Gestresste Familien
In unserer wettbewerbsorientierten Gesellschaft ist es eine Versuchung, seine Kinder zu „Trophäen-Kindern“ zu machen - und das auf Kosten der gemeinsamen Zeit als Familie.
Als Rhonda Parker den Spielplatz erreichte, war sie erleichtert, dort eine Frau bei den Schaukeln zu sehen. Ihr Kind schien etwa im selben Alter wie Rhondas Tochter Emily zu sein. Rhonda schob ihre Tochter Emily an und lächelte der Mutter des anderen Mädchens zu.
Die Frau schaute Emily abschätzend an und fragte: „Wie alt ist sie denn?“ „Sie wurde gerade vier“, antwortete Rhonda. „In welche Vorschule geht sie?“ „Sie geht in keine Vorschule“, antwortete Rhonda zögerlich. „Dann vielleicht Musikunterricht oder Tanz?“ „Nein - auch nicht“, murmelte sie und fühlte sich inzwischen ziemlich unwohl.
„Lauren geht am Montag, Mittwoch und Freitag morgens in die Vorschule“, sagte die andere Mutter. „Dann verbleibt Dienstag- und Donnerstagmorgen für den Schwimmunterricht. Montag nachmittags hat sie Ballettunterricht, Mittwoch nachmittags geht's ab zum Klavierunterricht und am Donnerstag besucht sie nachmittags einen Leseklub in der Bücherei. Ich komme bei diesem Stundenplan kaum nach, aber - das ist es auf jeden Fall wert.“ Nach einer Pause fügte sie noch hinzu: „Haben Sie keine Angst, dass Ihre Tochter in ihrer Entwicklung zurückbleiben wird?“
„Zurückbleiben?“, wiederholte Rhonda ungläubig. Sie hatte Emily zwar bisher nur ein paar Mal auf der Schaukel hin und her geschupst, aber ihr Interesse an einer weiterführenden Unterhaltung war erloschen. Sie entschuldigte sich, nahm Emilys Hand und ging zu den Rutschen hinüber, während sie sich einerseits über die Einstellung der Frau ärgerte und andererseits überlegte, ob sie am Ende Recht hatte und ihre Emily durch die wenigen Aktivitäten nicht doch in ihrer Entwicklung zurückbleiben könnte?
Heutzutage werden viele Eltern mit denselben Fragen konfrontiert. Sie fragen sich, ob ihre Kinder am Ende entweder etwas verpassen oder in ihrer Entwicklung „hinterherhinken“, wenn man sie nicht ständig zu irgendwelchen Aktivitäten bringt. Andererseits, wenn sie dies tun, fühlen sie sich oft eher als Chauffeure ihrer Kinder denn als Eltern.
Vor einer Generation waren dies noch keine ernst zu nehmenden Probleme für Eltern. Die meisten von uns, die jetzt Eltern sind, fuhren als Kinder und Jugendliche an Nachmittagen und Wochenenden mit Freunden auf Fahrrädern umher, dachten sich auf leeren Grundstücken Spiele aus, kletterten auf Bäume, übten sich im Springseilhüpfen oder spielten Himmel-und-Hölle - wir hatten einfach zwanglosen Spaß.
Oft sind es auch die Eltern selbst, die ihre Kinder in alle möglichen Aktivitäten drängen, angefangen mit Tanzunterricht, Computerkursen, Theatergruppen und Kunstunterricht bis zu Sportaktivitäten wie Fußball, Basketball, Gymnastik oder Eishockey. An sich keine schlechten Beschäftigungen, aber müssen Kinder vom Vorschulalter bis über die Teenagerjahre hinaus unablässig und pausenlos beschäftigt werden?
William J. Doherty, Professor der Familienwissenschaften an der University of Minnesota bemerkt in seinem Buch Take Back Your Kids (Holen Sie Ihre Kinder zurück), Sorin Books, 2000: „Der Lebensrhythmus ist schneller geworden und nimmt den Familien die Zeit zum Zusammensein und den Kindern die Zeit, einfach draußen herumzustreunen und Kind zu sein.“ Wochenenden waren einst für die Familie, um zurückschrauben zu können und zusammen zu entspannen, sagt er. „Heutzutage sind Eltern an den Wochenenden meist damit beschäftigt, ihre Kinder von und zu den verschiedenen Sportaktivitäten zu fahren, und das zusätzlich zu den während der Woche vernachlässigten Aufgaben im Haushalt - beide Eltern sind schließlich vollzeitig berufstätig.“
Laut einer in 2001 von der University of Minnesota durchgeführten Studie reduzierte sich in den vergangenen 20 Jahren die Freizeit der amerikanischen Kinder um 12 Stunden pro Woche; während dieser 20 Jahre ging die Gesprächszeit zwischen den Familienmitgliedern pro Haushalt um 50 Prozent zurück.
ELTERN UNTER DRUCK
Die meisten Eltern finden es nicht unbedingt ideal, von einer Aktivität zur nächsten zu rasen. Warum setzen sie dann trotzdem sich und ihre Kinder diesem Lebensstil aus? Alvin Rosenfeld, Arzt und der Autor des Buches The Over-Scheduled Child: Avoiding the Hyper-Parenting Trap (Das überbeschäftigte Kind: Vermeidung der Falle für Über-Eltern), St. Martin's Press, 2000, ist der Meinung, dass Eltern oft unter einem gesellschaftlichen Gruppenzwang stehen, ihren Kindern mehr bieten zu müssen. „Sie sehen, wie die anderen Kinder alle möglichen Aktivitäten ausüben und meinen dann, das sei es eben, was man tun müsse“, bemerkt Rosenfeld.
Eltern glauben heutzutage, dass sie nur dann gute Eltern sind, wenn sie jede freie Minute ihrer Kinder mit bereichernden Aktivitäten ausfüllen.
Eltern glauben heutzutage, dass sie nur dann gute Eltern sind, wenn sie jede freie Minute ihrer Kinder mit bereichernden Aktivitäten ausfüllen. Doherty meint dazu: „Unsere Erwartungen, was unsere Kinder erleben sollten, was sie lernen sollten und was sie tun sollten, sind heute viel höher.“ Er fügt hinzu: „Frühere Generationen hatten mehr Verständnis dafür, dass es für Kinder das Beste ist, wenn man sie außer den schulischen und kirchlichen Verpflichtungen einfach nur mit anderen Kindern alleine spielen lässt. Heute sehen wir in Kindern mehr das kreative Potential. Und um dieses Potential zu fördern, melden Eltern ihre Kinder zu allen möglichen fest geplanten und durchstrukturierten Aktivitäten an.“
Nicht zu vergessen ist das Problem, dass Eltern auch (aus Eitelkeit?) in eine Art Wettbewerb mit anderen Eltern geraten können, welches ihrer Kinder nun der schnellste Sportler, der beste Künstler, der talentierteste Musiker sei oder welches Kind am frühsten lesen kann usw. „Wir leben in einer sehr wettbewerbsorientierten Gesellschaft“, bemerkt Doherty. „Wenn man zum Beispiel jemanden wie Mary Lou Retton in einem Olympischen Wettkampf sieht, kommt leicht die Idee auf: ,Wenn ich meine Tochter mit sechs Jahren zum Gymnastikkurs schicke, dann könnte sie eventuell ja auch so gut werden wie sie‘. Und so wird mehr und mehr Druck auf die Kinder ausgeübt.“
Laut Rosenfeld tendieren Eltern bewusst oder unbewusst dazu, ihre Kinder zu „Trophäen-Kindern“ zu formen, um sich vor anderen Eltern damit brüsten zu können. „Es geht darum, mit den Nachbarn mitzuhalten, zwar nicht unbedingt mit ihrem Besitz, sondern mit ihren Kindern“, meint er. Manchmal liegt die Ursache solcher Trophäenjagd auch in den eigenen versäumten Träumen, die nun durch die Kinder nachgeholt werden sollen.
Auch wenn die Eltern selbst diesen Wettbewerb ablehnen, bemerkt Doherty, „sehen sie dennoch all die anderen 5-Jährigen, die schon sehr gut Fußball spielen können oder einige Judogriffe beherrschen, und sie fühlen sich ihrem Kind gegenüber schuldig, wenn sie ihm diese Gelegenheiten vorenthalten.“
LEBEN AUF DER ÜBERHOLSPUR
Ein weiterer Aspekt dieses Problems ist, dass die meisten Eltern heute viel mehr beschäftigt sind als Eltern früherer Generationen. In vielen Haushalten arbeiten beide Elternteile vollzeitig, fahren mindestens eine Stunde von und zu ihrer Arbeit und sind dadurch in einigen Fällen mehr als 10 Stunden von zu Hause weg.
„Wenn beide Eltern außerhalb arbeiten, müssen sich Kinder nach der Schule oder in den Ferien irgendwo aufhalten, und dies bedeutet, dass man sie in außerschulische Aktivitäten oder im Sommer in Tageshorte einschreiben muss“, meint Susan K. Mackey, eine Psychologin am Family Institute der Northwestern University.
Nicht nur, dass beide Elternteile arbeiten, sie sind auch oft gezwungen, dem Verdienst des Lebensunterhalts viel mehr Zeit und Konzentration zu widmen. Frau Mackey ist der Meinung, dass „heutzutage enormer Druck auf den Arbeitnehmern lastet - wenn sie nicht bereit sind, 50 bis 60 Stunden pro Woche zu arbeiten, kann es passieren, dass sie der nächsten Personalkürzung zum Opfer fallen“. Sie meint auch, dies sei ein gewaltiger Kontrast zu den 50er-Jahren, als den Menschen ihre Arbeitsstelle weitgehend garantiert war, wenn sie als loyale Mitarbeiter wöchentlich ihre 40 Stunden arbeiteten. Heute ist das nicht mehr der Fall. Überstunden und Wochenendarbeit sowie eine 24-stündige Bereitschaft ist in vielen Firmen zum Standard geworden.
Das Economic Policy Institute (Institut für Wirtschaftspolitik) in Washington D.C. führte Schätzungen von Jahres-Arbeitsstunden, u. a. auch von Eltern, durch. Laut einer Studie vom Jahre 2001 wuchs das Familieneinkommen eines Mittelstands-Ehepaares von 1989 bis 1998 um 9.2 %. Ein beträchtlicher Teil dieses Wachstums resultierte aus einer Zunahme von 246 Arbeitsstunden pro Jahr oder etwa sechs extra Wochen zusätzlicher Arbeit pro Familie und Jahr.
Wenn Eltern mehr beschäftigt sind, wirkt sich das auch auf die Kinder aus. Wenn eine Mutter erst um 18 Uhr nach Hause kommt, sind die Kinder normalerweise nach der Schule in einem Aktivitäten-Programm. Wenn beide Eltern 40 bis 50 Stunden pro Woche arbeiten, werden die Abende, die normalerweise zum Entspannen mit der Familie gedacht wären, mit Haushalt, Einkaufen und sonstigen Erledigungen ausgefüllt sein. Damit nicht genug: Die Eltern müssen außerdem Zeit einplanen, um Musikvorführungen der Musikschule, Fußballspiele oder sonstige Darbietungen ihrer Kinder zu besuchen. Das Resultat ist notgedrungen ein stressiger, zeitaufwendiger Lebensstil für jeden in der Familie.
„Es scheint Teil unserer Kultur geworden zu sein, dass wir unablässig beschäftigt sein müssen.“
Auch in den „traditionellen“ Familien, wo ein Elternteil zu Hause bleibt, läuft das Leben hektischer ab als früher. „Es scheint Teil unserer Kultur geworden zu sein, dass wir unablässig beschäftigt sein müssen“, sagt Susan K. Mackey.
QUALITATIV HOCHWERTIGE ZEIT?
Natürlich müssen Eltern Geld verdienen, und das mag bedeuten, dass sie manchmal ein paar Überstunden machen oder hie und da einen Abendkurs besuchen müssen. Und zweifellos kann auch so manche Aktivität für ein Kind sehr bereichernd und erfüllend sein. Aber ist es wirklich notwendig, den Terminkalender so vollzubuchen, dass man ständig irgendwohin hetzen muss?
Zu viele Aktivitäten außer Haus beschneiden die Zeit mit der Familie, die ohnehin schon rar genug ist. Das Journal of the American Medical Association fand heraus, dass Kinder seit 1960 im Durchschnitt zehn Stunden weniger Zeit pro Woche mit ihren Eltern verbringen - hauptsächlich deswegen, weil beide Elternteile arbeiten und dazu noch Überstunden machen. Und wenn dann die Eltern mal zu Hause sind, sind sie oft so ausgelaugt und müde, dass sie keine emotionelle oder physische Energie mehr für ihre Kinder aufbringen können.
Oft finden die einzigen Gespräche zwischen Eltern und Kindern im Auto, auf dem Weg zum Sport oder sonstigen Aktivität statt und laufen oft wie folgt ab: „Hast Du Deinen Rucksack dabei?“; „Beeil' dich, wir kommen zu spät!“; „Wann soll ich dich noch mal abholen?“ Gewiss keine sehr hochwertige und erbauende Unterhaltung.
„Ich bin der Meinung, dass heutzutage jeder gehetzt ist, und das macht die wenige Freizeit umso wertvoller“, meint Rosenfeld. „Wir sollten ernsthaft darüber nachdenken, wie wir unsere Freizeit verbringen. Man kann sein Kind von einer Aktivität zur nächsten fahren, oder man kann die Zeit nur mit seinem Kind allein verbringen - sei es auch nur, um das Abendessen gemeinsam zuzubereiten oder zu spielen.“ Er merkt weiter an, dass Kinder es natürlich gern haben, wenn die Eltern bei Sportveranstaltungen anwesend sind. Dies kann jedoch nicht als qualitativ hochwertige gemeinsame Zeit als Familie angesehen werden. Wenn dies alles wäre, so führt Rosenfeld aus, so sei das „Kindererziehung von der Seitenlinie aus“.
Nicht genug Zeit als Familie zu verbringen kann bedeuten, dass Kindern der stabilisierende, ihren Charakter formende Einfluss ihrer Eltern vorenthalten bleibt. „Das kann dazu führen, dass Eltern wenig über das Leben ihrer Kinder wissen und der Einfluss von Medien und Altersgenossen den positiven Einfluss der Eltern überschatten“, sagt Isabelle Fox, Familienberaterin und Autorin des Buches Being There: The Benefits of a Stay-at-Home Parent (Da sein: Die Vorteile eines Elternteils zu Hause), Barron's, 1996.
Wenn Eltern nur ihre Arbeit im Kopf haben oder die Leistungen ihrer Kinder als eine Art Wettbewerb sehen, ist das für die Kinder eine falsche Botschaft in Bezug auf das, was wirklich wichtig ist im Leben. „Die Botschaft, die Kinder heutzutage oftmals erhalten, ist, dass Materialismus wichtiger ist als wahre Werte“, meint Frank Vitro, Psychologieprofessor an der Texas Woman's University. „Kinder nehmen dann an, dass Karriere alles ist, was im Leben zählt, und dass Familienbeziehungen im Hintergrund stehen.“
Kinder brauchen Zeit mit der Familie, für Kinder im Schul- und Vorschulalter ist dies am allerwichtigsten. „Speziell in diesem Alter sollte bei Kindern das Hauptaugenmerk darauf gelegt werden, Zeit mit Mama und Papa zu verbringen statt auf irgendwelchen Aktivitäten“, meint Vitro. „Wenn Sie nicht regelmäßig Zeit mit ihren Kindern verbringen, solange diese klein sind, wie wollen Sie Einfluss ausüben, wenn diese Teenager geworden sind und Sie ihnen beibringen wollen, nicht zu rauchen oder Drogen zu nehmen? Warum sollten Teenager auf Eltern hören, die in den Jahren vorher keine starke Bindung zu ihnen aufgebaut haben?“
Abschließend lassen Sie mich mit Doherty sagen: „Es ist wichtig, sich als Eltern ständig daran zu erinnern, dass die Kinder nicht immer so klein sein werden. Wenn diese Zeit einmal vorüber ist, kann man sie nie wieder zurückholen. Wir sollten deshalb die kurze Zeitspanne, die wir mit unseren Kindern haben, nutzen und uns an ihnen erfreuen.“