Die Finger im Zaum halten
Soziale Medien und Internetforen bieten bequeme Möglichkeiten, Gedanken in Worte zu fassen – auch bedauerliche oder gemeine Worte. Die digitalen Plattformen mögen recht neu sein, doch die Prinzipien, die uns leiten sollten, wenn wir dort etwas schreiben, sind es nicht.
„Keine Schneeflocke in einer Lawine fühlt sich je verantwortlich“, schrieb der polnische Dichter und Aphoristiker Stanislaw Jerzy Lec.
Dieses anschauliche Bild verwendete der Journalist und Schriftsteller Jon Ronson 2015 in seinem Buch über das wachsende Problem des Bloßstellens im Internet. „Wenn man Demütigungen abschießt wie aus ferngesteuerten Drohnen, muss man sich offenbar keine Gedanken darüber machen, wie zerstörerisch unsere kollektive Macht sein könnte. Die Schneeflocke muss sich nie für die Lawine verantwortlich fühlen.“
Mit seinem Buch So You’ve Been Publicly Shamed wollte Ronson ursprünglich die Nutzung von Twitter und anderen sozialen Medien als eine Kraft dokumentieren, von der eine Art „Demokratisierung der Justiz“ ausgehen könnte. Mit solchen Medien können gewöhnliche Menschen plötzlich eine enorme Macht gegen Personen und Organisationen ausüben, die in der herkömmlichen sozialen Hierarchie weit über ihnen stehen. Was Ronson feststellte, wich allerdings stark von seiner ursprünglichen These ab. Oder besser: Er stellte fest, dass seine These im Kern korrekt war, dass aber nicht nur skrupellose Konzerne verdientermaßen aufs Korn genommen werden, sondern ebenso auch Privatpersonen, die einfach einen Fauxpas begangen haben.
Wieder und wieder dokumentiert Ronson Situationen, in denen gewöhnliche Menschen durch Bloßstellung in sozialen Medien attackiert und nahezu vernichtet wurden. In einem Fall versuchte eine Computerprogrammiererin, zwei männliche Programmierer bloßzustellen, weil sie als Zuhörer bei einer Technikkonferenz leise einen sexuell anzüglichen Witz gemacht und gefeixt hatten. In diesem Fall wurden sowohl die Initiatorin als auch die Zielscheiben der Bloßstellung in den sozialen Medien mit verbalen Verunglimpfungen, Hohn, Drohungen und anderweitigen Feindseligkeiten überhäuft. Als einer der männlichen Programmierer entlassen wurde, führten Sympathisanten einen Rachefeldzug gegen die Frau, die ihn bloßgestellt hatte: Das Unternehmen, in dem sie arbeitete, wurde zum Ziel eines DdoS-Angriffs (dabei wird ein Computernetz absichtlich mit Daten überflutet und dadurch lahmgelegt); der Angriff werde aufhören, sobald die Frau entlassen werde – und so geschah es auch. In zwei weiteren Fällen erhielten junge Frauen Gewaltandrohungen, nachdem sie geschmacklose Witze gepostet hatten, die eine auf Twitter und die andere auf Facebook. Auch sie wurden von ihren Arbeitgebern entlassen und fühlten sich, als wären sie für ihr ganzes Leben mit einer modernen Entsprechung von Nathaniel Hawthornes scharlachrotem Buchstaben gezeichnet.
Abgesehen von der Frage, wer in solchen Fällen im Recht oder im Unrecht ist, zeigt sich bei diesen öffentlichen Bloßstellungen eine Gemeinsamkeit: Die Sprache der Angreifer ist überwältigend brutal und obszön, und die Angegriffenen werden bedroht. Urplötzlich werden vollkommen Fremde als Inkarnation des Bösen dargestellt und von einer virtuellen „Mistgabelmeute“ attackiert – mit diesem Ausdruck beschrieb der Journalist Michael Moynihan die öffentliche Zerfleischung des Wissenschaftsjournalisten Jonah Lehrer im Jahr 2012, nachdem Moynihan aufgedeckt hatte, dass dieser in seinem Buch Imagine: How Creativity Works Zitate getürkt hatte.
Eine ähnlich übersteigerte Sprache und wütende Wortgefechte zwischen Fremden finden sich überall im Internet auf den Seiten für Kommentare. Ob die Kommentare von Leuten stammen, die sich selbst als Trolle identifizieren und Spaß daran haben, Ärger zu machen, oder von solchen, die einfach ihre Ansichten etwas nachdrücklicher und etwas weniger taktvoll zum Ausdruck bringen, als sie es vielleicht in einer persönlichen Unterredung täten – häufig mangelt es in diesen Threads erschreckend an Anstand. Angesichts des Tempos, mit dem eine Diskussion zu einer Serie von Attacken ad hominem wird, prägte der Rechtsanwalt Mike Godwin 1990 einen Satz, der inzwischen als Godwins Gesetz bekannt ist: „Mit zunehmender Länge einer Online-Diskussion nähert sich die Wahrscheinlichkeit für einen Vergleich mit den Nazis oder Hitler dem Wert Eins an.“
„In jedem Fall trivialisierten die Vergleiche den Schrecken des Holocaust und die soziale Pathologie der Nazis. Es war eine Trivialisierung, die ich ebenso unlogisch […] wie anstößig fand.“
Viele größere Websites verlangen, dass man ein Konto einrichtet und sich einloggt, wenn man sich an den Diskussionen zu einem Artikel beteiligen will. Das reduziert die Anonymität zu einem gewissen Teil und macht die Urheber von Kommentaren eher auffindbar, doch ist es noch immer möglich, dass Kommentatoren eine Art öffentliches Spektakel daraus machen, um die Wette zu pöbeln und sich mit verbalen Granaten zu bewerfen. Sie können sogar regelrechte Kriege über eine Vielzahl von Artikeln gegeneinander führen, bei denen sie sich bewusst zu neuen mit Worten geführten Schlachten treffen. Dass Kommentarseiten, auf denen etwas los ist, Besucher-„Traffic“ anziehen, die Dauer der Besuche verlängern und somit Werbeeinnahmen steigern können, bringt die Anbieter der Websites in eine heikle Lage: Moderatoren einzusetzen, um die Kommentarseiten sauber zu halten, mag den Ton der Diskussionen verbessern, hat aber die Nebenwirkung, dass das Gewinnpotenzial gesenkt und dadurch die Tragfähigkeit des Internetauftritts insgesamt geschwächt wird.
Massenhysterie
Gibt es irgendwelche guten Theorien darüber, was da im Internet geschieht? Woran liegt es, dass sich Internetkommunikationen wie Krawalle anfühlen können?
Über die Ursachen von „Massenhysterie“ wurde und wird viel diskutiert, auch darüber, ob Hysterie nicht sogar kennzeichnend für das Verhalten von Massen ist. Der Theorie der Deindividuation (Verlust der Individualität) zufolge schwindet in Gruppen das Ichbewusstsein, und in einem solchen Zustand tun und sagen Gruppenmitglieder Dinge, die sie sonst nicht tun oder sagen würden.
Wie auch immer der genaue Mechanismus abläuft – es gibt eine Fülle von Beispielen, wie Leute ihr Recht auf freie Meinungsäußerung ausüben, indem sie Menschen, die sie nie kennengelernt haben, wüst beschimpfen und Wortgefechte mit ihnen führen. Solch ungefilterte Äußerungen von Wut und Zorn sind von Angesicht zu Angesicht, in der Welt, die wir noch immer gern als „real“ bezeichnen, weniger verbreitet. Man muss sich nur an irgendeinem öffentlichen Ort umsehen. Die vielleicht hundert Menschen, die auf einen Zug warten, starren auf ihre Telefone, statt einander anzubrüllen; aber es ist durchaus möglich, dass sich von entgegengesetzten Enden des Bahnsteigs zwei völlig Fremde virtuell über eine Messaging-Plattform anbrüllen, ohne überhaupt zu bemerken, dass die Zielscheibe ihrer Worte und ihrer Wut nur wenige Schritte von ihnen entfernt steht.
Ob man es nun vollständig erklären kann oder nicht, Tatsache ist: Es geschieht überall um uns herum; offenbar verändert sich unser Verhalten, wenn wir in einem Umfeld sind, das ein gewisses Maß an Anonymität bietet. Das Internet ist ein solches Umfeld. Je mehr Aspekte unseres Lebens sich ins Internet verlagern und je mehr das Geschehen dort unsere Situation als Arbeitnehmer und unsere Fähigkeit beeinflusst, in der Welt außerhalb zu funktionieren, desto durchlässiger wird die Grenze zwischen beiden Welten. Heute sind sowohl die virtuelle Welt des Internets als auch unsere physische Lebenswelt „die reale Welt“. Viele, die ihren eigenen Namen gegoogelt haben, können bezeugen: Wenn in den ersten Suchergebnissen etwas Negatives steht, mögen die Interaktionen selbst virtuell sein, doch die Folgen sind es nicht; man muss nur Betroffene fragen, die durch soziale Medien ihren Arbeitsplatz verloren oder Beziehungen eingebüßt haben.
Ronson vergleicht öffentliche Bloßstellungen im Internet mit öffentlichen Auspeitschungen am Schandpfahl oder der Zuschaustellung am Pranger auf dem Dorfplatz – Strafen, die bis ins 19. Jahrhundert weithin üblich waren. Doch so schwerwiegend und traumatisch öffentliche Demütigungen in früheren Zeiten gewesen sein müssen – sie waren vielleicht nicht so schlimm wie das, was heute „virtuell“ geschieht. Eine öffentliche Auspeitschung, wie es sie im 18. Jahrhundert in England und New England gab, hinterließ sicher Narben, doch generell starb die so bestrafte Person nicht daran. Dagegen ist es bekanntlich schon vorgekommen, dass sich Opfer von Bloßstellungen in den sozialen Medien das Leben nahmen, weil sie sich ein Weiterleben nach dieser Demütigung oder diesem ihnen entgegengebrachten Hass nicht mehr vorstellen konnten. Die Folge kann tatsächlich so etwas wie ein virtueller Tod sein, und das nur wegen eines einzigen Regelverstoßes, der nicht schlimmer ist als ein geschmackloser Scherz. Die Opfer, die trotzdem weiterleben, sind oft fürs Leben gezeichnet, denn jeder neue potenzielle Arbeitgeber oder Freund, der ihren Namen in eine Suchmaschine eingibt, erfährt flugs von ihrem sozialen Frevel (sei er tatsächlich oder nur vermeintlich).
Tödliche Macht
Wir leben in einer virtuellen Gesellschaft mit einer so riesigen Bevölkerung, dass wir uns im Endeffekt anonym und sozial isoliert fühlen, obgleich wir mehr Kontakte haben können als je zuvor. Damit eine Gemeinschaft funktionieren kann, müssen offene Kommunikationswege verfügbar sein, sodass Informationen ausgetauscht und Konflikte oder Probleme behandelt und gelöst werden können.
Heute können wir mit vollkommen Fremden direkt und mühelos kommunizieren. Was machen wir damit, dass wir nun eine so enge und direkte Verbindung zu Millionen anderen Menschen haben? Durch soziale Medien haben wir die Macht, zu verleumden und zu attackieren – mit Ronsons Worten zu „Soldaten in einem Krieg gegen die Fehler anderer Leute“ zu werden, die plötzlich „eine Eskalation von Feindseligkeiten“ erleben. Wir können „von der neuen Technik verführt [werden wie] ein Kleinkind, das auf ein Gewehr zukrabbelt“.
Aber vielleicht ist ein Gewehr nicht die richtige Metapher. Mit einem Gewehr muss man in relativ große physische Nähe zum Ziel kommen. Doch wie Ronson bemerkt, ähnelt das, was wir einander über das Internet zufügen können, eigentlich mehr einem verbalen Drohnenangriff. Schnell. Tödlich. Gesteuert aus so sicherer Entfernung, dass der Angreifer nicht in Gefahr ist und die rauchenden Trümmer und die Verwüstung nicht aus erster Hand miterleben muss.
Woher kommt die enorme, potenziell tödliche Macht von Internettexten? Das Internet ist heute die wichtigste Erscheinungsform der Massenmedien, das effizienteste und am weitesten reichende Medium für den Austausch von Gedanken und Informationen, das die Welt je gesehen hat. Betrachten wir, was ihm vorausgegangen ist. Die Entwicklung lässt sich über Fernsehen, Radio und Zeitungen zurückverfolgen. Vor den Zeitungen kamen Bücher. Vor dem Buchdruck fand der Gedankenaustausch in den Kulturen der Welt primär durch persönliche Interaktion statt. Informationen wurden über kurze Distanzen mit Schallgeschwindigkeit übermittelt, geformt durch die Bewegung menschlicher Zungen.
Selbst ohne Flächendeckung durch Medien, die Gedanken weltweit übermittelten, war die Macht der Zunge in allen Epochen der Geschichte nicht zu leugnen. In einem fast 2000 Jahre alten Text steht: „So ist auch die Zunge ein kleines Glied und richtet große Dinge an. Siehe, ein kleines Feuer, welch einen Wald zündet’s an!“ (Jakobus 3, 5, alle Bibelzitate Luther-Bibel 1984). Überträgt man dies auf tippende Finger, so stellt man fest, dass die Aussage heute mindestens so wahr ist wie vor fast 2000 Jahren: Auch ein Finger ist ein kleines Glied, mit dem wir Großes anrichten.
„[Mit der Zunge] loben wir den Herrn und Vater, und mit ihr fluchen wir den Menschen, die nach dem Bilde Gottes gemacht sind. […] Das soll nicht so sein, liebe Brüder.“
Bei den meisten Bloßstellungen in sozialen Medien gehen der Katastrophe tatsächlich zwei Ereignisse voraus. Das erste ist eine unglückliche Äußerung, das zweite die Reaktion, auf die andere aufmerksam werden. Jede dieser beiden „Schneeflocken“ kann eine Lawine auslösen. Jeder dieser beiden Funken kann den Flächenbrand entzünden, der viele Quadratkilometer Wald vernichtet.
Salomo, der weise König des antiken Israels, sprach ein Wort aus, das ebenso leicht aus der heutigen Zeit stammen könnte: „Wer seine Zunge hütet, bewahrt sein Leben; wer aber mit seinem Maul herausfährt, über den kommt Verderben“ (Sprüche 13, 3).
Eine andere Maxime wurde 2014 von Paul Brunson getwittert, der mit Onlinepartnervermittlung reich geworden ist. In entschieden modernem Kontext rät er: „Überlege einmal, ehe du handelst, zweimal, ehe du sprichst, und dreimal, ehe du in sozialen Medien etwas postest.“ Das lässt sich leicht auf die Unglücklichen anwenden, die im Internet angeprangert werden, aber es gilt ebenso für die, die über andere herfallen, ohne auch nur zu versuchen, ein Gespräch zu beginnen oder nach einer Erklärung zu fragen.
Letztlich hat all das mit Selbstkontrolle zu tun. Vor der Bemerkung, dass die Zunge einen Waldbrand auslösen kann, erklärt Jakobus: „Wer sich aber im Wort nicht verfehlt, der ist ein vollkommener [Mensch] und kann auch den ganzen Leib im Zaum halten“ (Jakobus 3, 2).
Heute täten wir alle gut daran, zu lernen, nicht nur unsere Zunge im Zaum zu halten, sondern auch unsere Finger, und gut zu überlegen, ehe wir uns in sozialen Medien verewigen, denn mit ein paar auf einer Tastatur oder einem Touchscreen getippten Worten können wir gleichzeitig mit allen im Allgemeinen und niemandem im Besonderen kommunizieren und das Leben vieler Menschen tief greifend beeinflussen – auch unser eigenes.