Putins Trumpfkarte: Religion
Ein bedeutender Faktor bei der russischen Invasion der Ukraine ist ihr religiöser Aspekt. Es ist verständlich und unabdingbar, dass in erster Linie von dem überwältigenden Leid berichtet wird. Doch wenn wir aus dieser anhaltenden Tragödie lernen wollen, müssen wir ihre verschiedenen Dimensionen in den Blick nehmen – und eine davon ist religiös. Wie er selbst bekennt, hat Wladimir Putin in den letzten Jahren zur Religion gefunden. Als Kleinkind noch heimlich getauft, hat sich der einstige KGB-Agent der Sowjetunion die Glaubensstruktur der Russisch-Orthodoxen Kirche inzwischen offen auf die Fahnen geschrieben. Ein dunklerer Aspekt ist, dass er die Kirche braucht und die Kirche ihn, um gemeinsam ein neues Russland im alten Gewand zu erschaffen.
Hinzu kommt eine Versuchung für so manchen Diktator: der Messianismus – die Vorstellung, ein Mann der Vorsehung mit einer von Gott übertragenen Mission zu sein. Die Forscher Fiona Hill und Clifford Gaddy verweisen auf Putins „feste Überzeugung, dass seine persönliche Bestimmung mit der Bestimmung und Vergangenheit des russischen Staates verwoben ist“. Die britische Church Times hat angemerkt: „Putin wäre allerdings nicht der erste Diktator mit einem messianischen Komplex, und auch nicht der erste, der glaubt, er könne Glauben mit Brutalität erzwingen.“
Einer von Putins grausamen Vorgängern, der orthodox geschulte Soso (Josef) Dschugaschwili, genannt Stalin, manipulierte im 20. Jahrhundert religiöses Empfinden zu seinem Vorteil. Zwar wurde er später Atheist, doch war es ihm offenbar nicht peinlich, dass er in einem Moskauer Schaufenster als Christus beim letzten Abendmahl präsentiert wurde, dem – analog zu Johannes dem Täufer – Lenin aus einem Bilderrahmen bestätigend über die Schulter schaut. Doch wie es scheint, will Putin Stalin nicht imitieren. Zwar mag Putins Bekenntnis zur Religion in Form der Russisch-Orthodoxen Kirche ebenso zynisch sein, doch ist das, was er will, keine Rückkehr zum Kommunismus sowjetischer Art.
Wie bei anderen Themen, die für ihn von großer Bedeutung sind, scheint Putin Religion als ein weiteres Mittel zu nutzen, um sich mit einem Teil der Bevölkerung in einem neuen, „souverän demokratischen“ Russland zu identifizieren.
„Jede Rolle, in der sich Putin zeigt, und jede Aktion, die er unternimmt, erweist einer bestimmten Gruppe ein gewisses Maß an Achtung und validiert den Platz dieser Gruppe in der russischen Gesellschaft.“
Und hier kann man die Ukraine aus religiöser Perspektive ausnutzen. Tage vor Beginn seiner Invasion im Februar 2022 sagte er dem russischen Volk in einer landesweit ausgestrahlten Ansprache: „Die Ukraine ist für uns nicht nur ein Nachbarland, sondern ein integraler Bestandteil unserer eigenen Geschichte, Kultur und unseres spirituellen Raums.“ Was er mit dem „spirituellen Raum“ meint, ist das einstige Territorium des mittelalterlichen Rus, das im 9. Jahrhundert zur osteuropäischen Orthodoxie konvertierte. Rus umfasste das heutige Belarus (Weißrussland), die Ukraine und Westrussland.
In dieser Hinsicht ist das Schisma zwischen der ukrainischen und der russischen Orthodoxie, noch vertieft doch die Annektierung der Krim im Jahr 2014 und nun durch den Überfall auf die Ukraine, ein Schlag gegen alles, was in Putins Augen „das heilige Russland“ (swjataja Rus) bedeutet. Er akzeptiert die Unterstützung des Kriegs durch den russisch-orthodoxen Patriarchen Kirill, und die Kirche begrüßt Putins Einsatz für ihr Streben nach Einheit des Glaubens. Hill und Gaddy schreiben: „In Putins System und Formulierung ist es Rus (Russland), das göttlich (swjataja oder heilig) ist. […] Die Betonung von swjataja Rus greift eine weitere russisch-orthodoxe und zaristische Tradition auf, in der Rus etwas Größeres meint als die Idee des russischen Staates und Volkes und die gesamte Glaubensgemeinschaft der Russisch-Orthodoxen umfasst.“ Aus Kirills Sicht ist Putin „ein Wunder Gottes“: gesandt, um seine Sehnsucht nach Moskau als dem „Dritten Rom“ zu unterstützen – eine Vorstellung des Zarentums von Rus aus dem 16. Jahrhundert, Moskau als Nachfolger Roms und Konstantinopels und somit als Zentrum der Christenheit zu positionieren, ab dem 19. Jahrhundert aber auch als Erben der politischen Macht des Römischen Reichs.
Nichts von diesem komplexen historischen Hintergrund rechtfertigt die Vernichtung von Glaubensgenossen, um nicht zu sagen Mitmenschen – viele davon Zivilisten, Männer, Frauen und Kinder –, in einem Kreuzzug für religiös-politische Einheit. Leider endet die Geschichte von Imperien und ideologisch getriebenen Aggressoren immer auf die gleiche Weise, und das nicht ohne unermessliches Leid.
Gibt es noch einen Weg zum Frieden? Gerade der, dessen Beispiel diese Aggressoren angeblich folgen, hat Gewaltlosigkeit gelehrt: „Wer das Schwert nimmt, der soll durchs Schwert umkommen.“ (Matthäus 26, 52, nach Luther 1984) Ohne sich an alle Lehren Christi zu halten, werden die, die reden, aber nicht handeln, nie seinen Segen haben und ihre Ziele auf Dauer nicht erreichen.