Charakter – neu im Spiel
Vision-Herausgeber Dr. David Hulme über eine zuneh-mend verloren gehende und doch höchst notwendige Eigenschaft. Psychologen suchen neue Antworten auf Fragen, die längst geklärt sind.
„Charakter ist out – Versuche, ihn wiederzubeleben werden wenig bringen. Diese Zeit ist vorbei.“ Dies schrieb James Davison Hunter im Jahre 2000 in einem Buch über die Schwierigkeiten, in einer Zeit moralische Bildung zu vermitteln, in der Gut und Böse so mangelhaft definiert werden. Unter Charakter versteht er moralische Vortrefflichkeit (Format, Niveau) und Identität, wie der Begriff manchmal in (englischsprachigen) Wörterbüchern definiert wird. Hunters Sicht hat sich in den letzten 6 Jahren angesichts von Krieg, Gewaltverbrechen, Korruption und Verdorbenheit rund um die Welt zweifellos bestätigt. Es ist immer schwerer, moralische Standards und Charakter aufrechtzuerhalten und Kindern beizubringen, warum Moral überhaupt zählt.
Die Geschichte des Wortes Charakter ist sehr aufschlussreich. Es wurde bereits in mhd. Zeit (mhd. karacter) aus dem lat. character „eingebranntes Zeichen; Gepräge, Eigenart“ entlehnt. Das lateinische Wort seinerseits stammt aus dem griech. charaktïr „Werkzeug zum Gravieren; Stempel; Siegel“. Heute bezeichnet man damit im Allgemeinen die Gesamtheit der geistig-seelischen Eigenschaften, die individuelle Wesensart, Prägung eines Menschen. Im englischen Sprachraum bezieht sich „Charakter zu haben“ vorwiegend auf die positiven, guten Eigenschaften und gilt als ein Zeichen moralischer Vortrefflichkeit.
Wie Hunter und seine Kollegen bemerkt haben, ist der gegenwärtige „Tod des Charakters“ zum Teil das Resultat der Säkularisierung unserer Gesellschaft – ein Prozess, der sich seit dem 18. Jh. in Europa und Amerika vollzogen hat.
Säkularisierung könnte man auf dreifache Weise definieren:
Erstens, als zunehmenden Rückgang religiöser Glaubensinhalte und religiösen Verhaltens innerhalb von Kulturen, der von vielen als natürliche menschliche Entwicklung angesehen wird.
Zweitens, als „Privatisierung“ der Religion – sie wird zu etwas, worüber man nicht in der Öffentlichkeit spricht. Dies erlebt man besonders in Europa, noch nicht so sehr in den Vereinigten Staaten.
Drittens signalisiert Säkularisierung die zurückgehende Bedeutung von Religion in der Gesellschaft und die Dominanz anderer Elemente wie Regierung, Wissenschaft, Wirtschaft usw., die gewöhnlich außerhalb religiöser Prinzipien und Aufsicht handeln.
Hunter zielte auch auf die ihm mangelhaft erscheinende Vorgehensweise der Psychologie in Bezug auf Charakter und sagte: „… nicht zuletzt bietet sie [die Psychologie] keinen Raum für psychologische, ethische oder religiöse Rechtfertigung in der Entwicklung von moralischem Verständnis oder eigentlichem Charakter.“
Zum Teil als Antwort auf diese Beschwerde bahnt sich in der Psychologie eine neue Entwicklung an. Von den Urhebern dieser Entwicklung wird behauptet, dass es nun eine neue Welle in dieser Disziplin gäbe; so wie der Behaviorismus in den 1950ern, so wolle die neue „positive Psychologie“ Charaktereigenschaften etablieren, die es möglich machen, das volle Potenzial des menschlichen Lebens auszuschöpfen. Eine bedeutsame Anzahl von Fachleuten glaubt, dass „guter Charakter kultiviert werden kann“ und hat sich nunmehr auf 6 Kerntugenden geeinigt: Weisheit, Mut, Menschlichkeit, Gerechtigkeit, Mäßigung und Erhabenheit – daraus leitet man 24 Charakterstärken ab (siehe Christopher Peterson und Martin E.P. Seligman, Character Strengths and Virtues, 2004).
„Wir leben in einer Gesellschaft, die nicht mehr fähig ist, Glaubensbekenntnisse zu formulieren und die Gottesbegriffe, die solche Glaubensbekenntnisse heilig machen.“
Damit hier kein Missverständnis aufkommt: Diese Fachleute haben nicht vor, das zu erreichen, was Hunter als notwendig erkannt hat, indem er sagt: „Um eine Erneuerung von Charakter zu erreichen, muss man erst Glaubensbekenntnisse erneuern, die aber dann Zügel anlegen, Einschränkungen, Grenzen, Bindungen, Verpflichtungen und Zwänge auferlegen.“ Er fügt noch an: „Diesen Preis wollen wir aber nicht zahlen.“
Die neue Richtung der positiven Psychologie will eher „den Wert von Vorschriften für ein gutes Leben (moralische Gesetze) herunterspielen und sich anstatt dessen auf das Warum und Wie guten Charakters konzentrieren“.
Es ist ein interessantes Dilemma, aber von der biblischen Perspektive aus gesehen absolut unnötig. Die Schrift zeigt nicht nur, dass Charakter von Gott getestet und akzeptiert wird (das Warum und Wie), sondern auch, dass viele der Charaktereigenschaften, die die positiven Psychologen suchen und die Hunter für lebensnotwendig hält (Stärken und Tugenden), das Ergebnis davon sind, dass Gottes Sinn in Menschen wirksam ist, die sich ihm bereitwillig öffnen.
In der Schrift heißt es: „Der Geist Gottes dagegen lässt als Frucht eine Fülle von Gutem wachsen, nämlich: Liebe, Freude und Frieden, Geduld, Freundlichkeit und Güte, Treue, Bescheidenheit und Selbstbeherrschung …“ (Galater 5, 22-23; Gute Nachricht Bibel).