Die Vergangenheit – nur ein Spiegel der Gegenwart?
Geschichte zu verstehen, ist nicht so einfach, wie ein Buch zur Hand zu nehmen und es zu lesen. Welche Rolle spielen Werte in unserer Sicht der Vergangenheit, und wie setzen wir die Geschichte in einen Kontext, wenn sich unsere Werte verlagern?
Im November 1895 stellten Bürger der englischen Hafenstadt Bristol mitten in der Stadt ein Standbild von Edward Colston auf. Colston war ein großzügiger Philanthrop, und sie wollten ihn wegen seiner Wohltaten für die Stadt ehren. Der Tag der Enthüllung wurde von den Einwohnern als Colston Day bezeichnet, und zahlreiche Straßen und Schulen wurden nach ihm benannt. Er war ein Symbol der Stadt und ihrer Geschichte.
Über hundert Jahre später, am 7. Juni 2020, warfen Demonstranten die Statue um, beschmierten sie mit Farbe und versenkten sie im Hafen von Bristol.
Darin gipfelte ein jahrelanger Prozess des Umdenkens über einen Mann, der einst als Held gegolten hatte. Colston war in der Tat ein Wohltäter, aber die Herkunft seines Reichtums war weniger bewundernswert. Als Mitglied und stellvertretender Gouverneur von Englands Royal African Company war er maßgeblich an dem Sklavenhandel über den Atlantik beteiligt. Während seiner Amtszeit dürfte die Company mindestens 84.000 Menschen von Afrika in die Karibik und zum amerikanischen Doppelkontinent transportiert haben. Nach seinem Ausscheiden aus der Company setzte er diesen Handel fort, bis er starb.
Breiteres öffentliches Interesse fanden seine Aktivitäten wieder in den 1990er-Jahren. Im Laufe der Zeit überschattete seine Beteiligung an dem Verkauf und der Misshandlung Tausender Menschen seinen Ruf als Wohltäter. Am Schluss riss eine Gruppe von Protestierenden unterschiedlicher Ethnien aus Solidarität mit der „Black Lives Matter“-Bewegung die Bronzestatue nieder.
Prioritäten im Wandel
Colston wusste von der Aufstellung der Statue ebenso wenig wie von ihrem Abriss, denn er war bereits 1721 verstorben. Der einstige Lokalheld war ein Schurke geworden. Das war eine dramatische Kehrtwende – von ganz oben nach ganz unten. Er ist noch immer ein Symbol der Stadt Bristol, aber von ganz anderer Art: eine Erinnerung daran, dass die Stadt wenigstens zum Teil mit Profiten aus der Misshandlung und Ausbeutung von Menschen erbaut wurde.
Dies ist ein eindrückliches Beispiel dafür, wie sich die Deutung von Geschichte ändern kann. Die Väter des Projekts, das 1895 zur Errichtung des Denkmals führte, waren sicher, dass Colston die Verewigung in einer Skulptur verdient hatte; die Menschen, die sie 2020 niederrissen, konnten es hingegen nicht ertragen, sein Gesicht zu sehen.
Mit dem Abriss waren einige nicht einverstanden – hier sei Geschichte „gelöscht“ oder „umgeschrieben“ worden. Ein schwaches Argument, da ein Denkmal vor allem eine Repräsentation ist. Es präsentierte Colston als Figur, die geehrt werden sollte, und die Beseitigung des Denkmals spiegelt einen dramatischen Wandel in den Prioritäten und Werten der Gesellschaft wider.
„Statuen besagen: ,Dies war ein großer Mann, der großartige Dinge getan hat.‘ Das ist nicht wahr; er [Colston] war ein Sklavenhändler und Mörder.“
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Die Colston-Statue wird nun wahrscheinlich in einem Museum landen. Ihre Beseitigung aus der Stadtmitte war kein Löschen der Geschichte, sondern selbst ein geschichtliches Ereignis.
Das gesamte Geschehen wirft zwei Fragen über das Wesen von Geschichte auf. Wie kann sich die Wahrnehmung von Geschichte so dramatisch ändern? Wenn sie so anfällig für Kräfte von außen ist, wie kann sie dann in sich Wert haben? Gibt es so etwas wie geschichtliche Wahrheit? Wie kann man sie deuten? Gibt es eine richtige Sicht auf einen Mann wie Colston?
Geschichte und Identität
„Geschichte ist mehr oder weniger Quatsch.“ So sprach der amerikanische Autobauer Henry Ford. Er tat das Fach damit in Bausch und Bogen ab, zugunsten von Neuheit und Innovation.
Später versuchte Ford bei vielen Gelegenheiten, diese Aussage zu relativieren, und brachte sogar seine Absicht zum Ausdruck, ein Museum für die Art Geschichte zu bauen, die seiner Meinung nach „das Ansehen lohnte“. Dies ist aufschlussreich, denn das geplante Museum (ein Lobgesang auf die „Industriegeschichte“) war im Wesentlichen die Vergangenheit, wie er sie sah – das heißt, es ging um ihn, seine Identität und seine Sicht der Welt.
Diese Haltung zeigt sich immer wieder, wenn Menschen über Geschichte sprechen. Die englische Schriftstellerin Reni Eddo-Lodge beklagt das Fehlen der Geschichte der Schwarzen in britischen Lehrplänen und sieht die Bedeutung von Identität in diesem Fach: „Das meiste, was ich über schwarze Geschichte wusste, war amerikanische Geschichte. […] Mir war ein Kontext verwehrt worden, eine Fähigkeit, mich selbst zu verstehen.“
Das Schicksal des Colston-Denkmals ist beispielhaft dafür. Als es Ende des 19. Jahrhunderts aufgestellt wurde, wollte Bristol Eigenschaften ehren, die es auch sich selbst als Stadt zuschrieb – Wohltätigkeit, internationale Kompetenz, Geschäftssinn –, und diesen Merkmalen in einem materiell erfolgreichen – weißen – Engländer Gestalt geben. Colston spiegelte Bristols Werte und sein Selbstbild wider, und so setzte man ihm ein Denkmal. Doch 2020 hatten sich diese Werte und Bristols Selbstbild verändert.
Aber ist Geschichte wirklich so beeinflussbar? Ist sie tatsächlich nur eine Spiegelung dessen, wie wir uns heute sehen? Hat sie irgendeine Substanz in sich selbst, oder ist sie, wie Ford sagte, bloß Unsinn?
In dem postapokalyptischen Roman Brave New World (Schöne neue Welt) bezog sich Aldous Huxley später satirisch auf Ford; dort heißt es knapper: „Geschichte ist Quatsch.“ Huxley stellte Ford als eine Art Gottfigur dar, dem die „moderne Zivilisation“ mit ungeteilter Konzentration auf Neuheit und Konsum huldigt. In seiner Dystopie zeigte Huxley, dass geschichtliche Ignoranz Menschen ohne seelische Verankerung hinterlässt. Mit nichts weiter als der nie ruhenden Gegenwart und einer ungewissen Zukunft als Anhaltspunkten ist es unmöglich, Dinge aufgrund von Erfahrung oder Präzedenzfällen zu beurteilen. Ohne Geschichte haben wir laut Huxley kein Instrumentarium, um über unser eigenes Leben kritisch nachzudenken.
Der Schweizer Historiker Herbert Lüthy dachte im 20. Jahrhundert ganz ähnlich: „Allein die Kenntnis der Vergangenheit lässt uns die Gegenwart verstehen.“ Sein Zeitgenosse, der britische Historiker Arthur Marwick, war der gleichen Ansicht und fügte hinzu: „Geschichte ermöglicht dem Einzelnen und der Gesellschaft, sich inmitten der verwirrenden Strömungen menschlicher Vielfältigkeit zu orientieren.“ Er fuhr fort: „Unser Leben ist dadurch bestimmt, was in der Vergangenheit geschehen ist – unsere Entscheidungen dadurch, was unserer Meinung nach geschehen ist.“ Das ist zweifellos wahr. Geschichte gibt uns Kontext. Sie erhellt, was jetzt geschieht. Sie erinnert uns daran, dass solche Dinge schon früher geschehen sind, und sie bietet uns empirische Daten darüber, wie die Menschheit in der Vergangenheit gehandelt hat.
„Ohne ein Wissen über Geschichte würden der Mensch und die Gesellschaft haltlos treiben – steuerlose Boote auf dem unerforschten Meer der Zeit.“
Die Grenzen von „Geschichte“
Aber – so könnte man denken – ist es nicht doch einfacher? Ist Geschichte nicht einfach das, was früher passiert ist?
Historiker greifen durchaus auf das zurück, was aus der Vergangenheit überliefert wurde – Dokumente, Zeitzeugnisse, Artefakte –, um darzustellen, wie sie gewesen sein könnte, und zu Schlussfolgerungen über sie zu gelangen. Doch unsere eigene Begrenztheit und die Begrenztheit unserer Welt bedeuten, dass ein vollständiges Bild der Vergangenheit für uns effektiv unmöglich ist. Unser Gedächtnis ist begrenzt; unsere Fähigkeit, Informationen zu speichern, ist begrenzt; unsere Fähigkeit, die Gedanken anderer (insbesondere toter) Menschen zu lesen, ist äußerst begrenzt. Ganz zu schweigen davon, was Zeit, Verfall und Krieg mit historischen Dokumenten anrichten. Historiker arbeiten mit unvollständigen Daten und mit unvollkommenen Instrumentarien. Und wenn die verfügbaren Daten gesammelt sind, muss der Historiker sie deuten, was eigene Schwierigkeiten mit sich bringt.
Einen Schritt über die einfache Vorstellung hinaus geht diese, aus der die Geschichtswissenschaft als moderne Disziplin vielleicht erst hervorgegangen ist. Der deutsche Gelehrte Leopold von Ranke schrieb im 19. Jahrhundert, die Aufgabe des Historikers sei, zu zeigen, „wie es eigentlich gewesen [ist]“. Diese verführerische Aussage war enorm einflussreich. Davor war die Geschichtsschreibung weitgehend und bewusst subjektiv gewesen – theologisch, moralisch, nationalistisch oder persönlich motiviert. Ranke und seine Nachfolger versuchten, eine rein objektive Sicht zu bieten, indem sie sich auf Tatsachen konzentrierten.
Historiker des 19. Jahrhunderts arbeiteten in einer Zeit, in der diese pragmatische, zuversichtliche Einfachheit geschätzt wurde. 1854 nahm Charles Dickens diesen Trend in seinem Roman Hard Times (Harte Zeiten) aufs Korn: „Alles, was ich will, sind Tatsachen“, sagt der Protagonist, der knallharte Schulmeister Thomas Gradgrind. „Was man im Leben braucht, sind Tatsachen.“ Die Aufklärung hatte theologische Erklärungen durch weltliche ersetzt; die rasante Entwicklung der Industrialisierung und die Ausbreitung kolonialer Macht förderten das finanzielle und moralische Selbstvertrauen, und revolutionäre Entwicklungen in Naturwissenschaft und Medizin boten Sicherheit und Verstehen. Man konnte sich darauf verlassen, so schien es, dass das Leben Gewissheiten liefern und sich stets verbessern würde.
Auch hier war Identität ein wichtiger Faktor. Viel von der Geschichtsschreibung aus jener Zeit erzählt, wie ein Volk, ein Land also, zu seiner Gegenwart gekommen war; Geschichte wurde nach dem Bild der Gegenwart geschrieben. Statt rein objektiv war sie gewissermaßen ein Spiegel in der Form der Gegenwart. Die kanadische Historikerin Margaret MacMillan schreibt: „Viktorianische Historiker stellten die Vergangenheit allzu oft als ein unvermeidliches Voranschreiten dar, das zu der glorreichen Gegenwart geführt hatte, in der Großbritannien die Welt beherrschte.“ Dies geschah nicht nur in Großbritannien, sondern analog dazu in Frankreich, Deutschland, Russland und den USA. Kein Wunder also, dass Edward Colston in dieser Zeit ein Denkmal gesetzt wurde. Die Geschichtsschreibung dieser Zeit zeigt ein unbegrenztes Vertrauen auf „Tatsachen“ oder „Fakten“.
Die Probleme mit diesem Denken sind heute nur allzu sichtbar. Zum einen ist es schwierig, festzustellen, was eine Tatsache ist und was nicht; zum anderen gibt es das unausweichliche Problem menschlicher Voreingenommenheit und irrationaler Deutung von Fakten.
Dann gibt es das Problem, dass man die Vergangenheit mit den Augen der Gegenwart sieht oder sogar dazu nutzt, die Gegenwart zu erklären. Dies betrifft unser eigenes Leben ebenso wie das Studium staubbedeckter historischer Dokumente. Gestern haben wir alle etwas getan oder nicht getan. Andere Menschen haben darauf reagiert. Das ist unsere persönliche Geschichte. Wir haben gesprochen, wir haben uns bewegt; darauf haben andere mit Worten oder Taten reagiert. Vielleicht haben wir nicht alles, was geschehen ist, gehört oder gesehen. Wir wissen nicht alles über die Motive oder Stimmungen anderer Menschen – nicht einmal über unsere eigenen. Oft entgehen uns die Einzelheiten und Motive unserer eigenen Geschichte. Wie können wir wissen, was geschehen ist, wie deuten wir es, und wie können wir unseren eigenen Schlussfolgerungen trauen? Was sind die Fakten, wenn es um unser eigenes Leben geht – ganz zu schweigen von dem Leben anderer?
Schatten des Zweifels
Im Ersten Weltkrieg begann das Selbstvertrauen der Geschichtsschreiber, Risse zu bekommen. Der Schock des Kriegsausbruchs – so abrupt und scheinbar unvermeidbar – pulverisierte alte Gewissheiten.
„Wenn offenbar unberechenbare und unkontrollierbare Kräfte die Gegenwart formten, dann schien der bisherige Glaube der Historiker, sie könnten die Kräfte, die die Vergangenheit geformt hatten, durch einen simplen Prozess der Induktion verstehen, nun gefährlich naiv.“
Dieser Zweifel – kombiniert mit der russischen Oktoberrevolution von 1917 (ideologisch untermauert durch den Marxismus mit seinem ganz anderen Geschichtsverständnis), den Beiträgen der Psychoanalyse zum Verständnis menschlichen Verhaltens und der Priorisierung neuer, radikaler Perspektiven durch die modernistische Kultur – führte zu einem fragmentierten Bild der Welt und ihrer Geschichte.
Historiker begannen nun, freier auf Vorstellungen und Modelle anderer Wissenschaften zuzugreifen, z. B. auf die Wirtschaftswissenschaft, Psychologie, Semiotik, Soziologie und Statistik. Dies hält bis heute an, und obwohl es die Disziplin sicher bereichert, sorgt es auch für nicht wenige nachdenkliche Momente.
Eine der größten Herausforderungen kam aus dem Poststrukturalismus. Dieser kritisierte die Vorliebe der Historiker für Primärquellen und ihre Versuche, die Vergangenheit erneut hervorzubringen, wie sie „eigentlich gewesen“ sei. Der französische Sprachtheoretiker Roland Barthes soll 1967 gesagt haben, Geschichtsschreibung sei nur „eine Inschrift auf der Vergangenheit, die vorgibt, ihr Porträt zu sein, eine Parade von Signifikanten, verkleidet als Sammlung von Fakten“. Er verwies auf die Schwierigkeit, anhand alter Dokumente wirklich die Realität der Vergangenheit zu erfassen, und auf die mangelnde Eignung von Sprache, diese Vergangenheit zu vermitteln.
Viele zeitgenössische Historiker haben eingewandt, so substanzlos, wie Barthes behaupte, sei ihre Arbeit nicht. Unter ihnen ist Richard Evans, der zwar die von Barthes aufgezeigten Schwierigkeiten einräumt, den Kern historischer Forschung aber verteidigt. Seine Definition lautet: „Eine historische Tatsache ist etwas, das in der Geschichte geschehen ist und als solche durch die Spuren, die die Geschichte hinterlassen hat, verifiziert werden kann.“
Diese Definition hat etwas angenehm Nüchternes, doch muss man kein Postmodernist sein, um ihre Grenzen zu erkennen. Originalquellen sind selten, oft unvollständig und immer durch die Umstände ihrer Entstehung geprägt. Wörter haben in anderen Zeiten andere Bedeutungen. Dokumente können die Gesamtheit historischen Lebens nicht vermitteln.
Wahrscheinlich unterschätzten die Poststrukturalisten das Wissen der Historiker um diese Begrenztheit, und zweifellos unterschätzten sie ihre Arbeit. Nichtsdestotrotz sind die Fragen, die sie aufwarfen, nach wie vor wichtig. Wie können wir wissen, was wir wissen? Können wir durch die Schleier der Zeit und der Voreingenommenheit sehen, um frühere Zeiten richtig zu verstehen, oder wird schon bald irgendeine Offenbarung oder Entdeckung unser Verständnis ändern?
Im Auge des Betrachters
Beim Thema Geschichte wird der Faktor Deutung oft übersehen. Er ist aber wichtig, denn Historiker deuten auch. Sie bewerten, interpretieren und ziehen Schlüsse aus verfügbaren Daten. Dann tragen sie ihre Befunde in Aufsätzen, Artikeln oder Büchern zusammen. Geschichtsschreibung ist Verfassen von Texten, sie ist Kommunikation – etwas, das anderen Menschen gegenüber zum Ausdruck gebracht wird.
Der englische Historiker A. J. P. Taylor teilte diese Ansicht. In seinen Essays on English History schrieb er, Überlieferung von Geschichte sei „im Grunde einfach eine Form des Geschichtenerzählens“. Sie sei deshalb mehr als nur eine unvollständige Sicht dessen, was „eigentlich gewesen“ sei; sie umfasse notwendigerweise Beurteilung und Deutung. Und dies gehe mit Komplikationen einher. Historiker haben eigene Voreingenommenheiten und Deutungsfilter, ebenso wie Leser. Ein Historiker wählt Material aus, ordnet Fakten, gibt dem Ganzen Erklärungen und Narrative. Natürlich wird ein aufmerksamer Historiker oder Leser versuchen, Voreingenommenheiten zu unterdrücken, und sich um eine möglichst objektive Sicht bemühen. Doch angesichts der Begrenztheit des Menschen ist das zweifellos eine nie endende Herausforderung.
Die Wirkungen dieser Filter können dramatisch sein. Edward Colston war im 19. Jahrhundert ein Held für Bristol; heute ist er jedoch ein Schurke. Sigmund Freud wurde von den ersten Psychoanalytikern praktisch vergöttlicht, doch heute werden viele seiner Befunde mit einer gesunden Skepsis betrachtet. Ansichten über globale Konflikte wie den Zweiten Weltkrieg unterscheiden sich dramatisch voneinander, je nachdem, in welchem Teil der Erde man lebt. Man könnte sagen, Geschichte liege im Auge des Betrachters.
Eine der vielleicht wichtigsten Arten der Voreingenommenheit ist die moralische. Marwick schrieb: „Der Historiker kommt nicht umhin, moralische Urteile zu bilden, und sei es nur implizit oder durch seine Auswahl der Fakten.“ Er zitiert seinen Fachkollegen W. H. B. Court mit der Erklärung: „Frei von allen Werten kann Geschichte nicht geschrieben werden.“ Vorsichtiger formulierte E. H. Carr: „Gehen wir davon aus, dass abstrakte Begriffe wie ,gut‘ und ,böse‘ […] außerhalb der Grenzen der Geschichtswissenschaft liegen.“ Doch auch wenn es einem Historiker nicht zustehe, Personen zu verurteilen, müsse Raum bleiben für moralische Urteile „über Ereignisse, Institutionen oder Verfahrensweisen der Vergangenheit“.
„Die Anerkenntnis, dass einzelne Sklavenhalter hochgesinnt waren, wurde ständig als Entschuldigung dafür benutzt, Sklaverei nicht als unmoralisch zu verurteilen.“
Im Laufe der Zeit sind die harten Urteile des viktorianischen Zeitalters weicher geworden. In der Geschichtsschreibung sind moralische Urteile der einen oder anderen Art allerdings so allgegenwärtig wie im Leben. Das ist unvermeidlich: Wenn es eine gute Idee ist, aus der Geschichte zu lernen, dann müssen wir entscheiden, welchen Beispielen wir nacheifern sollten und welchen nicht. Geschichte wahrzunehmen, erlaubt uns beispielsweise, zu sagen: „Tu nicht, was Hitler getan hat“, und lässt uns die Widerstandskraft von Anne Frank bewundern. Geschichtsschreibung kommt nicht umhin, bewusst oder unbewusst, zwischen beidem zu unterscheiden.
Dies wird manchen widerstreben, zum Teil weil Moral an Religion erinnert, was in einer weitgehend säkularen Kultur wie ein Anathema scheint. Trotzdem kann man hier nicht ausweichen. Selbst der Entschluss, Moral zu beseitigen, ist ein Werturteil. Dennoch ist interessanterweise in nachchristlichen Gesellschaften ein Abrücken von dem moralischen Relativismus der jüngeren Vergangenheit zu bemerken. Die ideologische und politische Polarisierung des Westens geht mit verhärteten ethischen Positionen auf beiden Seiten einher, und starke moralische Überzeugungen geben Bewegungen wie „Black Lives Matter“ Kraft. Und dies hat Auswirkungen auf die Geschichtswissenschaft. Jetzt herrscht z. B. unter Historikern weithin Entschlossenheit, die wahre Geschichte der einst Ausgegrenzten zu erzählen. Dies ist definitiv ein moralischer Standpunkt.
Wenn Geschichte unserem Leben Kontext geben soll, dann müssen wir das, was wir über die Vergangenheit wissen, deuten und Schlüsse daraus ziehen. Die Frage ist: Wie soll man das tun?
Voreingenommenheit und Filter
In einer postfaktischen Welt, wo Meinungen und Emotionen ebenso viel Einfluss haben wie verbürgte Tatsachen, ist dies enorm relevant. Wenn Geschichte eine entscheidende Ressource für das Verständnis der Gegenwart ist, dann müssen wir verstehen, wie sie funktioniert. Einfach über die Vergangenheit Bescheid zu wissen, ist natürlich an sich bereits erfreulich, aber auch die Schlüsse, die man aus ihr ziehen kann, sind wertvoll.
Geschichte verstehen ist heikler, als viele denken. Wenn Geschichte immer der Deutung unterliegt, dann müssen wir mit dem, was wir erfahren, vorsichtig umgehen. Wenn Geschichte der Voreingenommenheit unterliegt, dann müssen wir sie wachsam lesen. Das bedeutet nicht, dass es zwischen Wahrheit und Lüge keinen Unterschied gibt. Den gibt es absolut, und ein Historiker darf niemals bewusst lügen. Evans’ Definition einer historischen Tatsache ist vielleicht am besten so eng gefasst anzuwenden, dass beispielsweise nach unserem besten Wissen diese bestimmte Person an diesem Tag diese Worte in diesem Dokument geschrieben hat. Das ist eine Tatsache. Sehr viel weiter zu gehen – selbst indem man bewusst eine Tatsache wählt und nicht eine andere –, führt in den Bereich von Deutung, sprachlicher Veränderung und potenzieller Filterung jeder Art. Dies kann ohne Zweifel seinen Wert haben, doch es ist wichtig, sich dessen bewusst zu sein.
Hier stellt sich die Frage nach Geschichtstexten, deren Voreingenommenheit leichter zu erkennen ist. Bevor Ranke mit seiner Entschlossenheit kam, Geschichte wiederzugeben, wie sie „eigentlich gewesen ist“, gab es viele Texte, die man wohl nicht als Geschichtsschreibung im modernen Sinn anerkennen würde, obwohl sie oft so betrachtet wurden. Sie hatten oft eine moralische, nationale oder persönliche Färbung. Edward Gibbons History of the Decline and Fall of the Roman Empire aus dem 18. Jahrhundert ist ein ethisch motiviertes Geschichtswerk. Es macht Barbarei und Laxheit für den Fall des Römischen Reiches verantwortlich. Die antiken Geschichtswerke von Herodot, Tacitus und Plutarch waren eine Art Leitfaden; Marwick nannte sie „eine Vorbereitung auf das Leben, insbesondere das politische und militärische Leben […], [um] das Wissen um glorreiche Heldentaten zu verbreiten“.
Und dann ist da die Frage nach der Bibel, die voller historischer Berichte ist. Sie ist bewusst selektiv und verfolgt eine bestimmte Absicht. Ihren Zweck legt sie offen dar: Ihre geschichtlichen und anderen Texte sind u. a. „nütze zur Lehre, zur Zurechtweisung, zur Besserung, zur Erziehung in der Gerechtigkeit“ (2. Timotheus 3, 16). Sie hat eine klare moralische Tendenz, und in diesem Sinne schildert sie historische Ereignisse und Personen. Aus diesem Grund oder weil nicht alle ihre Geschichtsberichte durch außerbiblische Belege bestätigt sind, ist sie von vielen als unzuverlässige Quelle abgetan worden. Doch angesichts dessen, was man über die Verbreitung von Voreingenommenheit in anderen historischen Überlieferungen und die häufige Dürftigkeit und Unzuverlässigkeit von Belegen in allen Epochen weiß, darf man fragen, ob dies ein vernünftiges Ausschlusskriterium ist.
„So schwer, so mühsam scheint die Aufsuchung der Wahrheit in der Geschichte zu seyn, da den Nachkommen bey der Prüfung der Begebenheit die Länge der Zeit im Wege steht, hingegen die gleichzeitige Erzählung von den Handlungen und dem Lebenswandel eines Mannes theils durch Neid und Feindschaft, theils durch Gunst und Schmeicheley ganz entstellt und verdreht wird.“
Eine Frage der Werte
Die dramatische Kehrtwende, die Edward Colstons Reputation posthum nahm, war letztlich eine moralische. Die Fakten seiner Geschichte, soweit wir sie wissen können, sind nach wie vor unverändert. Was sich geändert hat, sind die Prioritäten und Werte der Gesellschaft. Man könnte sagen, er wurde an einer anderen Moral gemessen und für ungenügend befunden. Diesem Prozess entgeht man bei keinem Thema. Es lohnt sich, Geschichtswerke zu lesen, die sich auf die objektive Prüfung der bloßen Fakten beschränken, soweit das möglich ist. Aber wie wir sehen, sind reine Objektivität und Vollständigkeit letztlich oft nicht zu haben. Die Werte, die Voreingenommenheiten zugrunde liegen, sind manchmal schwer zu erkennen. Trotzdem ist es wichtig, dass man es versucht. Und wenn man sie schließlich erkannt hat, steht man oft vor einer Entscheidung.
„Black Lives Matter“ ist eine komplizierte Bewegung, aber wenigstens zum Teil angetrieben durch ein Verlangen nach Empathie und besserem Verhalten in der Zukunft sowie der Verurteilung von Missachtung und Vorurteilen. Das sind bewundernswerte Ziele. Es zeigt, wie Moral in der Geschichtsdeutung effektiv funktionieren könnte, und legt nahe, dass man geschichtliche Überlieferung, die positive Beispiele hervorhebt und negative verurteilt, empfehlen sollte. Auch hier kann man an die Bibel denken, die genau diese Zielsetzung hat (1. Korinther 10, 6). Ihre Geschichtstexte wurden geschrieben, um den Lesern zu helfen, ein besseres Leben zu führen. Der Wert ihrer moralischen Tendenz kann geprüft werden.
Die Bibel stellt auch die Ansicht infrage, geschichtliche Überlieferung könne nicht zuverlässig sein. Lukas, Arzt und Autor von zwei Büchern des Neuen Testaments, machte sich daran, über das Leben Jesu und seine Bedeutung für die Urkirche zu berichten. Als akribischer Mann schrieb er einen vertrauenswürdigen Bericht, der auf Gewissheiten und unfehlbaren Beweisen aufgrund der Schilderung von Augenzeugen beruht. Darunter waren mehr als ein Dutzend Verwandter Jesu (siehe Lukas 1, 1–4; Apostelgeschichte 1, 1–3). Wie der Historiker und Neutestamentler Richard Bauckham schreibt: „Als Zeugenaussage verstandene Evangelien sind das vollkommen angemessene Mittel des Zugangs zu der historischen Realität Jesu.“ (Jesus and the Eyewitnesses: The Gospels as Eyewitness Testimony (2. Auflage 2017))
Geschichte ist ein viel verwendeter Begriff – und ein oft falsch verwendeter. Sie ist weit komplexer, als den meisten klar ist. Unsere menschlichen Neigungen zeigen sich überall: von den tatsächlichen Ereignissen über die Erstellung und Erhaltung von Beweisdokumenten, das Auffinden und Zusammentragen, die Auswahl und Deutung dieser Belege durch Historiker bis zum Lesen ihrer Werke. Objektivität sollte immer das Ziel sein, aber in ihrem reinsten Sinn übersteigt sie wahrscheinlich unsere Fähigkeiten.
Die Kernfrage beim Verstehen von Geschichte ist, wie bei so vielen Dingen im Leben, die Frage, was unsere Werte sind. Was uns aus der Vergangenheit wichtig ist, spiegelt oft wider, was uns in der Gegenwart wichtig ist.