Die Goldenen Zwanziger 2.0
„Als die Pestilenz nachließ, gaben sich alle, die überlebten, den Lüsten hin: Mönche, Priester, Nonnen und Laien, Männer und Frauen, sie alle vergnügten sich, und niemand machte sich Sorgen um Geldausgeben und Glücksspiel. Und jeder dünkte sich reich, weil er entkommen war und die Welt wieder hatte, und niemand konnte sich selbst erlauben, nichts zu tun.“
So beschrieb Agnolo di Tura, ein italienischer Chronist aus Siena, wie er die Zeit nach der Pest von 1348 erlebte. Der Schwarze Tod hatte innerhalb eines Jahres ein Drittel der Bevölkerung der italienischen Halbinsel dahingerafft. Als die Krise vorbei war, warfen die Überlebenden ihre Sorgen über Bord und stürzten sich ins Vergnügen, um das Versäumte nachzuholen.
„Nach der großen Pestilenz des vorausgegangenen Jahres lebte jeder Mensch nach Lust und Laune, und alle neigten dazu, in Essen und Trinken, Jagd, Vogelfang und Glücksspiel Vergnügen zu suchen.“
Dieses Muster wiederholte sich in anderen Ländern und Zeiten, wenn eine verheerende, weit verbreitete Krankheit gewütet hatte. Direkt nach dem Ersten Weltkrieg, von 1918 bis1920, starben schätzungsweise 50 bis 100 Millionen Menschen an der Spanischen Grippe. Auf die Religiosität, Selbstreflexion und Enthaltsamkeit jener finsteren Zeit folgten in den USA und Europa die Goldenen Zwanziger, in denen alles möglich war – von großzügigen Staatsausgaben und einer Blüte der Künste über eine wachsende Beliebtheit von Radio, Jazz und Flapper-Kleidern bis hin zu Gangstern, illegalen Bars und sexueller Zügellosigkeit.
Nicholas Christakis, Arzt und Soziologe an der Yale University, erwartet eine ähnliche Reaktion, wenn die Welt die Coronakrise überwunden haben wird: „Wenn sich aus der Geschichte etwas schließen lässt, dürfte der Konsum mit Vehemenz zurückkommen.“ Zu erwarten seien „zunehmendes Ausleben von Risikobereitschaft, Maßlosigkeit oder Lebenslust in der postpandemischen Periode. Die große Anziehungskraft von Städten wird wieder spürbar sein. Die Menschen werden unablässig Gelegenheit zu sozialem Zusammensein in großem Maßstab bei Sportveranstaltungen, Konzerten und Demonstrationen suchen.“
Anzeichen hierfür hat es bereits gegeben – manche Bürger haben die Standardmaßnahmen zur Eindämmung der Infektionsausbreitung abgelehnt und stattdessen gefeiert oder demonstriert. Die Anti-Masken- beziehungsweise Anti-Lockdown-Einstellung vieler Menschen hat weltweit zu Konfrontationen mit der Polizei und zu neuen Infektionswellen, Krankheit und Tod geführt.
Freiheit ist zu einer Kampfparole gegen die von Gesundheitsbehörden und Regierungsinstanzen empfohlenen Einschränkungen geworden und hat die uralte Frage wieder aufgeworfen, was Vorrang hat, wenn die Forderung nach Freiheit für den Einzelnen der Gesundheit und dem Wohlergehen der Mitmenschen gegenübersteht.
Die Pandemie hat ein Schlaglicht auf solche Zweifelsfragen geworfen, doch sie hat auch Chancen für selbstloses Dienen geschaffen. Christakis berichtet von 43 Mitarbeitern eines Petrochemiewerks, die freiwillig einen Monat lang rund um die Uhr Schichten fuhren, um Rohmaterial für FFP2-Masken und andere Schutzausrüstungen zu produzieren. Sie verließen das Werk während dieser Zeit nicht und produzierten genügend Polypropylen für eine halbe Milliarde Masken. Das war ihr Beitrag als Gegenleistung für den selbstlosen Dienst der überlasteten, überarbeiteten und unterversorgten Mitarbeiter des Gesundheitswesens.
Es erinnert an etwas, das wir in Vision so oft behandelt haben, weil es ein Aspekt dessen ist, was wir glauben. Die Antwort auf so viele unserer Probleme liegt darin, wie wir andere Menschen sehen. Wenn Zuwanderer oder Obdachlose, eine bestimmte ethnische Gruppe, Rasse, Geschlecht oder Generation immer als die anderen gesehen werden, nie genauso behandelt werden wie ich selbst oder wir selbst, dann gibt es keinen Fortschritt. Egoismus wird herrschen, Mitgefühl und Empathie werden nichts als Wörter sein, und es wird nie gerecht zugehen.
Nicht umsonst hat der, der allen diente, gesagt: „Wie ihr wollt, dass euch die Leute tun sollen, so tut ihnen auch!“ (Lukas 6, 31, Luther 1984)