Krankes Denken
Das Jahr 2020 wird uns nicht nur wegen der Coronapandemie in Erinnerung bleiben, die bis jetzt fast zwei Millionen Todesopfer gefordert hat, sondern auch als eine Zeit, in der sich andere „Krankheitskeime“ ausgebreitet haben. Bizarre Verschwörungstheorien gibt es seit geraumer Zeit – die Illuminati und die Neue Weltordnung, das Attentat auf John F. Kennedy, der Anschlag auf das World Trade Center in New York. Doch heute haben sie in einigen Teilen der Erde angesichts wirtschaftlicher, sozialer und politischer Unruhen epidemische Ausmaße angenommen; unter anderen sind QAnon und die Verschwörungstheorie des Deep State aufgekommen.
Man könnte sich fragen, warum manche Menschen auf falsche Vorstellungen hereinfallen, die schon auf den ersten Blick einfach unsinnig sind. Warum akzeptieren manche so bereitwillig, dass eine anonyme Quelle, die absonderliche Spekulationen von sich gibt, wirklich im Besitz der Wahrheit ist? Ist das schlicht ein Wesenszug des Menschen?
Wenigstens ein Aspekt unseres Wesens spielt eindeutig eine Rolle: das Bedürfnis mancher Menschen, sich überlegen zu fühlen und für Probleme – reale oder vermeintliche – anderen die Schuld zu geben. So ist Antisemitismus ein zentraler Aspekt mancher Verschwörungstheorien. Der klassische Fall ist die literarische Fälschung Die Protokolle der Weisen von Zion. Die Protokolle wurden 1903 als Artikelreihe erstmals veröffentlicht; sie waren wahrscheinlich das Werk zaristischer russischer Agenten und ein Plagiat aus mehreren älteren Quellen. Als angeblicher Abriss der jüdischen Pläne zur Übernahme der Weltherrschaft wurden sie in viele Sprachen übersetzt und fanden rasch internationale Verbreitung. Doch zu Beginn der 1920er-Jahre deckte die Presse in England und Deutschland den Schwindel auf. Trotzdem hatten die Protokolle Einfluss auf die deutsche Bildung in der folgenden Nazizeit; sie sind immer noch in gedruckter Form erhältlich und werden auf Internetseiten mit Verschwörungsmythen, die bestimmte neofaschistische, fundamentalistische und antisemitische Gruppierungen favorisieren, als Fakten akzeptiert. So überrascht es nicht, dass die Rothschilds, George Soros und die internationale jüdische Gemeinschaft häufig Zielscheiben solcher Fehlinformationen sind.
„Für Linke wie Rechte gibt der klassische Verschwörungsglaube Geschehnissen, die in ihrem Denken standardmäßigen oder offiziellen Erklärungen trotzen, Ordnung und Sinn. […] Es ist Verschwörung mit einer Theorie.“
Natürlich geht das Problem weit über den Antisemitismus hinaus. Heute hört man z. B. die ebenso fiktiven Behauptungen, die Coronapandemie sei eine Erfindung, ein Komplott der Linken, der Demokratischen Partei der USA, um den republikanischen Präsidenten vor der Wahl von 2020 schlecht aussehen zu lassen, oder der pharmazeutischen Industrie, um Menschen mit der Impfung Identitätsmarker einzupflanzen. Stichwort Bill Gates’ Interesse an der Impfstoffentwicklung und die „Great Reset“-Initiative des Weltwirtschaftsforums – ein Plan zur weltweiten Entwicklungsförderung durch multilaterale Zusammenarbeit angesichts der aktuellen Pandemie. Um die Menschheit vor einem angeblich kolossalen Schwindel zu retten, so wird „wahren Gläubigen“ versichert, hätten Erlöser bereits die politische Bühne betreten oder sie harrten hinter den Kulissen darauf, das „große Erwachen“ anzuführen.
Wenn sich dies wie ein Drehbuch liest, liegt das daran, dass es alle dazugehörigen Merkmale aufweist: eine Mixtur aus etwas Wahrheit und viel Dichtung, Gut und Böse, Geld und Macht, Helden und Schurken.
Warum glauben Menschen an solche Fantastereien?
In der Welt von heute – zerrissen von verschiedensten Meinungen, an denen stolz und lautstark festgehalten wird – ist es verständlich, dass die menschliche Sehnsucht nach Einheit und Gleichgewicht uns geneigt macht, einende Gedanken und einfachere Zeiten zu suchen. Die Historikerin Anne Applebaum drückt es so aus: „Der emotionale Reiz einer Verschwörungstheorie liegt in ihrer Einfachheit. Sie erklärt komplexe Phänomene weg, liefert Gründe für Zu- und Unfälle, bietet dem Gläubigen das befriedigende Gefühl, besonderen, privilegierten Zugang zur Wahrheit zu haben.“
Dementsprechend haben einige Politiker Verschwörungsmärchen in Umlauf gebracht, um den Nationalstolz wiederherzustellen und im Angesicht imaginärer Feinde Sicherheit zu bieten. Nach dem Ersten Weltkrieg kehrte Adolf Hitler verbittert zum Leben als Zivilist im vollkommen entmutigten Deutschland zurück. Der Konflikt hatte seine extremen, nationalistischen Empfindungen verstärkt, und nun gab er Juden und Marxisten die Schuld an der Niederlage des Landes. Im Landsberger Gefängnis, wo er wegen seiner Beteiligung an einer versuchten Machtübernahme in Bayern im Jahr 1923 einsaß, schrieb er den ersten Band seiner Autobiografie Mein Kampf, in dem er Die Protokolle der Weisen von Zion als wahr bestätigte. Er schrieb, „dass sie mit geradezu grauenerregender Sicherheit das Wesen und die Tätigkeit des Judenvolkes aufdecken und in ihren inneren Zusammenhängen sowie den letzten Schlusszielen darlegen“. So trug die Fälschung über eine Verschwörung zu dem abscheulichsten Verbrechen eines wahnsinnigen Diktators bei – der Vernichtung von fast sechs Millionen unschuldiger jüdischer Männer, Frauen und Kinder.
Heute bereitet das Interesse an dem Phänomen QAnon in Deutschland Fachleuten für Rechtsextremismus Sorgen. In manchen Aspekten erinnert es sie an den europäischen Antisemitismus des Mittelalters, als dieselbe ethnische Gruppe zum Sündenbock für die Probleme eines Landes gemacht wurde. Wie die Protokolle im 20. Jahrhundert sind auch die heutigen Verschwörungsmythen gegen eine vermeintliche globale Elite gerichtet, die darauf aus sei, alle Menschen und Dinge zu kontrollieren. Und sie erinnern oft an vertraute Themen und Symbole. Bilder des Sturms auf das US- Kapitol im Januar gingen um die Welt; eines zeigte einen Mann in der Meute, auf dessen Sweatshirt Auschwitz, wo mehr als eine Million Menschen starben, offen verherrlicht wurde. Kleidung mit antisemitischen Motiven wie diesem oder mit der Abkürzung 6MWE (6 million wasn’t enough, 6 Millionen waren nicht genug) ist überwiegend bei Neonazis und sonstigen weißen Rassisten beliebt.
„Verschwörungsglaube […] äußert sich in Form bloßer Behauptung und Andeutung. Auf Beweise und Argumente verzichtet er. Er wird durch soziale Medien ausgeschmückt und verbreitet. Und er wird durch reine Wiederholung validiert.“
Verschwörungstheorien schüren Misstrauen, verstärken Entzweiung und fördern Gewalt. Das Arsenal der Täter besteht aus Fehlinformation, Gerüchten und Angstmacherei, um eine loyale Gefolgschaft zu gewinnen oder Menschen zu erwünschten Taten anzustacheln. Die aktuelle Tendenz, sich dieser Taktiken zu bedienen, um eine gegnerische Partei oder Sichtweise in Verruf zu bringen, ist besorgniserregend. Doch es ist erkennbar, dass Personen, die eine Plattform für die Verbreitung und endlose Wiederholung ihrer Täuschungen haben, zunehmend in dieser Weise vorgehen. Vielleicht sollte man dann nicht überrascht sein, dass dieser „neue Verschwörungsglaube viele Anhänger hat – manche gutgläubig, andere bösartig“, wie die Politologinnen Russell Muirhead und Nancy Rosenblum schreiben.
Die Welt wird die Übel, die aus dem giftigen Boden von Verschwörungsmythen erwachsen, nie loswerden, wenn sie nicht eine andere Art von „Impfung“ bekommt – eine, die den Geist vor Vorurteilen, Ungerechtigkeit, Unrecht und Hass schützt. Mehr über dieses Gegenmittel findet sich in der Vision-Artikelsammlung mit dem Titel „Der Weg zur persönlichen Veränderung“.