Ein Fisch, zwei Fische, alle Fische, kein Fisch

Das althergebrachte Bild vom Fischer mit Bart und gelbem Südwesterhut ist von der heutigen Wirklichkeit weit entfernt. Der Druck der Industrialisierung und Kommerzialisierung bestimmt heute das Geschäft. Immer größere Schiffe, raffiniertere Netze, Unterwasserschallgeräte, GPS-Koordinaten zur Markierung der Stellen erfolgreicher Fänge, Teams in Hubschraubern und Kleinflugzeugen zum Aufspüren von Fischschwärmen, Kommunikation per Satellitentelefon – mit Der alte Mann und das Meer hat das nichts mehr zu tun.

Einst war der Mensch auf sein Glück angewiesen, um Fische aus dem Fluss zu fangen. Inzwischen ist er ein hoch technisierter Jäger und, angesichts der Überfischung der natürlichen Bestände, ein wissenschaftlich versierter Züchter von Meerestieren.

Wie stark sind die Fischbestände zurückgegangen? Einige der ersten europäischen Siedler in der Neuen Welt dokumentierten den Fischreichtum, den sie vorfanden. 1608 berichtete Kapitän John Smith von einer „Überfülle an Fischen, die so dicht mit den Köpfen über dem Wasser lagen, dass wir aus Mangel an Netzen […] versuchten, sie mit einer Bratpfanne zu fangen. Doch wir stellten fest, dass sie kein gutes Gerät war, um Fisch damit zu fangen. Keiner von uns hatte jemals oder irgendwo bessere Fische gesehen, in größerer Menge oder größerer Vielfalt kleiner Fische, die so im Wasser schwammen.“

Aus solchen Augenzeugenberichten lassen sich nur schwer genaue Populationsgrößen berechnen. Anhand detaillierter Logbücher aus den 1850er-Jahren kommt der Ozeanologe Andrew Rosenberg zu der Schätzung, dass in den darauffolgenden 150 Jahren die Kabeljaubestände um 96 Prozent schrumpften. Diese erschreckende Größenordnung trifft offenbar für die meisten kommerziell befischten Arten zu: „Seit der Mitte des 19. Jahrhunderts sind über 90 % des vorindustriellen Bestands an großen Laichfischen verschwunden“, erklärt Charles Clover in The End of the Line.

Einige Arten haben sich zwar seit dem Einsetzen der strengeren Regulierung zu Beginn der 1990er-Jahre leicht erholt; viele andere werden aber den Stand der vorindustriellen Zeit höchstwahrscheinlich nicht wieder erreichen. Dabei fangen wir doch nur, was wir essen. Wenn 70 Prozent der Erdoberfläche von Wasser bedeckt sind, wie können wir dann alle Meere leer fischen? Ist das nur Panikmache von Umweltschützern?

Dass dieser selbstzerstörerische Prozess real ist und warum er so rasch voranschreitet, behandelte der Mikrobiologe Garrett Hardin 1968 in seinem Artikel The Tragedy of the Commons (Die Tragödie der Gemeindewiese). Die zugrunde liegende Metapher hat mit Schafen zu tun: Stellen Sie sich vor, Sie sind einer von mehreren Schäfern, die ihre Schafe auf Gemeindegrund weiden dürfen. Es ist das Beste für alle, die Zeit Ihrer Herde auf der kostenlosen Weide zu begrenzen, damit auch die anderen das Gemeindeland noch nutzen können. Doch jeder strebt nach dem wirtschaftlichen Vorteil, so viel kostenlose Weide wie nur möglich zu bekommen – mit dem Ergebnis, dass das Land unweigerlich von allen überweidet wird. „Sobald einer der anderen Schäfer seine Schafe eine Stunde länger als nötig auf der Weide lässt“, schreibt Clay Shirky in Here Comes Everybody, „ist Gleiches mit Gleichem zu vergelten das Einzige, was in Ihrer Macht steht. Und dies ist die Tragödie der Gemeindewiese: Zwar kann jeder Einzelne zustimmen, dass allgemeine Selbstbeschränkung allen zugutekäme, doch die Anreize für den Einzelnen stehen diesem Ergebnis entgegen.“

Was also letztlich hinter solchem Raubbau an Ressourcen steckt, ist Egoismus.

PROFIT ABFISCHEN 

Eine der Hauptursachen für den Schwund ist die industrielle Fischerei. Clover leitet sein Buch mit der folgenden Analogie ein: „Man stelle sich vor, was die Leute sagen würden, wenn eine Gruppe von Jägern ein Netz von einer Meile Breite zwischen zwei riesige Geländefahrzeuge spannte und es mit hohem Tempo über die Ebenen Afrikas schleppte. Dieses skurrile Gebilde, wie aus einem Mad-Max-Film, würde alles auf seinem Weg mitreißen: Raubtiere wie Löwen und Geparde; schwerfällige, gefährdete Pflanzenfresser wie Nashörner und Elefanten; ganze Herden von Impalas und Gnus; Familien von Warzenschweinen und Wildhunden. Trächtige Weibchen würden erfasst und mitgezerrt und nur die kleinsten Jungtiere könnten durch die Maschen entschlüpfen.“

Es ist klar, dass unsere Bemühungen, unsere Pflichten als globale Verwalter unserer Fischressourcen zu erfüllen, mit der steigenden Nachfrage nach Fisch am Markt nicht Schritt gehalten haben […]“

Eric C. Schwaab, „U.S. Fisheries Management: Lessons From a 35-Year Journey,“ World Fisheries Congress 2012

Diese Analogie mag entsetzlich erscheinen, doch entspricht sie der Vorgehensweise, mit der Fische, die auf oder nahe am Meeresboden leben, zu fangen. Man nennt diese Methode Schleppnetzfischerei. Bei der Grundschleppnetzfischerei scheuchen Eisenbarren oder Rollen am Vorgeschirr des Netzes die Fische vom Boden auf, sodass sie gefangen werden können. Dabei wird der Meeresboden selbst beschädigt, ebenso Korallen und Pflanzen – das lebendige Biotop, das diese Fische brauchen, um zu leben und sich fortzupflanzen.

Hinzu kommt der Beifang, ein Problem, das es nicht nur in der Schleppnetzfischerei gibt. Das Wort mag recht harmlos klingen, doch das industrielle Netz macht keine Unterschiede: Ein hoher Prozentsatz jedes Fangs besteht aus anderen als den gewünschten Fischarten. Auf jeder Fahrt ist es üblich, unerwünschte, unverkäufliche oder einfach unrentable Fische wieder über Bord zu schaufeln, tot oder sterbend.

Wie groß ist das Problem Beifang? Die Zahlen variieren, aber im Jahr 2007 schätzte die Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen (Food and Agriculture Organization, FAO), dass jährlich rund sieben Millionen Tonnen auf diese Weise entsorgt würden. Am schlimmsten seien die Schleppnetz-Krabbenfischer, auf die laut diesem Bericht rund 27 Prozent des gesamten Beifangs entfielen. Tatsächlich bedeuten diese Zahlen eine Verbesserung gegenüber den Zahlen früherer Jahre. Dies ist verschiedenen Maßnahmen zur Verringerung des Beifangs zu verdanken. Dennoch werden weiterhin Hunderte von Arten mitgefangen und entsorgt, darunter Schildkröten, Haie, Seepferdchen und Korallen – am Gewicht gemessen möglicherweise das Zwanzigfache der gefangenen Krabben, meint die FAO.

Einer der größten Skandale in der heutigen Fischerei ist die Menge an Fisch, die entsorgt wird – d. h. die einfach wieder über Bord geworfen und nicht an Land gebracht wird.“

European Commission, „The Common Fisheries Policy: A User's Guide“ (2009)

Auch beim Thunfischfang werden Maßnahmen ergriffen, um den Beifang zu begrenzen. Aus „delfinsicheren“ Netzen können sich zum Beispiel die meisten Delfine an die Oberfläche retten, bevor das Netz um die Thunfische zusammengezogen wird. Doch auch das ist nicht hundertprozentig effektiv: Noch immer werden in der Regel jedes Jahr mehrere Tausend Delfine getötet, und der Beifang anderer Arten in delfinsicheren Netzen hat zugenommen.

Das Problem des Beifangs ist nicht auf die Netzfischerei beschränkt. Eine andere sehr verbreitete Methode des Thunfischfangs ist die Langleinenmethode: Ein einziges Schiff lässt vom Heck bis zu 60 Meilen Leine ab, an der etwa 25 Nebenleinen und Köderhaken pro Meile hängen. Manchen Quellen zufolge werden jedes Jahr nahezu zwei Milliarden Langleinenhaken ausgebracht.

Schnell sammeln sich Seevögel wie Albatrosse und Sturmvögel um das Heck des Schiffes, da sie von der vermeintlichen Gratisfütterung mit Köderfischen, die an der Leine hängen, angelockt werden. Bei rauer See, wenn das Schiff auf den Wellen tanzt und die Leine achtern gespannt ist, können „dreißig Köder gleichzeitig emporschnellen“, bemerkt Carl Safina in Song for the Blue Ocean. Die Vögel „stürzen ihnen nach […] Sie schnappen die Köder, wenn sie aus dem Wasser kommen, schlucken die Haken und werden hinuntergezogen“, wo sie ertrinken. Verlorene Köder bedeuten aber weniger gefangene Fische, weshalb manche Fischer die Vögel einfach erschießen.

Inzwischen sind mehrere Albatrossarten als gefährdet eingestuft, vor allem infolge dieser Fischfangmethode. Doch wenn die Langleinen wieder eingeholt werden, finden die Fischer daran nicht nur Vögel und die großen Fische, die sie haben wollen. Besonders häufig fallen Meeresschildkröten der Langleinenfischerei zum Opfer, und auch Haie werden gefangen. Doch da ihr Fleisch nicht gut zu vermarkten ist, werden gewöhnlich nur die Flossen für den Export nach Asien abgehackt, und die Tiere werden über Bord gekippt, wo sie schließlich verbluten. Außerdem kann beim kommerziellen Fischfang nicht garantiert werden, dass von den gewünschten Fischarten nur große Exemplare gefangen werden; ebenso leicht können junge Thunfische dabei sein, die sich noch fortpflanzen sollten. So wird das Überleben mancher Arten zusätzlich gefährdet.

Beifang ist ein weithin unbemerkter Produktionsfaktor, ein nicht bezifferter Kostenpunkt, welcher einfach zum Geschäft gehört. Wo Profit das höchste Ziel ist, interessiert kaum, was über Bord gehen muss. Solche schädlichen Ansichten und Praktiken sind die Folgen kurzsichtiger Habgier: die „Tragödie der Gemeindewiese“ in globalem Maßstab.

Nicht, dass sich niemand dieser Frage angenommen hätte (siehe „Jacques Cousteau: Die Stimme der schweigenden Welt“ ). Doch obgleich es in den vergangenen Jahren Bemühungen gab, das Problem in den Griff zu bekommen, gefährdet die massive Überfischung der Meere weiterhin zahlreiche Arten entlang der gesamten Nahrungskette. Jedes Jahr werden rund 220 Millionen Tonnen Tiere aus dem Meer geholt oder beim Fischfang verletzt oder getötet. Berücksichtigt man die nicht marktgängigen Fische; die nicht verkauften Gräten und Abfälle, die bei der Verarbeitung entsorgt werden; die Mengen an Fisch, die zu Industrieerzeugnissen und Tierfutter verarbeitet werden, so „entspricht die Menge an Eiweiß, die tatsächlich Menschen oder Tieren als Nahrung dient, vielleicht […] nur zehn Prozent der Meerestiere, die jährlich in den Ozeanen getötet werden“.

Andersherum ausgedrückt: Es werden vielleicht 90 Prozent dessen, was wir aus dem Meer holen, einfach weggeworfen. Dies ist eindeutig nicht im besten Interesse der Fische und der von dieser Industrie belieferten Verbraucher sowie nicht einmal der langfristigen Zukunft der Industrie selbst.

Es ist klar, dass die Entsorgung unerwünschter Fische – die dies zum großen Teil nicht überleben – in diesem Ausmaß sowohl ökologisch als auch ökonomisch eine Katastrophe ist, und dass sie die Zukunft der Fischereiindustrie untergräbt.“

European Commission, The Common Fisheries Policy: A User's Guide“ (2009)

UNTERJOCHEN ODER SCHÜTZEN? 

Der Mensch war von Anfang an dazu bestimmt, über die Erde zu herrschen, sie zu füllen und sie sich mit allem, was auf ihr ist, untertan zu machen (1. Mose 1, 28). Und sicher herrschen wir über die Meere. Doch kann das eine solche Zerstörung rechtfertigen, oder gibt es ein Gegengewicht, ein Prinzip, mit dem diese Sicht in Einklang gebracht werden muss?

Wendell Berry schreibt in seinem Essay Two Minds: „Die meisten wichtigen Gesetze für die menschliche Lebensführung sind wahrscheinlich religiösen Ursprungs – Gesetze wie diese: Sei barmherzig, sei versöhnlich, liebe deinen Nächsten, sei gastfreundlich zu Fremden, sei gut zu anderen Geschöpfen, kümmere dich um die Hilflosen, liebe deine Feinde. Kurz, wir müssen andere Menschen und andere Geschöpfe lieben und uns um sie kümmern. Ausnahmen dürfen wir nicht machen. Die Pflicht jedes Menschen gegenüber der Schöpfung ist in zwei Worten von 1. Mose 2, 15 zusammengefasst: bebauen und bewahren.“ (siehe „Ist Gott ein Grüner?“)

Der Vers, auf den sich Berry bezieht, lautet: „Und Gott der HERR nahm den Menschen und setzte ihn in den Garten Eden, dass er ihn bebaute und bewahrte.“ Andere Übersetzungen lauten: „damit er ihn bebaue und hüte“ (Einheitsübersetzung) oder: „Gott, der Herr, brachte also den Menschen in den Garten Eden. Er übertrug ihm die Aufgabe, den Garten zu pflegen und zu schützen.“ (Gute Nachricht Bibel) Unsere Aufgabe ist es, zu bewahren, zu schützen, zu pflegen. Die Güte und die Fürsorge, von denen hier die Rede ist, scheinen zu Macht und Herrschaft nicht zu passen. Wie bringen wir diese beiden Sichtweisen unter einen Hut? Beherrschen oder pflegen, unterjochen oder schützen?

Ein Teil der Bestimmung, für die Gott uns geschaffen hat, ist die Ehre, Macht über seine Schöpfung zu haben; in diesem Sinn herrschen wir an seiner Stelle über die Erde. Die New English Translation (NET) erklärt in ihren Fußnoten, dass die verbale Konstruktion in 1. Mose 1, 26 zweiteilig ist: 1) „Lasset uns Menschen machen, ein Bild, das uns gleich sei.“ und 2) „die da herrschen“ wie wir selbst. „Mit der Erschaffung von Menschen nach seinem Bild bezweckt Gott, dass sie im Auftrag des himmlischen Königs und seines Hofstaates über die Schöpfung herrschen.“ Wenn diese Herrschaft oder Macht uns gegeben ist, weil wir nach dem Bild Gottes geschaffen sind, erscheint sie in einem gütigeren Licht. Herrschaft ist eine Ehre; deshalb sollten wir mit der Natur so fürsorglich umgehen, wie Gott es täte. Wir sollen lernen, mehr wie er zu handeln.

Die Anmerkungen der NET-Übersetzer enthalten auch eine Erörterung zu dem Verb „untertan machen“: An anderen Stellen bedeutet das betreffende hebräische Wort oft versklaven oder unterjochen, doch „der Mensch wird nicht in einer Beziehung der Feindschaft mit der Welt gesehen. Die allgemeine Bedeutung des Verbs dürfte sein, jemanden/etwas zu dessen eigenem Vorteil unter Kontrolle zu bringen. Die Passage in 1. Mose 1, 28 könnte man so paraphrasieren: Der Mensch soll das Potenzial der Schöpfung nutzen und ihre Ressourcen zu seinem Wohl einsetzen.“

Diese ausgewogenere Deutung von „untertan machen“ passt zu dem Auftrag des Bebauens und Bewahrens. Tatsächlich hat die Menschheit, so dieselbe Quelle, „die Verantwortung, für das Wohl dessen zu sorgen, was unter ihre Herrschaft gegeben ist, und das Privileg, es für sich zu nutzen.“

Der Auftrag des Menschen war von Anfang an, die Erde zu beherrschen, sofern er lernen kann, für sie zu sorgen, wie Gott es tut – sie mit Kindern zu füllen, wie Gott es wollte, und diese Kinder zu lehren und anzuleiten, damit sie verstehen, dass es ihre Pflicht ist, das Gleiche zu tun und diesen Zyklus des Lernens und Lehrens weiterzutragen. In diesem Kontext ist „untertan machen“ nicht feindselig, sondern produktiv.

Künftigen Generationen eine nachhaltige Welt zu hinterlassen wird eine Menge Aufwand erfordern, und daran müssen sich alle beteiligen.“

Pierre-Yves Cousteau, in „Interview With New Commission Advisor Pierre-Yves Cousteau“ (European Commission)

Die Wörter „herrschen“ und „untertan machen“ sollten richtig gelesen werden, und zwar im Zusammenhang mit den ergänzenden Wörtern „bebauen“, „bewahren“, „pflegen“ und „schützen“. Wenn wir auf und mit dieser Erde gut haushalten wollen, müssen wir lernen, eine Art von Herrschaft auszuüben, die mit Fürsorge für das uns Anvertraute verbunden ist.

Die Lehre, die wir hieraus mitnehmen können, lautet nicht „Nie wieder Fisch“. Es gibt Fangpraktiken, die ohne diese schädlichen, ausbeuterischen Methoden auskommen, und manche Fischarten sind ebenso wohlschmeckend wie reichlich vorhanden, wenn sie gut beobachtet, verstanden und bewirtschaftet werden. Doch die Herrschaft, die wir Menschen über unseren Planeten haben, ist mit Verantwortung verbunden und wir müssen lernen, ihn und unsere Mitgeschöpfe mit Fürsorge und Güte, nicht mit Härte zu behandeln. Wir müssen lernen, zu pflegen und zu bewahren, was uns gegeben wurde.