Die vielen Gesichter der Depression
„Bitte die Malware in meinem Gehirn löschen – dauernd kommen Gedanken, die nicht meine sind – löschen löschen löschen (mich?) – Es lähmt mich, es zieht mich runter, macht mich kaputt kaputt.“
Die Depression ist eine der weltweit häufigsten und eine der lähmendsten Erkrankungen – und vielleicht auch die am häufigsten unbehandelte. Die Mythen, das Stigma und die Fragen, die sie umgeben, sind hartnäckig und können es uns schwer machen, die Krankheit zu erkennen und damit umzugehen – bei uns selbst wie bei unseren Lieben.
Dieses Rätsel kommentierte C. S. Lewis 1940 in seinem Buch „The Problem of Pain“. „Seelischer Schmerz ist weniger dramatisch als körperlicher Schmerz, aber er ist weiter verbreitet und auch schwerer zu ertragen“, schrieb er. „Der Versuch, seelischen Schmerz zu verbergen, macht ihn häufig noch belastender: ,Ich habe Zahnweh‘ sagt sich leichter als ,mein Herz ist gebrochen‘.“
Natürlich ist eine Depression mehr als ein gebrochenes Herz. Es gibt sie in allen möglichen Formen, und sie schlägt zu, wenn und wo es am meisten wehtut. Jeder Betroffene erlebt sie anders; die Symptome und Reaktionen sind unterschiedlich, sodass es schwierig sein kann, sie von den normalen, natürlichen Gefühlsreaktionen auf Schwierigkeiten zu unterscheiden, mit denen man im gewöhnlichen Lauf des Lebens konfrontiert wird. Noch komplizierter wird es dadurch, dass manche Depressive eine Maske tragen – so tun, als ginge es ihnen gut –, um sich nicht als Belastung zu empfinden oder von gut gemeintem, aber unerwünschtem Rat verschont zu bleiben.
Wie sieht die Krankheit Depression nun aus? Wen trifft sie? Wie entsteht sie? Kann man sie heilen oder verhindern? Und warum fällt es Menschen so schwer, über eigene Erfahrungen mit ihr zu sprechen?
Depression [...] beeinträchtigt die Fähigkeit, klar zu denken, untergräbt die Motivation, zu handeln, verändert intime Körperfunktionen wie Schlaf und Essen, und Betroffene fühlen sich gestrandet inmitten von erbarmungslosem seelischem Schmerz und Leid – machtlos, etwas dagegen zu tun.“
Tatsächlich ist Leiden nicht gleich Depression. Es kann einfach eine normale Reaktion der Trauer über einen Verlust durch den Tod eines lieben Menschen oder eine Scheidung sein. Oder man verkümmert nur (das Gegenteil von gedeihen) in einem Pandemie-Lockdown, einem langen Winter ohne Sonne, während Arbeitslosigkeit, mit chronischen Schmerzen oder einer Behinderung, bei der Pflege eines behinderten Angehörigen oder in irgendeiner anderen Lage, die man wie einen dunklen Tunnel erlebt, ohne wirklich sichtbares Licht am Ende. Vielleicht rackert man sich ab, so gut man kann, während man ständig schlecht behandelt wird. Oder eine Frau ist körperlich erschöpft, wenn sie ein Kind zur Welt gebracht hat, dem Druck der neuen Anforderungen ausgesetzt ist und zu wenig Schlaf bekommt.
Oder man hat tatsächlich eine der vielen Formen von Depression, die durch einen oder mehrere dieser Umstände ausgelöst werden können. Und hier müssen wir eine wichtige Wahrheit anerkennen: Es ist durchaus keine Seltenheit, es gleichzeitig mit mehreren ungünstigen Umständen zu tun zu haben.
Memes in sozialen Medien bieten allzu simple Lösungen an: Führe ein Dankbarkeitstagebuch. Geh joggen. Geh raus, geh unter die Leute. Nicht, dass diese Strategien nicht bestens geeignet sind, generell die seelische Gesundheit zu pflegen – sie sind es. Aber Heilmittel sind sie nicht.
Noch weniger hilfreich sind die frohgemuten Ermahnungen von Freunden: „Es ist ein herrlicher Tag! Kopf hoch! Denk doch daran, dass andere es schlechter haben! Es ist alles nur in deinem Kopf! Versuch doch, dich nicht auf das Negative zu konzentrieren!“ Wenn man ansonsten gesund ist und seine emotionale Intelligenz stärken möchte, nun gut, dann kann man mit solchen Ratschlägen wahrscheinlich etwas anfangen. Aber wenn man klinisch depressiv ist? Dann sind solche Lösungen nicht das Richtige.
Vielleicht können die meisten von uns ein wenig mehr Verständnis für das Wesen der Depression gebrauchen, bevor wir Betroffenen die gleichen munteren Ratschläge geben wie einer gesunden Person, die einfach einen schwachen Moment oder einen schlechten Tag hat. Für die meisten Menschen sind diese Ratschläge nicht schlecht. Für Menschen mit einer Depression sind sie nur nicht die besten Ratschläge.
Wie Depression aussieht
Was Sie und ich Depression nennen, wird klinisch meistens als „schwere depressive Episode/Störung“ oder „schwere Depression“ bezeichnet (oft als MDD von „major depressive disorder“ abgekürzt), doch es gibt eine ganze Familie verwandter Störungen. Aus der Sicht eines Klinikers sieht Depression natürlich etwas anders aus als aus der Sicht eines Betroffenen.
Wieder anders sieht Depression für politische Entscheidungsträger aus. Diese mögen Statistiken, und Statistiken über Depression sind sowohl zahlreich als auch verwirrend und – ja – ein wenig deprimierend. Die am häufigsten zitierten Statistiken beschreiben das Vorkommen von MDD in einer bestimmten Population über einen Zeitraum von zwölf Monaten, da Gesundheitspolitik generell auf jährlichen Zahlen beruht. Für 2020 schätzt die Weltgesundheitsorganisation die Zahl der weltweit Betroffenen auf 264 Millionen (über 3 % der Weltbevölkerung). Doch diese Schätzung ist fast mit Sicherheit zu niedrig, weil das mit Depression verbundene Stigma viele daran hindert, Hilfe zu suchen – möglicherweise besonders Männer, wie wir später sehen werden. Obgleich manche Fälle, wie bei jeder Krankheit, vielleicht in der einen oder anderen Richtung falsch diagnostiziert werden, kommt MDD zweifellos weltweit häufig vor.
„Wer einmal depressiv war, weiß, dass diese Störungen nicht nur ein Gesicht haben, kein einzelnes Merkmal, das die ganze Geschichte erzählt.“
Kliniker identifizieren Depression anhand von Diagnosehandbüchern und der Feststellung von Symptomen auf der Grundlage dieser Handbücher. Die beiden in den USA am häufigsten verwendeten sind das „Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders“, derzeit in der fünften Auflage (DSM-5), und die „International Statistical Classification of Diseases and Related Health Problems“, derzeit in der zehnten Auflage (ICD-10) – die elfte soll ab Januar 2022 gelten. Beide Handbücher sind um Übereinstimmung miteinander bemüht, um unnötige Verwirrung zu vermeiden, doch bieten beide keine klare MDD-Diagnose.
Erstens sind sowohl das DSM-5 als auch die ICD-10 nur begrenzt in der Lage, zwischen leichter Depression und normalen Stimmungsschwankungen zu unterscheiden. Diese Schwäche zeigte sich in einigen klinischen Studien, die ergaben, dass die Gabe von Antidepressiva bei Patienten mit „leichter MDD“ nicht besser wirkte als eine Gabe von Placebos. Andererseits waren Antidepressiva bei mittelschweren und schweren Depressionen durchaus wirksam. Dies legt nahe, dass „leichte MDD“ eigentlich gar kein abnormaler psychischer Zustand ist. Mit anderen Worten, wenn das Heilmittel nichts heilt, ist wahrscheinlich gar nichts kaputt; vielleicht hat die betroffene Person einfach eine normale emotionale Reaktion auf eine schwierige Situation.
Und wie steht es mit dem Begriff selbst – „leichte MDD“ – leichte schwere depressive Störung? Wenn Ihnen das wie ein Widerspruch in sich vorkommt, sind Sie in guter Gesellschaft; viele, die ein ganzes Arbeitsleben lang an Depression geforscht haben, würden Ihnen zustimmen. Allen Frances und John Nardo drücken es so aus: „Leichte schwere depressive Störung ist ein Widerspruch in sich – oft ist es nicht ,schwer‘, nicht ,depressiv‘ und keine ,Störung‘.“
Meinungsverschiedenheiten über die diagnostischen Kriterien der Handbücher sind keine Seltenheit. Als die DSM-5-Verantwortlichen einen Ausschluss für die Trauer von Hinterbliebenen aus der Liste der Kriterien für MDD strichen, kommentierten Frances und Nardo, statt den Ausschluss zu streichen, „hätten sie ebenso erwägen sollen, Traurigkeit und andere leichte, ,depressionsähnliche‘ Symptome bei anderen schweren Belastungen wie Scheidung, Verlust des Arbeitsplatzes oder finanziellen Problemen auszuschließen“.
„Das DSM-5 hat die Schwelle für bestehende Diagnosen gesenkt – das macht es viel zu leicht, bei Menschen, die normale Trauer erleben, eine schwere depressive Störung zu diagnostizieren.“
Das soll nicht bedeuten, dass man eine leichte Depression ignorieren sollte. Bei Menschen, die die meisten, aber nicht alle Kriterien für eine MDD-Diagnose erfüllen, kann die Wahrscheinlichkeit erhöht sein, dass sie einmal alle Kriterien erfüllen werden. Dies bezeichnen Psychologen als subsyndromale Depression, aber leider sind die Definitionen zurzeit uneinheitlich, und das macht es schwer, vorherzusehen, wer am stärksten gefährdet sein könnte.
Weiter erschwert wird die erfolgreiche Diagnose einer Depression dadurch, dass bestimmte Dinge in manchen Kulturen als normal gelten, in anderen hingegen als abnormal (und als ein Zeichen für Depression). So zeigen Forschungsergebnisse, dass Amerikaner europäischer Abstammung dazu neigen, negative Emotionen zu vermeiden, während viele Europäer sie als natürlichen Teil des Lebens empfinden. Die Symptome, die in manchen Regionen des Orients darauf hindeuten, dass jemand dabei ist, sich zu verlieben, könnten für Menschen aus dem Westen nach einer Depression aussehen. Kulturübergreifend ist es also wichtig, zu berücksichtigen, was eine im jeweiligen kulturellen Kontext normale Reaktion sein könnte, ehe man jemanden als depressiv kategorisiert.
Wen es trifft
An einer Depression kann so ziemlich jeder erkranken, aber Menschen, die unterhalb der Armutsgrenze leben, sind nahezu doppelt so häufig betroffen wie Menschen oberhalb dieser Grenze, Frauen nahezu doppelt so häufig wie Männer.
Die Beziehung zwischen Armut und Depression hat etwas von einem Teufelskreis: Armut kann das Potenzial für Depression und andere psychische Krankheiten erhöhen – und diesen lähmenden Zustand zu erleben, kann wiederum dazu beitragen, Menschen noch tiefer unter die Armutsgrenze zu drücken und sie dort festzuhalten wie in einer Falle.
Auch zwischen den Geschlechtern bestehen komplexe Unterschiede bei der Depression, und sie sind offenbar zum Teil kulturell bedingt. Männer sind natürlich nicht immun gegen Depression, aber in vielen Kulturen sind Männer gehalten, sich nicht anfällig für „weichere“ Emotionen wie Angst und Traurigkeit zu zeigen. Dagegen gelten Zorn und Aggression oft als Emotionen, die dem Klischee der Männlichkeit mehr entsprechen. Dies kann der Grund dafür sein, dass bei Männern tendenziell Suchtmittelmissbrauch und antisoziales Verhalten verbreiteter sind, während Angst und Depression – oft zusammen – häufiger bei Frauen vorkommen. Bei manchen Arten von Depression, die Frauen betreffen, z. B. vor der Monatsblutung, nach den Wechseljahren oder nach einer Niederkunft, mögen hormonelle Einflüsse eine Rolle spielen, aber das ist keine vollständige Erklärung für diese Kluft zwischen den Geschlechtern.
Vergleicht man Daten aus verschiedenen Ländern und Kulturen, so deutet tatsächlich mehr auf soziale Faktoren hin. Einen davon könnte man als „Preis der Fürsorge“ bezeichnen. Bei Erhebungen, wie viel Wert auf zwischenmenschliche Verbindungen gelegt wird, haben Frauen und junge Mädchen in vielen Kulturen höhere Messergebnisse als Männer, auch wenn Wertschätzung von Beziehungen keineswegs ein ausschließlich weibliches Merkmal ist. Trotzdem ist gut dokumentiert, dass – selbst in westlichen Kulturen, die als relativ egalitär gelten – der Löwenanteil hinsichtlich der Versorgung von Haushalt und Familie noch immer von Frauen geleistet wird.
Wenn man bedenkt, wie viele Frauen sich abmühen, Beruf und Familie in Einklang zu bringen, überrascht es nicht, dass allzu große Rücksicht auf ihre Beziehungen Frauen manchmal (öfter als Männer, wie Forscher feststellen) dazu bringt, so sehr für andere zu sorgen, dass sie ihre eigenen Bedürfnisse vernachlässigen – eine Situation, die eine Depression eindeutig fördern kann. Dies wird noch schlimmer, wenn von Frauen erwartet wird, in all ihren Rollen (Ehefrau, Mutter, Hausfrau, Angestellte) perfekt zu sein. Zwischen Perfektionismus und dem Risiko schwerer Depression besteht eine starke Korrelation.
Der Preis der Fürsorge ist jedoch nicht nur eine Folge übersteigerter Fürsorge. Selbst die vollkommen gesunde Wertschätzung ihrer Beziehungen scheint Frauen anfälliger für eine Depression zu machen. Aber starke, unterstützende soziale Bindungen zu entwickeln ist doch etwas Gutes, oder? Sogar etwas Großartiges. Gar keine Frage: Von ansprechbaren, Mut machenden Freunden und Angehörigen umgeben zu sein ist gesund, ein Rettungsanker in schwierigen Zeiten. Aber weil sich die meisten Frauen eher an einem größeren Netz solcher Bindungen emotional beteiligt fühlen als viele Männer, ist die Wahrscheinlichkeit höher, dass jemand, der ihnen wichtig ist, einen Schicksalsschlag erleidet – und das macht sie natürlich anfällig für Verlustgefühle und beeinträchtigt ihr eigenes Wohlergehen.
Wie es dieser höheren Wahrscheinlichkeit entspricht, berichten Frauen tatsächlich von mehr derartigen Ereignissen innerhalb ihrer sozialen Netze als Männer. Es wäre ein Fehler, dies mit bloßer emotionaler Empfindsamkeit zu erklären. Es ist erwiesen, dass schlimme Erlebnisse in der frühen Kindheit Mädchen mehr als Jungen für späteren Stress sensibilisieren. Hinzu kommt aber bei Mädchen eine höhere Wahrscheinlichkeit als bei Jungen, dass dieses erste schädliche Ereignis schwerwiegend ist (und sie daher sensibilisiert). Zwar werden z. B. sowohl Jungen als auch Mädchen Opfer von sexuellem Missbrauch, aber die Fallzahlen sind bei Mädchen tendenziell höher als bei Jungen. Und auch wenn Scheidung und andere Formen familiärer Zerrüttung für alle Beteiligten schwierig sind, deuten Forschungsergebnisse darauf hin, dass sich solche Ereignisse – zu denen auch eine von Kindern bemerkte Überlastung der Mutter zählt – auf Mädchen oft ungleich stärker auswirken.
Es muss gesagt werden, dass es aber auch Männer gibt, die sich um alte Eltern oder eine pflegebedürftige Ehefrau kümmern; wenn das der Fall ist, sind auch sie einem erhöhten Risiko ausgesetzt, an einer Depression zu erkranken. Und bei Männern in Rettungsberufen (insbesondere Feuerwehr und Notfallmedizin) sind die Fälle von Depression und Selbsttötung signifikant häufiger als in der Gesamtbevölkerung.
„[Über ein Drittel] der Beschäftigten in Feuerwehr und Notfallmedizin haben schon an Freitod gedacht, nahezu das Zehnfache aller erwachsenen Amerikaner.“
All dies legt einige spannende Fragen offen: Wenn der „Preis der Fürsorge“ gerechter geteilt würde und wenn es akzeptabler wäre, dass sich Männer anfällig für Emotionen zeigen, wäre dann die Häufigkeit von Depression zwischen den Geschlechtern ähnlicher? Vielleicht sogar insgesamt niedriger, weil Unterstützung, Verständnis und Erwartungen geteilt würden?
Ursachen, Heilung und Vorbeugung
Wie entsteht eine Depression? Auch darauf gibt es keine einfachen Antworten. Bekannte körperliche Ursachen sind bestimmte Krankheiten wie Schilddrüsenunterfunktion, Parkinson und die Huntington-Krankheit. Es gibt außerdem biologische und ökologische Einflüsse. Gut dokumentiert ist der Zusammenhang zwischen einer Depression und kritischen Lebensereignissen wie Misshandlungen, belastenden körperlichen Entwicklungen wie z. B. den Wechseljahren, mangelnder Bedürfniserfüllung, z. B. Armut und fehlender sozialer Unterstützung, und Verlusterlebnissen aller Art wie dem Verlust des Arbeitsplatzes und dem Tod eines Angehörigen. Der Verlust der Identität wird in der Rubrik „Verlust“ manchmal übersehen, ist aber ebenso belastend wie jeder andere.
Weil eine Depression oft zusammen mit anderen Störungen auftritt, kann es schwierig sein, festzustellen, welche zuerst da war. Etwa drei Viertel der Patienten mit MDD-Diagnose hatten irgendwann im Leben mindestens eine weitere psychische Störung, und Angststörungen sind dabei weitaus am häufigsten.
Außerdem gehen viele körperliche Krankheiten mit einer Depression einher – ob als Ursache oder als Wirkung ist allerdings nicht immer klar. Tatsächlich ist die Trennung zwischen unserem körperlichen und unserem psychischen Zustand recht willkürlich und sogar künstlich. Sind wir Körper mit Gehirn oder Gehirne mit Körpern? Bestimmt unser psychischer Zustand unseren körperlichen Zustand oder umgekehrt? Es könnte sich um die klassische Frage nach der Henne und dem Ei handeln. Tatsächlich sind Körper und Gehirn durch das parasympathische Nervensystem verbunden, das hauptsächlich vom nervus vagus reguliert wird. Deshalb bleibt das, was im Gehirn geschieht, nicht nur im Gehirn, und was im Körper geschieht, bleibt nicht nur im Körper. Und (welch kühne Aussage) was im Vagus geschieht, bleibt nicht nur im Vagus.
Selbst wenn man die Durchlässigkeit zwischen den psychischen und den körperlichen Vorgängen im Inneren des Menschen anerkennt, kann man vergessen, dass – trotz unserer scheinbaren Individualität – kein Einziger von uns ein geschlossenes System ist. Wir sind zwischenmenschlich mit anderen Psychen verbunden, die ihrerseits mit anderen Körpern verbunden sind. Vor diesem Hintergrund haben einige Autoren beanstandet, dass die Liste der Depressionssymptome im DSM primär intrapersonelle Beschreibungen enthält (was innerhalb einer Person vor sich geht) und interpersonelle Symptome ignoriert, obgleich sie durch die Forschung gut belegt sind (z. B. soziale Störungen und Beeinträchtigungen der Kommunikation mit anderen).
Die Ursachen von Depressionen sind unzählig, deshalb ist es sinnvoll, dass die Therapie gewöhnlich an mehreren Punkten ansetzt. Oft wird eine Medikation mit einer Form der Psychotherapie kombiniert, die dem spezifischen, für die anhaltende Depression des Patienten ursächlichen Faktor begegnet. Der weitverbreitete Erfolg kognitiver Therapien und der Verhaltenstherapie in der Behandlung von Depressionen und Angststörungen ist ein Zeichen dafür, dass ein „kaputtes“ Gehirn tatsächlich wieder heil werden kann.
Mit verschiedenen Formen der achtsamkeitsbasierten kognitiven Therapie, die Jeffrey Schwartz als das Vier-Schritte-Programm bezeichnet, konnten vielfältige Störungen erfolgreich behandelt werden.
Mithilfe kognitiver Verhaltenstherapien lernen Patienten, Denk- und/oder Verhaltensmuster zu erkennen und zu bearbeiten, die sie ändern können, auch wenn an den externen Bedingungen nichts zu ändern ist. Zu diesen Therapieformen zählen die kognitive Therapie, die achtsamkeitsbasierte kognitive Therapie, die traumafokussierte kognitive Verhaltenstherapie und viele andere. Diese Verfahren werden durch Forschungsergebnisse stark gestützt, und jedes hat seine Stärken. Es ist z. B. erwiesen, dass die kognitive Therapie ebenso wirksam ist wie Antidepressiva, und dies offenbar nachhaltiger. Werden Antidepressiva aber eingesetzt, so sind sie in Kombination mit kognitiver Therapie wirksamer als ohne sie. Die achtsamkeitsbasierte kognitive Therapie hat hervorragende Erfolge bei der Vorbeugung von Rückfällen erzielt. Auch Verhaltensaktivierung und Problemlösetraining – zwei Therapieformen, die bei dem Umfeld, dem Verhalten oder spezifischen Problemen des Patienten ansetzen (statt an den Denkprozessen selbst) – haben sich als wirksam erwiesen.
Um aber den größten Nutzen zu bringen, sollten solche kognitiven Therapien und Verhaltenstherapien immer von jemandem geleitet werden, der damit vertraut ist, sie erfolgreich anzuwenden. Und sie brauchen ihre Zeit. Heilung von einer Depression funktioniert nicht so, dass man einfach eines Tages aufwacht und beschließt, anders zu denken und zu handeln.
Und wo kommt nun die Vorbeugung in die Gleichung? Man könnte natürlich sagen, dass man nicht immer alles verhindern kann, und daran ist etwas Wahres. Wir können unser Bestes tun, um einander die persönliche und soziale Unterstützung zu geben, die für den Aufbau einer guten Grundlage für die psychische Gesundheit nötig ist, aber wir (und die Menschen, die uns nahestehen) haben nicht all die biologischen, ökologischen oder zwischenmenschlichen Einflüsse in unserem Leben unter unserer Kontrolle.
Dennoch ist gut belegt, dass möglicherweise fünfzig Prozent der schweren depressiven Episoden verhindert werden könnten. Idealerweise wäre das Ziel, die erste zu verhindern, denn die Wahrscheinlichkeit eines Rückfalls steigt mit jeder weiteren Störung. Wie bei der Behandlung bestehen auch gute Erfolgsaussichten dafür, mit kognitiver Therapie dem ersten Auftreten einer schweren Depression vorzubeugen.
Bei der kognitiven Therapie und der Verhaltenstherapie geht es darum, die Leitungen zu identifizieren und neu zu verdrahten, durch die die automatischen Gedanken eindringen und im Gehirn etwas „kaputtmachen“. „Bitte die Malware in meinem Gehirn löschen – dauernd kommen Gedanken, die nicht meine sind“; so beschreibt eine junge Frau auf Facebook eine Erfahrung, die so viele kennen. „Depression, das bin nicht ich (selbst wenn es sich manchmal so anfühlt)“, behauptet sie. Und sie hat absolut recht. Die gute Nachricht ist: Die „Malware“ im Gehirn kann gelöscht werden – ohne die Teile unseres Wesens zu löschen, die uns ausmachen.