Die Abstammung des Darwinismus
Wie wurde die „natürliche Zuchtwahl“ (Selektion) zur bei uns vorherrschenden Sicht unseres Ursprungs?
Nancy Hanks-Lincoln ahnte vor 200 Jahren in Kentucky nicht, dass sie gerade den 16. Präsidenten der Vereinigten Staaten zur Welt gebracht hatte. Abraham sollte als großer Einiger in die Geschichte eingehen – der Mann, der die Union durch die Wirren des Bürgerkrieges hindurch zusammenhielt. Lincolns Abschaffung der Sklaverei war nicht ohne Gegner, doch wie die Geschichte gezeigt hat, öffnete er die Tür zu einer neuen Epoche.
Am selben Tag des Jahres 1809 gebar Susannah Wedgwood-Darwin in Shrewsbury, England, ebenfalls einen Sohn. Charles wurde in eine reservierte und steife Kultur hineingeboren, die in der viktorianischen Epoche ihren Höhepunkt fand, und auch er focht die damals herrschende Meinung an. In einer Welt, in der der Begriff Agnostiker gerade erst aufkam, sollte Darwin die Vorstellungen seiner Zeitgenossen von Evolutionismus umkrempeln. Seine Argumentation ließ das Mischmasch der Theorien von Sekundärursachen hinter sich – wissenschaftliche Erklärungen, die eine dominante Spezies Mensch als Produkt übernatürlichen Eingreifens akzeptierten – und eliminierte in seinen Theorien sowohl die Notwendigkeit als auch den Zweck einer Ersten Ursache. Aus seinem Studium der Natur, kombiniert mit seiner berühmten Reise zu den Galapagosinseln und um die Welt, gewann Darwin eine Erklärung der Einheit und gleichzeitig der Vielfalt des Lebens.
Darwin veränderte die Inseln zwar nicht, dafür aber das, was die Leute über sie dachten. Das, was die Leute dachten, war in der Zeit der großen Gehirne sehr wichtig.
Bloße Meinungen bestimmten die Handlungen der Leute mindestens genauso wie beweisbare Tatsachen, und sie waren immer wieder Gegenstand heftiger Umschwünge, wie sie bei Tatsachen niemals auftreten konnten. So konnten die Galapagosinseln von einem Augenblick zum anderen erst als die Hölle, dann als das Paradies auf Erden gelten; (…) das Universum, das eben noch die Schöpfung des allmächtigen Gottes gewesen war, wurde zum Ergebnis einer gewaltigen Explosion – und so weiter, und so weiter.
VIELE ZWEIGE, EIN STAMMBAUM
Der Begriff „Abstammung mit Abwandlung“ war in Darwins Denken von höchster Bedeutung. Er bemerkte, dass lebende Organismen von den Anfängen des Lebens an durch Veränderungen der Umweltbedingungen gezwungen waren, sich zu verändern, um zu überleben. Die natürliche Selektion war seine Erklärung dafür, wie lebende Organismen sich automatisch anpassen konnten, ohne dass ein Schöpfer oder Planer gebraucht wurde. Aus dieser Perspektive war alles Leben auf der Erde, einschließlich der Menschen, aus einem gemeinsamen Vorfahren entstanden und hatte sich durch Zeit und Zufall diversifiziert – bis zu der ungeheuren Zahl von Arten, die es heute gibt. Doch der Ursprung des Lebens ist heute ein ebenso ungelöstes Mysterium wie zu Darwins Zeit, als selbst die Zelltheorie noch in den Kinderschuhen steckte.
Die Vorstellung von der Evolution des Lebens stammt nicht erst von Darwin; es gibt sie seit Jahrtausenden, und im 19. Jahrhundert herrschte kaum noch Zweifel daran, dass sich das Leben im Lauf der Erdgeschichte verändert hatte und weiterhin veränderte. Die Frage war: wie und warum? Die zeitgenössischen Auffassungen von Evolution, z. B. von J. B. Lamarck, Georges Cuvier, Louis Agassiz und Robert Chambers, gingen alle davon aus, dass der Prozess in irgendeiner Weise durch Gott geordnet und/oder zielgerichtet sei.
Es war diese Lehre von Planung und Absicht – die teleologische Auffassung –, die für Darwin entschieden falsch war. Er bestand darauf, dass Selektion ein nicht gelenkter, natürlicher Prozess sei, der kein bestimmtes Ziel verfolge. Menschen sind seiner Meinung nach nicht die Krone der Schöpfung Gottes; wir sind vielmehr ein Zweig an einem Astende des großen Lebensbaumes Evolution.
Das Prinzip der natürlichen Evolution – das eher Axiom als Theorie ist – kodifiziert eine recht einfache Beobachtung: Die Individuen, die am besten an ihre Umwelt angepasst sind, bringen mehr überlebende Nachkommen hervor. Mit genug Zeit, so glaubte Darwin, würden sich aus diesem Prozess allmählich neue Arten entwickeln. Dieses Abstammungsmuster in Form einer Weggabelung oder Abzweigung ist das Fundament der heutigen Evolutionstheorie geworden. Es ist das einende Zentralthema, das zu offenbaren scheint, was das geologische Gedächtnis in Fossilien und auch das genetische Gedächtnis in der DNS allen Lebens bedeuten.
WIE DARWIN DAS LEBEN SAH
Darwin verwendete zwar überraschend viele Formulierungen, die einen Zweck und Nutzen des Anpassungsprozesses anklingen lassen, doch konnte er die unveränderlichen „Arten“ und den kurzen Zeitraum ihrer Schöpfung, den er dem Bericht der Genesis entnahm, nicht mit seiner Erfahrung der künstlichen Selektion, d. h. des Züchtens, in Einklang bringen. Auch Zeugnisse der langen geologischen Geschichte der Erde schienen den Bericht der Genesis zu desavouieren. Darwin kombinierte einen langen Zeitraum, wie von Charles Lyells in Principles of Geology (1830) vertreten, mit dem „malthusischen Dilemma“ – zu viele Münder und zu wenig zu essen – und deutete den Kampf ums Überleben, den er in der Welt beobachtete, als die Kraft der Konkurrenz, die das Leben vorantrieb. Bestätigung erhielt er von anderen Forschern, die zu dem gleichen Schluss gelangt waren. Alfred Wallace, der in den Tropen arbeitete, leitete eigenständig eine fast identische Formel ab. Vor allem aber bestand Darwin im Gegensatz zu der deistischen Sicht seiner Zeit darauf, dass die Welt, die er sah, mit Verfall, Konkurrenz und dem Überleben des am besten Angepassten nicht das Werk des liebenden, fürsorglichen Schöpfers der Schrift sein konnte.
„Wenn wir über diesen Kampf ums Dasein nachdenken, so mögen wir uns mit dem festen Glauben trösten, dass der Krieg der Natur nicht ununterbrochen ist, dass keine Furcht gefühlt wird, dass der Tod im Allgemeinen schnell ist, und dass der Kräftige, der Gesunde und Glückliche überlebt und sich vermehrt.“
„Der Versuch, Darwin beim Thema Religion festzulegen, ist vergeblich“, sagte Peter J. Bowler zu Vision, „denn er selbst gab zu, verwirrt zu sein, und er schwankte hin und her zwischen echtem Skeptizismus und einer vagen Hoffnung, dass man hinter all den Leiden und Ungewissheiten der Evolution einen letzten Sinn erkennen könnte.“ Bowler ist Biologiehistoriker und hat viel über Darwins Einfluss geschrieben. Er fuhr fort: „Der Tod seiner Tochter machte ihm sehr zu schaffen; er vernichtete den letzten Rest eines Glaubens an einen persönlichen, fürsorglichen Gott – doch das passte zu seiner zunehmenden Empfindung der Natur als grausam. Angesichts dieser Grausamkeit musste ein Gott von der persönlichen Verantwortung für die Details freigesprochen werden (indem man ihn auf eine ferne Ers-te Ursache reduzierte). Wenn man aber zu weit in diese Richtung geht, hat es dann überhaupt noch einen Sinn, an sie/ihn zu glauben?“
Das ist allerdings die Frage. Wenn das Universum auf Autopilot läuft, wozu dann Gott? Anhänger dieser „großartigen Ansicht“ vom Leben, wie Darwin schrieb, sind seit Langem fest überzeugt, dass Über die Entstehung der Arten durch natürliche Zuchtwahl die Erforschung der Natur aus der Kirche heraus und ganz in das Labor der Aufklärung geholt habe – aus dem Aberglauben in das Licht objektiver wissenschaftlicher Untersuchung.
Es ist wahr, dass Deisten, die damals ständig die Darwinisten bekriegten (und es noch immer tun), häufig an vorgefassten Vorstellungen festhielten, die selbst das aufrichtigste Bestreben, die Welt und die Menschheit zu verstehen, verzerrten. Von Menschen erfundene Lehren über die unsterbliche Seele, die Dreifaltigkeit und die Hölle als Ort ewigen Leidens für die Nichtbekehrten – all dies sind Beispiele für tiefe Glaubensüberzeugungen, die einer biblischen Basis entbehren. So argumentieren Kritiker des Darwinismus, die auf einen Young-Earth-Kreationismus oder wenigstens einen wieder mehr von Absicht bestimmten Evolutionismus drängen, oft eher mit Meinungsäußerungen als mit Substanz. Obgleich sie sich als Beauftragte Gottes sehen, wenn sie zur Rückkehr zum biblischen Fundament aufrufen, sind sie häufig irregeleitet und machen den Schöpfer zu einem selbst ausgedachten Götzen (vgl. „Scheiterhaufen für einen Gott aus Stroh“ in der Ausgabe Winter 2000).
Aber natürlich kann die Wissenschaft selbst etwas sehr Ähnliches sein wie Religion: ein leidenschaftliches Streben, bei dem die darin Engagierten oft von ihren eigenen vorgefassten Meinungen und Erwartungen irregeleitet werden.
WISSENSCHAFT ALS PROTEKTION
Im 18. und 19. Jahrhundert, als Wissenschaft in England noch ein Club für Gentlemen war, begann sie gerade, sich die materialistische Philosophie zu eigen zu machen, die heute die Berufswissenschaftler beherrscht. Die Fragen wurden vielleicht wissenschaftlich formuliert, in der Sprache der Beobachtung, Hypothese und Theorie, doch die meisten Forscher hatten eine Form von deistischer Weltsicht.
„Es ist wahrscheinlich fair, zu sagen, dass die meisten Denker des 19. Jahrhunderts, selbst die Agnostiker, die Vorstellung einer Ers-ten Ursache akzeptierten“, bemerkte Bowler; „aber die Agnostiker sagten: ,Die Welt gibt uns keinen Anhaltspunkt dafür, was diese Ursache ist.‘“
Ihm zufolge könnte diese Sichtweise ein Erbe der ersten Anfänge wissenschaftlicher Organisationen sein. Die erste dieser Art, die Royal Society of London, wurde 1660 gegründet. Protegiert durch Charles II., begann sie bald, Wissenschaftsberater der Krone zu stellen und den sozialen Status quo zu stützen. Laut Bowler mussten Mitglieder der Royal Society „zeigen, dass ihre wissenschaftlichen Aktivitäten nicht die Stabilität der traditionellen Religion gefährdeten“. Wenn soziale Konstrukte (wie die Legitimität der Monarchie) Bestandteile der natürlichen, gottgegebenen Ordnung waren, dann durfte nichts getan werden, das die Ordnung des Schöpfers untergraben konnte. In Einklang mit der Gesellschaftsordnung ihrer Zeit nahmen die gelehrten Gentlemen von den Wissenschaften die Aussage des Paulus ernst, „Gottes unsichtbares Wesen, das ist seine ewige Kraft und Gottheit“ (Römer 1, 20), sei aus der natürlichen Ordnung ersichtlich, selbst wenn sie ihr fälschlicherweise einen politischen Sinn gaben.
„Dürfen wir uns daher wundern, (…) wenn die Naturprodukte einen weit ,echteren‘ Charakter als die des Menschen haben, wenn sie den verwickeltsten Lebensbedingungen unendlich besser angepasst sind und das Gepräge einer weit höheren Meisterschaft an sich tragen?“
Wissenschaft konnte dann als ein Weg gesehen werden, Gottes Natur zu erkunden – als Naturtheologie. Im frühen 18. Jahrhundert schien es naheliegend zu sein, zunächst ein System zur Klassifizierung lebender Organismen zu entwickeln, und das sah Carl von Linné als seine Aufgabe. Heute gilt er als Vater der Taxonomie, da er das zweiteilige Namenssystem mit Gattung und Art schuf. Linné schrieb: „Wenn der Schöpfer diesen Erdball ausgestattet hat wie ein Museum, mit den bewunderungswürdigsten Beweisen seiner Weisheit und Macht, (…) so folgt daraus, dass der Mensch dafür geschaffen ist, die Werke des Schöpfers zu erforschen, damit er in ihnen die offenkundigen Spuren göttlicher Weisheit erkenne“ (zitiert von John Hedley Brooke in Science and Religion: Some Historical Perspectives, 1991). Obgleich die Aufklärung in der Astronomie einer Revolution gleichkam, die mit der Vorstellung von der Erde als Zentrum des Weltalls aufräumte, blieb der Homo sapiens der biologische Mittelpunkt des Kosmos. Und so, wie wir Menschen keine wesentlichen Veränderungen unserer Spezies erlebt haben, ging Linné davon aus, dass alle Arten fest seien. Zwar akzeptierte er später die Möglichkeit der Hybridisierung von Arten, doch implizierte der Ausdruck „ein jeder nach seiner Art“ (1. Mose 1) eine abgeschlossene biologische Schöpfung.
UNNATÜRLICHE THEOLOGIE
In dieser Weise ist unsere Welt, wie der Theologe William Paley im frühen 19. Jahrhundert in Natural Theology schrieb, das Ergebnis von „benevolent design“ – wohlwollender Planung oder Absicht –, wie eine fein gearbeitete Uhr. „Und fürwahr! Er ist nicht mißlungen dieser Plan“, schrieb Paley. „Es ist eine glückliche Welt! Luft, Erde, Wasser wimmeln von fröhlichen Geschöpfen. Wohin ich mein Auge (…) wende, erblicke ich Myriaden von Wesen, die der Lust des Daseyns genießen.“ [Deutsch von Hermann Hauff, 1837]
Wenn das wirklich so ist, fragte sich Darwin, warum dann die Veränderung oder Transmutation, die sich an Fossilien ablesen lässt? Dies führte zu Fragen nach den vielen ausgestorbenen Arten von Geschöpfen. Warum gab es so viel Tod und Verfall? Anders ausgedrückt: Warum sollten so viele Teile einer perfekt geplanten Uhr weggeworfen werden?
Darwin setzte seine Erkenntnisse in Bezug zu der Fähigkeit lebender Organismen, sich exponentiell zu vermehren und dadurch ihre Nahrungsquellen zu erschöpfen (eine Tatsache, die er von Thomas Malthus hatte). Dies musste zu einem unvermeidlichen Kampf ums Überleben führen. Doch wenn der durchschnittliche Naturforscher jener Zeit die theologische Ironie eines solchen Kampfes überhaupt erkannte, argumentierte er einfach, das gehöre zu Gottes Generalplan.
Dass Darwin diese Ironie nicht akzeptierte, war berechtigt, doch war er übereifrig in seiner Reaktion. Er erkannte, dass ein Bindeglied fehlte, um die Beziehung eines liebenden Schöpfers zu einer Welt zu verstehen, wo alles letztlich auf den Kampf ums Überleben hinausläuft. Doch statt die gängige, von der Naturtheologie vertretene Sicht von Gottes Handeln in der Welt zu hinterfragen, klammerte er Gott ganz aus.
Es gibt jedoch Bibelstellen, die dieses sehr reale fehlende Bindeglied deutlich erklären. Sie offenbaren, dass die Welt unter einem trügerischen, destruktiven Einfluss leidet – einem anderen Geist, der gegen die Liebe des wahren Schöpfers allen Lebens arbeitet. Beide Geister sind in der Welt aktiv, aber mit entgegengesetzten Absichten. Darwin verschmolz die beiden und konnte einen Gott, der die Schöpfung in der Genesis „gut“ und „sehr gut“ genannt hatte, einfach nicht mit der Zerstörung in Einklang bringen, die er überall in der Natur beobachtete und dokumentierte. Die Heilige Schrift zeigt, dass das Universum und die Schöpfung, deren Gipfel der Mensch ist, physisch und somit begrenzt waren; Tod und Verfall waren Bestandteile des Plans. Aber sie zeigt auch deutlich, dass der Geist Gottes nicht der Geist der Zerstörung ist.
Die Heilige Schrift spricht die Fragen an, mit denen Darwin rang; hätte er sie in ihrer ganzen Fülle bedacht, hätte er vielleicht den zerstörerischen Faktor in der materiellen Schöpfung als Symptom statt als bleibenden Zustand erkannt. Die Lösung ist nicht die Beseitigung des Schöpfers, sondern die Beseitigung des bösen Einflusses, der die Schöpfung drangsaliert, gefolgt von einer Wiederherstellung des Guten. Eine solche Erneuerung wird das irdische Reich Gottes mit sich bringen; Gott verheißt für diese Ära die Wiederherstellung des „Guten“, das im Buch Genesis beschrieben ist (1. Mose 1, 10, 12, 18, 21, 25, 31; Apostelgeschichte 3, 20-21; Offenbarung 21, 4-5). Darwins großartiges biologisches Verständnis verband sich bedauerlicherweise mit theologischem Irrtum und brachte ihn auf den üblichen Irrweg: die leidige Praxis, den souveränen und liebenden Schöpfer aus dem Bild zu drängen.
Darwins Entgegnung an seine Kritiker in Bezug auf die Rolle der Abwandlung in seiner Theorie illustriert den gleichen Fehler, den er selbst machte, indem er Gott ausklammerte. „Sie geben Abänderung als vera causa in einem Falle zu und verwerfen solche willkürlich im andern, ohne den Grund der Verschiedenheit in beiden Fällen nachzuweisen“ [deutsch von H. G. Bronn, 1860], schrieb er in der letzten Auflage von Entstehung der Arten. Ersetzt man „Abänderung“ durch „Gott“, so trifft der Satz auch zu: Diejenigen, die Gottes Rolle in einer Situation anerkennen, verwerfen sie oft willkürlich in einer anderen. Doch eine Fehldeutung der Beziehung des Schöpfers zur gegenwärtigen Welt berechtigt nicht dazu, einfach seine Existenz komplett zu streichen. Letztlich waren Darwins Worte daher richtiger und für weitaus mehr gültig, als er sich vorstellte: „Der Tag wird kommen, wo man dies als einen eigentümlichen Beleg für die Blindheit vorgefasster Meinung anführen wird.“
ÜBER DIE ENTSTEHUNG DER ARTEN HINAUS
Darwins 200. Geburtstag und der 150. Jahrestag des Erscheinens seines bahnbrechenden Buches Über die Entstehung der Arten durch natürliche Zuchtwahl waren 2009 in fast jeder größeren Zeitschrift Anlass für eine Titelstory. Es war ein Jahr, in dem der Evolutionist gefeiert wurde. Von der Boulevardpresse bis hin zum National Geographic wurde darüber geschrieben, was Darwin über die Natur entweder wusste oder nicht wusste. Seine Fehler wurden im Rahmen dieser Berichterstattung jedoch weitgehend ignoriert; nur seine Lehren über zufällige Abwandlung und das Überleben des am besten Angepassten haben Fuß gefasst.
Die Fäden der natürlichen Selektion sind fest im modernen Denken verwoben, und das ist verständlich, denn niemand ist viele Denkschritte von den Implikationen seiner Theorie entfernt. Praktisch jedes Thema wird im Rahmen der natürlichen Selektion diskutiert – die Nature/Nurture-Debatte, Verhalten, Anpassung, Partnersuche, Antibiotikaresistenz, Lieblingsfarbe, Tarnung, das Steißbein, Homologie, regenerative Medizin, Säuglingspflege, kulturelle Entwicklung, selbst Religion.
Für diejenigen, die in der unpersönlichen Welt seiner Lehren eine komfortable Unabhängigkeit finden, ist Charles Darwin eine Art Sklavenbefreier der Biologie. Das Lager der harten Atheisten ruft weiterhin aus, seine Theorie der natürlichen Selektion von 1859 habe uns aus der Versklavung durch religiöse Dogmen befreit. Selbst bei denen, die nicht geneigt sind, sich mit den religiösen Aspekten der Evolutionstheorie auseinanderzusetzen, ist Darwins Entstehung der Arten als eine Art historischer Wendepunkt anerkannt, der die Praxis der Wissenschaft selbst verändert hat. Dennoch haben das Unbehagen und die Auseinandersetzungen über eine Theorie, derzufolge alles Leben, auch unsere eigene Spezies, einfach das Zufallsprodukt unpersönlicher Naturkräfte ist, zu einer Abkoppelung geführt. Wir sind soziale Wesen und in eine solche Vielzahl von Beziehungen verwoben, dass es schwerfällt, zu glauben, wir seien nicht alle ein Teil von etwas mit höherer Bedeutung – etwas, das evolutionäre Neuheit transzendiert.
„Es ist wahrlich eine großartige Ansicht, dass der Schöpfer den Keim alles Lebens, das uns umgibt, nur wenigen oder nur einer einzigen Form eingehaucht hat, und dass (…) aus so einfachem Anfange sich eine endlose Reihe der schönsten und wundervollsten Formen entwickelt hat und noch immer entwickelt.“
Natürlich sind die Arten mit genetischen Mechanismen ausgestattet, die ihnen Anpassungen an veränderte Umweltbedingungen ermöglichen. In den letzten Jahrzehnten haben wir sogar den genetischen Code entdeckt, der dieser Anpassungsfähigkeit zugrunde liegt. Ob man an künstliche, von Menschen gesteuerte Selektion durch Kreuzungen denkt, die Darwin als augenfälligen Beweis der Evolution anführte, oder an die natürliche Entwicklung neuer Stämme von Mikroorganismen und Krankheiten – es besteht kein Zweifel, dass Leben veränderlich und anpassungsfähig ist. Wenn dies alles wäre, das der Darwinismus impliziert, gäbe es kaum oder gar keine Kontroversen. Problematisch ist, dass diese Wahrheiten zu Beweisen gegen die Existenz eines Schöpfers gemacht werden.
EIN GEWIRR AUS THEORIE UND THEOLOGIE
Wie schon zu seinen Lebzeiten sind Charles Darwins Lehren ein Signalfeuer, das sowohl die Verfechter als auch die Gegner des Evolutionismus anzieht. Wie der herausragende Biologe George Gaylord Simpson in einem modernen Vorwort zum Ursprung der Arten unabsichtlich bestätigt, bleibt die natürliche Selektion ein Prozess, der in seine eigene Art Teleologie eingebettet ist – Vorstellungen von Zweck und Absicht. Er schrieb über „die eine wirklich lenkende Kraft in der Evolution, die Erklärung des größten aller evolutionären Probleme: die komplexe Anpassung jedes Organismus an seine ganz eigene Lebensweise“. Es ging Simpson nicht darum, ein Argument für Gott einzuschmuggeln; Darwins Unfähigkeit, Natur und Bibel in Einklang zu bringen, hat sich so übertragen, dass die meisten glauben, sie seien unvereinbar.
Ein Wissenschaftler, der sich seit Jahrzehnten um die Versöhnung von Darwinismus und Glauben bemüht, ist Sir John Polkinghorne. Als theoretischer Physiker und anglikanischer Priester glaubt er, dass eine evolutionäre Sichtweise mit der Bibel vereinbar ist, sofern die Selektion dem nichtteleologischen Ansatz Darwins treu bleibt. „Wir leben nicht in einer Art göttlichem Marionettentheater; Gott lässt zu, dass Geschöpfe sie selbst sind und selbst etwas aus sich machen“, sagte er in einem Interview mit Vision. „Das ist die Art Welt, in der wir leben“ (siehe „Löcher im Netz“ Interview in dieser Ausgabe).
Durch eine Verbindung des aktuellen Neo-Darwinismus (der moderne Genetik und natürliche Selektion kombiniert) mit Theologie findet Polkinghorne einen Sinn in der evolutionären „Potenzialität“ des Lebens, sich selbst zu schaffen. Doch ist der Bericht der Genesis elastisch genug, um diese Verbindung zuzulassen? Wenn wir die Welt so akzeptieren, wie sie durch die physische Begrenztheit einer darwinistischen Brille zu sehen ist, und dann zu dem Schluss kommen, die einzige Erklärung für die molekularen und genetischen Ähnlichkeiten zwischen lebenden Organismen sei Zufall oder eine Folge roher Überlebensfähigkeit, bleiben wir ebenso verwirrt und kurzsichtig wie Darwin.
Der Physiker und Philosoph Joseph Henry Green meinte, die wissenschaftliche Weltsicht müsse sowohl Natürliches als auch Übernatürliches integrieren können: Es gebe zwei Wege, den Sinn des Lebens zu entdecken. Man dürfe nicht den Fehler machen, diese Wege ineinander zu verschlingen. In den „Hunterian Lectures“ von 1827, vor Darwins Revolution und der Emanzipation der Wissenschaft von der Realität Gottes, sagte Green: „Es gibt zwei Möglichkeiten, eine Naturgeschichte anzugehen. Die ers-te beginnt mit dem höchsten, bei der wahren und absoluten Ersten Ursache, auf der alles beruht; und ich muss wohl kaum hinzufügen, dass ein inspirierter Historiker erforderlich ist, um eine solche Geschichte zustande zu bringen.“ Die zweite Möglichkeit „beginnt mit dem Nied-rigsten und nimmt als erste Grundlagen und Materialien die allgemeinsten Merkmale und Eigenschaften der Gegenstände um uns herum – zusammen mit den aktiven Eigenschaften, die aus diesen Fakten geschlossen oder durch unmittelbares Bewusstsein erkannt werden – mit anderen Worten, sie beginnt bei der Natur.“
Obgleich häufig als transzendentalistisch abgetan, ist Greens Schlussfolgerung heute ebenso weise wie vor dem Siegeszug des Darwinismus: Wissen über die physische Welt muss nicht den Glauben an einen Schöpfer ausstechen. „Nichts kann unvernünftiger oder ungerechter sein, als diese beiden Formen zu vermengen oder zu verwechseln“, schrieb er. „Es wäre ebenso anmaßend wie unvernünftig, die Überlieferungen der einen anhand der fluktuierenden Ableitungen der anderen zu beurteilen. Andererseits könnte eine Deutung der realen oder vermeintlichen Fakten der letzteren mit dem Ziel, Einklang mit der Aussage der ers-teren zu erreichen, nur dazu tendieren, die Wissenschaft durch eine Unterbrechung ihres Fortschritts daran zu hindern, jene höhere Ebene zu erreichen, von der aus – das müssen wir nicht bezweifeln – beide in vollkommener Harmonie zu sehen sein werden“ (Betonung vom Autor).
Wie die Bibel verstanden und angewendet wird, unterliegt der menschlichen Auslegung und einer Art Rezeptionsgeschichte; wir lesen sie im Licht unserer eigenen Erfahrungen, vorgefassten Meinungen und wissenschaftlichen Behauptungen, statt dass wir sie für sich selbst sprechen lassen. Dies ist sicherlich der Grund für Darwins Problem, das wir heute geerbt haben. Es ist nicht unvorstellbar, dass eine ehrliche Neubewertung unserer Wissenschaft wie auch unserer Religion notwendig sein wird, um die Harmonie wiederzufinden, die zwischen Schöpfer und Schöpfung herrscht. Unsere „großen Gehirne“, wie Kurt Vonnegut schrieb, bringen uns oft in Schwierigkeiten. Wir müssen unser Denken entwirren, um die wahre Einheit des Lebens zu entdecken.