischen, habsburgischen und russischen Truppen erobert und geteilt worden (1772, 1793 und 1795). Nach dem Sieg von 1815 über Napoleon (der das dann so benannte Herzogtum Warschau erobert und zu einem Satellitenstaat gemacht hatte) wurde Polen für seine erzwungene Waffenbrüderschaft mit Frankreich bestraft und sein Status als Satellitenstaat ging auf Russland, Preußen und Österreich über.
Nach einem Aufstand, der 1831 niedergeschlagen wurde, wurde das von Russland kontrollierte Königreich Polen ganz dem Zarenreich einverleibt; sehr ähnlich erging es Krakau, als es 1846 gegen seine österreichischen Herrscher rebellierte. Erst durch die Begeisterung für nationale Selbstbestimmung nach dem Ersten Weltkrieg durfte Polen seine Grenzen weder auf internationalen Landkarten einzeichnen. Kurz – 1939 war die Realität von Eroberung und Unterjochung für das polnische Volk noch frisch und nur allzu klar.
In seinen zum Klassiker gewordenen Erinnerungen Story of a Secret State schrieb Karski: „In Polen hat Niederlage eine Bedeutung, die in anders gelegenen Ländern vielleicht unbekannt ist. Neben einem starken Gefühl der Einheit als Volk besteht ein Bewusstsein, dass eine Niederlage im Krieg einzigartige und drastische Folgen nach sich zieht. […] Wenn ein polnischer Soldat auf dem Schlachtfeld geschlagen wurde, stürzte das Schreckgespenst totaler Vernichtung auf die ganze Nation herab: Ihre Nachbarn würden sie plündern und ihr Land aufteilen und versuchen, ihre Sprache und Kultur zu vernichten.“
Ihre Vertrautheit mit Unterjochung hatte die Haltung der Polen bestimmt, als Deutschlands Ziel klar wurde. Der Historiker Martin Gilbert zitiert die Worte des deutschen Generalquartiermeisters Eduard Wagner nach einem Treffen mit dem Stabschef des deutschen Heers: Es sei die „Absicht des Führers und Görings, das polnische Volk zu vernichten und auszurotten“. Polens Reaktion darauf war sowohl kompromisslos als auch bemerkenswert ausgeklügelt – und Karski sollte dabei eine wichtige, heroische Rolle spielen.
Nach dem deutschen Angriff fanden sich Karski und mit ihm einberufene Kameraden rasch von ihrer Einheit getrennt und ohne Führung wieder. Zu ihrer Überraschung stießen sie auf sowjetische Truppen und wurden mit einem Trick gefangen genommen – von dem geheimen Pakt zwischen Russland und Deutschland wusste niemand, auch nicht von der sowjetischen Beteiligung an Polens geplanter Vernichtung. Karski wurde in einen Viehwagen gezwungen und in ein russisches Arbeitslager gebracht; doch es gelang ihm, zu entkommen, indem er die Machthaber überlistete. Dadurch entging er um Haaresbreite dem berüchtigten Massaker von Katyn, wo nicht weniger als 22.000 polnische Offiziere erschossen wurden.
Er entkam – und geriet vom Regen in die Traufe. Entgegen dem, was den Polen vorgetäuscht wurde, war er Teil eines Austauschabkommens zwischen den Nazis und den Sowjets. Die Russen transportierten ihn mit der Eisenbahn zurück zu einem Verteilungslager in Polen, wo ihm wahrscheinlich die Hinrichtung durch die Deutschen bevorstand. Karski war erst Mitte zwanzig, aber nun wurde er schnell erwachsen. Über seine Nazischergen schrieb er: „Zum ersten Mal begegneten mir Brutalität und Unmenschlichkeit in einem Ausmaß, das vollkommen außerhalb der Dimension von allem war, was ich zuvor erlebt hatte.“
„Wir bekamen weder Decken noch Mäntel noch irgendetwas zum Schutz vor dem rauen, feuchten Novemberwetter. Medizinische Behandlung gab es nicht. Hier lernte ich, wie gewöhnlich der Tod sein konnte, und wie leicht er genommen werden konnte.“
Doch bald trieben seine Häscher ihn und andere in einen Zug, der sie zu einem Arbeitslager bringen sollte. Aus diesem Zug gelang ihm erneut die Flucht, diesmal mit anderen polnischen Soldaten, und er ging zu Fuß nach Warschau, das die Nazis inzwischen komplett unter ihren Stiefeln hatten.
Die Stadt, ja ganz Polen war dramatisch verändert, zerbombt fast bis zur Unkenntlichkeit (späteren Schätzungen zufolge wurden in dem Krieg 70 % von Warschaus Architektur zerstört), und das Leben der Menschen war zerrissen. Die Ausführung von Hitlers Plan, die jüdische Bevölkerung auszurotten, hatte im Ernst begonnen und das eingemauerte Warschauer Getto im ärmsten Teil der Stadt war eine ständige Erinnerung an den Horror dieses Vorhabens – ein Mahnmal aus roten Ziegeln.
Karski schloss sich der polnischen Widerstandsbewegung an und wurde für sie zunehmend wichtig. Gemeinsam mit diesem Untergrundnetz arbeitete er ständig verdeckt, nutzte zahlreiche Tarnnamen und gefälschte Ausweispapiere. Mehrere Jahre lang überbrachte er Nachrichten, fungierte als Verbindungsmann und verbreitete Zeitungen zur Hebung der Moral – alles unter den wachsamen Augen von Nazis. In einem Bericht von 1940 schrieb er: „Ich bin bereit, zurückzukommen und in Polen zu bleiben, wenn die Regierung der Ansicht ist, dass ich dem Land von größerem Nutzen wäre. […] Es ist mein Bestreben, Polen unter den schwierigsten Umständen zu dienen.“
Im selben Jahr stellten Gestapo-Offiziere Karski eine Falle und nahmen ihn gefangen, um ihn zu schlagen, zu foltern und zu verhören. Unglaublicherweise gelang ihm wieder die Flucht, dieses Mal aus einem bewachten Krankenhaus. Trotz seines geschwächten Zustands blieb er weiterhin ein zentrales Mitglied des Untergrunds, bis er 1942 den Befehl bekam, getarnt quer durch Europa zu reisen, um den Alliierten Informationen zu bringen, auch über das Warschauer Getto und die Pläne der Nazis für die „Endlösung der Judenfrage“.
Heimlich und vermummt ging Karski in das Getto, wo er viele Gräuel sah. Er schrieb: „Niemals in der Geschichte der Menschheit, niemals irgendwo in den Beziehungen zwischen Menschen hat es irgendetwas gegeben, was mit dem vergleichbar wäre, was der jüdischen Bevölkerung Polens angetan wurde.“ Er beobachtete, wie Juden mit Gewalt in Züge getrieben wurden – und wusste, dass sie hingerichtet werden würden. Wie, konnte er sich allerdings nicht vorstellen. Erst später wurden der ganze Schrecken und die Effizienz der Nazivernichtungslager allgemeiner bekannt.
Er wusste, wie außergewöhnlich die Ereignisse waren, die er sah: „Ich weiß, viele Menschen werden mir nicht glauben, werden mir nicht glauben können, werden denken, dass ich übertreibe oder erfinde. Aber ich habe es gesehen, und es ist nicht übertrieben oder erfunden. […] Alles, was ich sagen kann, ist, dass ich es gesehen habe und dass es die Wahrheit ist.“
Nachdem er das Getto persönlich erlebt hatte, reiste Karski getarnt quer durch das vom Krieg verwüstete Europa. Damit sein Akzent nicht auffiel, gab er vor, Zahnschmerzen zu haben, und als ein wohlmeinender belgischer Kaufmann darauf bestand, dass er sich in einer Station des Deutschen Roten Kreuzes untersuchen ließ, verbargen nur die Spuren der Folterung durch die Gestapo die Tatsache, dass sein Zahnweh vorgetäuscht war.
Nachdem er Europa erfolgreich – wenn auch nicht ohne Zwischenfall – durchquert hatte, erstattete er in London vielen führenden Köpfen Bericht, darunter dem polnischen Premierminister, dem polnischen Exilpräsidenten, dem britischen Außenminister, den Botschaftern der USA und Großbritanniens sowie der UNO-Kommission für Kriegsverbrechen. Dann wurde er in die USA gesandt, wo er unter anderem Präsident Franklin Roosevelt traf. Er berichtete von den Operationen des polnischen Untergrundstaats, den Lebensbedingungen im Krieg, den Gräueln des Warschauer Gettos und der Endlösung der Nazis.
Uns heute kommt es seltsam vor, aber viele glaubten Karski nicht. Erstens konnten sie nicht verstehen, dass ein geheimer polnischer Staat so vollständig und erfolgreich ohne Kollaboration funktionieren konnte. „Die Vorstellung, dass ein Staat – mit einem Parlament, einer Regierung, einer Judikative und einer Armee – normal, aber im Geheimen funktionieren könnte, kam ihnen wie reine Fantasie vor“, schrieb Karski. Und zweitens schienen die Gräuel der Judenvernichtung zu ungeheuerlich, um akzeptiert zu werden. In einem Vortrag an der Stanford University zitierte Karski 1995 Felix Frankfurter, Richter am Obersten Gericht der USA und Berater des Präsidenten – einen in Österreich geborenen, nicht praktizierenden Juden: „Ich habe nicht gesagt, dieser junge Mann habe gelogen. Ich habe gesagt, dass ich nicht glauben konnte, was er mir erzählte. Da gibt es einen Unterschied.“
Während viele damals Zweifel hatten, haben andere die Bedeutung von Karskis Bericht vielleicht rückblickend überzeichnet, sodass der polnische Historiker Adam Puławski dagegenhielt, die Alliierten hätten bereits aus anderen Quellen von Einzelheiten der Endlösung gewusst.
Jedenfalls änderten Karskis Heldentum und sein Erfahrungswissen über die Gräuel nichts an der Politik der Alliierten. Selbst die Bekanntheit in der Öffentlichkeit – Karskis Erinnerungen wurden 1944 in den USA publiziert und vor Kriegsende 400.000-mal verkauft – änderte nichts an der Situation für Polen oder die Juden.
Was sind unsere Werte?
Nach dem Krieg soll Karski gesagt haben: „Ich wollte Millionen retten, und ich konnte keinen einzigen Menschen retten.“ Dennoch waren seine Bemühungen zweifellos heroisch. Inzwischen ist er ein Symbol des polnischen Stolzes und Widerstands geworden. Obgleich er selbst kein Jude war, steht ein Denkmal von ihm vor dem Museum der Geschichte der polnischen Juden in Warschau. In Paris trägt ein Platz seinen Namen und das polnische Parlament Sejm erklärte 2014 zum „Jan-Karski-Jahr“.
Wie bei vielen Helden ranken sich um ihn einige Mythen; manche sind sogar in seriösen Geschichtswerken erschienen. Und doch hatte das, was er erreichen konnte, Grenzen – trotz seines Heldentums. Wie der Historiker Andrew Roberts im Nachwort zur Neuauflage von Karskis Buch (2012) schreibt: „Die verpassten Chancen der Geschichte sind nie herzzerreißender, als wenn man sie auf die Geschichte dieses hoffnungslos heroischen jungen Polen bezieht.“
„Wenn Sie über einen Mann lesen möchten, der mutiger und ehrenhafter war als Jan Karski, hätte ich keine Ahnung, wen ich empfehlen sollte.“
Karski hat viel geleistet und dennoch nicht viel erreicht. In seinen eigenen Augen scheiterte er mit seinen Bemühungen, den Lauf des Kriegs zu verändern. Hier kommt es auf die Perspektive an und es ist lehrreich, dies zu berücksichtigen, wenn man darüber nachdenkt, wie man Helden genereller sehen sollte. Karski tat viele bewundernswerte Dinge, aber er war auch ein Mensch mit Grenzen. Wenn man sein Leben betrachtet, ist Ausgewogenheit vonnöten. Dass es ein Fall verpasster Chancen war, tut seiner Tapferkeit, Selbstlosigkeit und Festigkeit der Überzeugung – seinem gesamten Charakter – keinen Abbruch.
Die weltweiten Probleme – anhaltende Gewalt und Kriege, Klimawandel, Artensterben, geopolitische Konflikte, Hunger und Armut, Gefahren für das Überleben der Menschheit – können überwältigend scheinen. Diese Erkenntnis sollte uns demütig machen. Eine besonders tragische Episode während seiner Zeit im polnischen Untergrund kommentierte Karski so: „Die Welt ist kalt und unfreundlich geworden, Völker und Menschen getrennt durch riesige Abgründe von Gleichgültigkeit, Selbstsucht und Bequemlichkeit. Nur allzu deutlich zeigt sie, dass die Herrschaft gegenseitiger Verdächtigung, Entfremdung und fehlender Mitmenschlichkeit so weit vorangeschritten ist, dass selbst die, die sich Abhilfe wünschen und sich mit jedem möglichen Mittel darum bemühen, machtlos sind und jämmerlich wenig erreichen können.“
Das ist eine pessimistische Sicht – Jahrzehnte später aber schwerlich von der Hand zu weisen. Oft kann es den Anschein haben, dass wir in einer Welt mit unlösbaren Problemen leben. Es hat sich gezeigt, dass die Erde und die gesamte Welt, in der wir wohnen, zu viel für uns ist. Wir können sie nicht kontrollieren, nicht einmal vollkommen verstehen. Auf Helden zu schauen und uns an ihren Leistungen zu erfreuen – seien sie aktuell, historisch oder fiktiv –, kann ein willkommener Balsam sein. Aber wenn das alles ist, dann ist das ein Jammer.
Unsere Helden sind ein Spiegelbild unserer Werte. Sie sind ein Nebenprodukt dessen, was uns wichtig ist. Karski ist für viele trotz seines Scheiterns ein Held. Was wir über seinen Charakter und seinen selbstlosen Einsatz für eine große Sache wissen, macht ihn in unseren Augen einer solchen Ehre würdig. Andere mögen dagegen unsere unvergängliche Hochachtung wegen ihrer Erfolge erringen, mit weniger Hochachtung für ihren zugrunde liegenden Charakter.
Diese Unterscheidung hat mehr mit uns zu tun als mit ihnen. Es ist wichtig, dass wir unsere Helden sorgsam und klug wählen. Heldentum ist etwas Wertvolles und es wäre schade, es an der falschen Stelle anzuwenden. Im Wesentlichen gibt ein wahrer Held ein Beispiel, dem man folgen, Ehre erweisen oder nacheifern kann – ein Beispiel für das Bemühen, allen Widrigkeiten zum Trotz das Richtige zu tun (ob andere zusehen oder nicht). Bevor man andere als Helden hochhält, kann es deshalb hilfreich sein, die weiteren Umstände ihres Lebens zu verstehen. Es kommt darauf an, zwischen der Person und dem Heldenumhang zu unterscheiden, aber der Wert des Hauptaugenmerks auf den Charakter wird oft unterschätzt, besonders da positive Beispiele ebenso zentral für gute Elternschaft und Mentorschaft sind wie für Heldentum. Sind unsere Helden – sind wir – wegen der Werte und des moralischen Charakters, für die sie oder wir ein Beispiel geben, die Art Menschen, denen andere nacheifern wollen?
Es lohnt sich, dies zu bedenken, wenn wir mit einer Welt umgehen, die immer vernetzter und immer mehr mit Wissen und Meinungen überschwemmt wird. Das kann uns nicht nur helfen, unsere Beziehungen zu unseren fernen und längst verstorbenen Helden zu steuern und zu regeln; es kann uns helfen, besser zu beurteilen, was für ein Beispiel wir selbst denen geben, die zu uns aufschauen.