Der Geist Karls des Großen
Angesichts der Vorgänge zwischen den Führungen Europas inmitten der Finanzkrise wurde in einem Kommentar der New York Times kürzlich gefragt: „Wo ist Karl der Große, wenn wir ihn brauchen?“ Wenn die Einheit Europas unsicher wird, erscheint oft der Geist dieses mittelalterlichen Königs.
Was für ein Herrscher war er, und warum wird er so bewundert? In welchem Sinne war er „der Vater Europas“? Rosamond McKitterick, eine renommierte Kennerin Karls des Großen, erklärte 2011 in einem Interview mit Vision: „Auf Karl den Großen ist es zurückzuführen, dass dieses Gebiet politisch geeint war – aber es wurde auch unter christlicher Herrschaft geeint, und dieses gesamte Reich bekam eine gemeinsame, lateinisch-christliche Kultur. Hinzu kommt ein Regierungssystem, das mit dem Christentum verbunden ist, und dies aufrechtzuerhalten, ist die absolute moralische Pflicht des Herrschers. In dieser Hinsicht, denke ich, könnte er als Vater Europas gelten.“
Der Historiker Istvan Deak, der Autor des New York Times-Artikels, gab einer dominanten Religion bei seinem Vorschlag für eine bessere europäische Kooperation allerdings keinen Raum. Er schrieb: „Ein neues Konstrukt eines Reiches, das alle Nationen, Religionen und nichttotalitären Ideologien umfasst, könnte durchaus die einzige Alternative zu einer Neubelebung des Stammesdenkens mit all seinen tragischen Konsequenzen sein. Und es wird die heilige Pflicht der Verantwortlichen sein, dafür zu sorgen, dass der Rest der Gesellschaft darin ein hehres, fast religiöses Ziel sieht: einen neuen, europäischen Glauben, der zu keiner Kirche gehört.“
Deak zitiert Otto von Habsburg, den letzten Anwärter auf den Thron Österreich-Ungarns, der vor 50 Jahren schrieb, nur etwas so Mystisches wie das Heilige Römische Reich könne den Menschen Hoffnung geben, ein Gefühl religiöser Erneuerung, und die unheilvollen Wirkungen von Kirchturmpolitik, Chauvinismus, Fremdenfeindlichkeit und Rassismus bekämpfen. Hierin unterschied er sich nicht sehr von Karl dem Großen, unter dem das Heilige Römische Reich entstanden war. Nachdem ich Otto von Habsburg mehrfach bei sich zu Hause in Deutschland interviewt habe, kann ich sagen, dass seine Sicht von dem, was Europa bräuchte, eindeutig Religion im Sinne der römisch-katholischen Kirche einschloss.
„Die Päpste Stephan II. und Hadrian I. wiederholen in ihren Briefen an Karl den Großen die Erwartung der Päpste, dass der fränkische König für die Verteidigung des heiligen Petrus und der römischen Kirche verantwortlich sei und auf den Papst zu hören habe.“
Obgleich Karl der Große ein deutschsprachiger Franke war, krönte der Papst ihn am Weihnachtstag des Jahres 800 in Rom zum „römischen Kaiser“. Als „Verteidiger des Glaubens“ sollte er sich als den neuen Konstantin sehen – den Erben des römischen Kaisers, dessen Edikte im 4. Jahrhundert das Abendland christianisierten. Tatsächlich zeigt sich in vielen Aspekten seiner Herrschaft, dass er Konstantin und römischen Dingen nacheiferte.
So scheint es, dass sich Karl der Große bei der Gestaltung der Kapelle für seine Grablege in Aachen an dem Komplex orientierte, den Konstantin innerhalb der Grabeskirche in Jerusalem baute, wo das Grab Jesu vermutet wurde. Frau McKitterick meint: „Es ist möglich, dass er dachte: ,Ich werde ein wunderbares Mausoleum haben, und es wird meine Kapelle sein; und wenn ich dann sterbe, werde ich da drin sein‘. So wurde es eine Art Schrein – ein Schrein für einen Kaiser, aber im Stil eines römischen Kaisers.“
Wenn man sich auf Karl den Großen als Inspiration für die Lösung der heutigen Probleme in Europa beruft, dabei aber dessen starke religiöse und römisch-kaiserliche Orientierung übergeht, scheint das sehr ungenau zu sein. Otto von Habsburg hatte zweifellos recht, als er schrieb, dass etwas Mystisches notwendig sei, um Europa zusammenzubringen, wenn es Bestand haben soll. Was er meinte, bezog sich auf die bestehende, römisch-katholische Religion. Ob es künftig gelingt, mit einer einzelnen Religion oder mit einer wie auch immer gearteten Ökumene Europa wieder stärker zu verbinden, muss sich noch zeigen.
Was das Überleben des Euro betrifft: Diese Diskussion scheint eine vorübergehende Ablenkung bei der Suche nach dem zu sein, was Europa endgültig zusammenhalten wird.