Hinter dem Urknall, Teil 1: Warum der Ursprung zählt
„Ich bin davon ausgegangen, es einfach für ausgemacht zu nehmen, dass der Anfang nichts hinter sich und nichts vor sich hatte – dass er in der Tat ein Anfang war [...]“
„[...] Sind wir dann nicht fürwahr mehr als berechtigt, des Glaubens zu leben [...] , dass die Vorgänge, denen wir hier nachzusinnen wagten, ewig und ewig und ewig erneut werden; dass ein neues Weltall ins Dasein schwillt und dann in Nichts zerfällt – bei jedem Schlage des Gottesherzens?“
Es gibt kaum eine größere Frage als diese: „Woher kommt das Universum?“ Seit Edwin Hubbles Berechnungen im Jahr 1929 zeigten, dass sich Galaxien jenseits unserer Milchstraße mit einer zu ihrem Abstand von uns proportionalen Geschwindigkeit entfernen, wurde der so genannte „Urknall“ die vorherrschende Theorie für die Entstehung des Kosmos und gilt als Antwort auf diese Grundfrage. Von den höchsten Höhen der wissenschaftlichen Astronomie bis zu den tiefsten Betrachtungen über das Buch Genesis kommt die Theorie in fast jeder modernen Darstellung unseres Ursprungs zur Sprache. Doch die Benennung des Ereignisses bedingt nur eine weitere Frage: Was geschah vor dem Urknall?
Ist eine Antwort auf diese Frage überhaupt möglich? Vielleicht müssen wir uns mit Entstehungsmythen der Antike begnügen - dass die Göttin Eurynome Ordnung aus dem Chaos schuf, dass ein goldenes Ei gespalten wurde und daraus Himmel und Erde entstanden oder dass die Zivilisation auf dem Rücken einer großen Schildkröte sitzt. Vielleicht können wir nichts Besseres sagen als „Da stehen lauter Schildkröten aufeinander“, um einen von dem Astronom Stephen Hawking zitierten Satz zu bemühen. Denn Kosmologen schlagen zwar unermüdlich Antworten vor, doch sind ihre Lösungen generell nicht nur überraschend, sondern widersprüchlich und können ebenso absurd wirken wie die antiken Mythen. Das Spektrum der Hypothesen reicht von Quantenfluktuationen über vibrierende, multidimensionale Stränge bis zu multiplen Universen, die gerade jetzt spontan entstehen. Der Mathematik dieser letzteren Vorstellung zufolge gibt es zweifelsfrei einen identischen Doppelgänger von Ihnen, der genau jetzt diesen gleichen Absatz liest, in einem anderen Universum - das wir allerdings nie entdecken werden.
Für solche, denen dies nicht anspruchsvoll genug ist, gibt es Theorien, die ganz ohne Anfang auskommen und unsere aktuelle Vorstellung eines expandierenden, endlichen Universums durch die eines unendlichen, sich konstant erneuernden Universums ersetzen.
Eines ist sicher bei all dieser Unsicherheit: Die Antwort ist nur zu finden, wenn man zunächst hinter den Urknall vorstößt. In diesem zweiteiligen Artikel untersucht Vision das menschliche Streben, unseren Ursprung zu verstehen, und zwar nicht nur die Geschichte des Kosmos, sondern die erste Ursache.
Der Ursprung zählt
Seit Jahrtausenden zieht uns die Majestät des Nachthimmels an, wo wir letztlich einen Grund für unser Hiersein offenbart zu finden hoffen. Bei unserer Suche haben wir zahllose Mythen und Erklärungen erfunden. Und in all unseren Geschichten, erzählt in antiken Religionen, heidnischen Riten, ja selbst den außergewöhnlichen Spekulationen Edgar Allan Poes, haben wir versucht, einer scheinbar beliebigen, gefährlichen und sinnlosen Welt Sinn und Trost abzuringen.
Leider waren viele Geschichten, die zunächst einleuchteten, nicht auf Dauer haltbar. Im Lauf der Zeit folgten dank neuer Hilfsmittel der Beobachtung neue Konfigurationen, neue Erklärungen, die neue Erkenntnisse brachten. Immer wieder wurden alte Theorien durch neue abgelöst, und jedes Mal wurde der Korb mit „schrulligen Ideen“ ein wenig voller, wenn ein überholter Mythos über einen anderen hineingedrückt wurde.
Doch seltsam ahnungsvoll präsentiert Poes Prosadichtung „Eureka“, die ein Jahrhundert vor der modernen Ära der Kosmologie entstand, eine überraschend zeitgenössische Sicht der kosmischen Geschichte. Dass zu Poes Zeit nichts von dem bekannt war, auf das sich unsere moderne Vorstellung von der Entstehung/Ausdehnung des Alls stützt, ist faszinierend. Woher kamen seine Ideen eines „ursprünglichen Kerns“ (Urteilchens), einer letzten „Einfachheit“ in der Struktur der Materie und einer „Aufeinanderfolge von Universen“, die so viel Ähnlichkeit mit den heutigen Theorien von Urknall, Teilchenphysik und multiplen Universen haben?
Die Verbindung mit einer spirituellen Grundlage, die Poe in die Struktur des Universums einbettete, mag nicht jedem gefallen. Doch seine Beschreibung eines Universums, das sich von einem singulären Anfang, aus einem geheimnisvollen Nichts heraus, ex nihilo ausdehnt, ist dem Urknallszenario, das in der Wissenschaft erstmals in den 1920er-Jahren vorgestellt wurde, bemerkenswert ähnlich. Damals und während der folgenden 40 Jahre haben die Beweise, die zunächst von Edwin Hubble und dann von anderen Astronomen zusammengetragen wurden, zwar nicht den „Schlag des Gottesherzens“ bestätigt, aber zumindest die Vorstellung einer Abfolge kosmischer Ereignisse, aus der das Universum hervorging.
Hier drängt sich die Frage nach der Quelle unserer Erkenntnisse auf: Ist Naturwissenschaft wirklich objektiv? Ist Kunst bloße Fantasie?
Bei der Enthüllung der Aufnahme des Weltraumteleskops Hubble vom „Hubble Ultra Deep Field“ im Jahr 2004 gab Steven Beckwith, der Direktor des Instituts für Raumfahrtteleskopie, diesem Streben nach Erkenntnis eine moderne Perspektive: „Alle Hochkulturen haben Schöpfungsgeschichten. Wir haben ein tiefes Bedürfnis, unsere Vergangenheit zu verstehen - woher wir kommen und wohin wir gehen. Wir haben großes Glück, in einer Zeit zu leben, in der wir einige der profundesten wissenschaftlichen Fragen des Lebens ergründen können. Wenn dieses Bild von der Gemeinschaft der Astronomen vollständig untersucht ist, erwarten wir, dass es die Geheimnisse um die Entstehung von Sternen und Galaxien und von uns selbst offenbaren wird.“
DAS WORT
Im Lauf des letzten Jahrhunderts wurden Theorien über das Universum in rascher Folge verworfen. Moderne Astronomen und Kosmologen haben, wie ihre Vorgänger Kopernikus, Kepler und Galilei, eine neue Mythologie entwickelt. Weil Licht nicht augenblicklich die Tiefen des Weltraums durchquert, blickt jede neue Generation von Teleskopen nicht nur tiefer in den Raum, sondern auch tiefer in die Zeit. Das Licht, das wir jetzt empfangen, hat enorme Zeitspannen gebraucht, um die Augen unserer Instrumente zu erreichen. Aus der Analyse dieses Lichts schustern wir uns unsere moderne Sicht von der Geschichte des Universums zusammen. Doch wie bei der Erforschung eines Familienstammbaums gibt es immer noch mehr, ist immer noch ein weiterer Schritt erforderlich.
„Die moderne Kosmologie wurde 1930 entwickelt und im Wesentlichen eingefroren. Die Naturwissenschaftler haben sich so an die klassischen Vorstellungen gewöhnt, dass es kaum verwundert, wenn die meisten davon ausgehen, die richtige Antwort zu haben.“
Es nimmt nicht wunder, dass unsere Weltsicht von dem wissenschaftlichen Verfahren und der Physik, anhand derer die Daten entschlüsselt werden, geprägt und gefärbt ist. Unsere Theorien und die physikalischen und mathematischen Gesetze, die sie beschreiben, geben oft vor, was wir glauben. Dennoch ist nicht zu leugnen, dass diese Erkenntnisse auch spirituell überlagert werden (siehe unseren Artikel: „Ein Astronom über Spiritualität“ in dieser Ausgabe).
Die Hirten auf unserem Weg der Entdeckung und Erleuchtung sind eine neue Art Hohepriester, gewissermaßen befähigt, den heiligen Tempel des Observatoriums zu betreten und von dort „das Wort“ zu verkünden: eine Kosmologie der Zeit, des Raums, der Materie und der Evolution. Es ist insofern einfach, die Naturwissenschaft und die Bibel in diesem Fall ökumenisch zu verbinden, denn unser Gefühl des Daseins ist eng an einen Ursprung gebunden. Unser modernes Bild des Genesisereignisses heißt Urknall - ein Moment vor Jahrmilliarden, in dem, wie geglaubt wird, die Substanz des Universums ins Sein trat.
Der Physiker George Smoot erkennt dieses Wechselspiel zwischen physikalischem Wissen und metaphysischer Bedeutung: „Die Gesellschaft hungert nach beidem: Wissenschaft und Mythologie“, schreibt er 1993 in Wrinkles in Time, „und in der Urknalltheorie sind beide am innigsten verbunden.“ Später fügt er hinzu: „In der Kosmologie fließen Physik, Metaphysik und Philosophie ineinander - wenn das Forschen sich den letzten Fragen unserer Existenz nähert, werden die Grenzen zwischen ihnen unausweichlich verwischt.“ Smoot und sein Kollege John Mather erhielten 2006 den Nobelpreis für ihre Arbeit über die kosmische Hintergrundstrahlung - ein Phänomen, das mit der Entstehung des Universums in Zusammenhang gebracht wird.
Der Astrophysiker Neil DeGrasse Tyson, bekannt für seine populärwissenschaftlichen Darstellungen der Astronomie, beschreibt mit überbordender Begeisterung das Gefühl der klaren Orientierung, das durch unsere Forschungsmethoden geschaffen worden sei: „Das Verhalten von Raum, Zeit, Materie und Energie vom Urknall bis heute zu verstehen, ist einer der großartigsten Triumphe des menschlichen Denkens“ (Origins: Fourteen Billion Years of Cosmic Evolution, 2004).
Doch solcher Enthusiasmus könnte allzu groß geraten sein. Wie der Physiktheoretiker Lee Smolin in The Trouble With Physics warnt, sind Theorien, die nach den Daten in Form geknetet werden - was man Triumphe des menschlichen Denkens nennt -, immer mit Umsicht zu genießen: „Die Wissenschaft macht nicht halt, wenn wir gezwungen werden, etwas Unerwartetes zu akzeptieren“, schreibt er. „Wenn wir die Antwort zu wissen glauben, versuchen wir zu erreichen, dass jedes Ergebnis zu dieser vorgefassten Meinung passt.“
BEWUSST WISSBEGIERIG
Wir tun gut daran, nicht zu vergessen, dass wir immer unserem gegenwärtigen Nichtwissen ausgeliefert sind: Wir wissen nicht, dass wir nicht wissen, was wir nicht wissen. „Bedenken Sie immer“, riet der emeritierte Astronomieprofessor William Tifft bei einem Seminar über die kosmische Rotverschiebung im Jahr 2000, „dass die Theorie Ihnen nicht sagt, was Realität ist. Sie gibt ein Modell des Verhaltens der Dinge, sie beschreibt Beziehungen - aber sie ist keine Erklärung.“
Dass wir wissen wollen, wissen wir jedoch. Dieses Selbstwissen ist in sich ein machtvoller und unglaublich interessanter Impuls - ein Wille, zu ergründen und zu schaffen, der nur dem Menschen eigen scheint. Warum sind wir uns dieses Wunsches bewusst? Unser Forschen gilt nicht nur der Geschichte des Kosmos, es gilt einer „ersten Ursache“ für die Fragen, die uns umtreiben. Denn eigentlich wollen wir wissen, was der Sinn des Ganzen ist.
Besonders wichtig sind Smolins und Tiffts Warnungen im Zusammenhang mit Entstehungstheorien. Wie wir über die Entstehung aller Dinge denken, hat Auswirkungen, die sowohl die Vergangenheit als auch die Zukunft betreffen - die Vergangenheit, weil wir wissen wollen, was uns dorthin gebracht hat, wo wir heute sind, und die Zukunft, weil wir Ziele suchen, die uns zu unseren Entscheidungen motivieren. Der antike Hebräerkönig Salomo scheint unser Dilemma gespürt zu haben, als er schrieb: Gott „hat alles schön gemacht zu seiner Zeit, auch hat er die Ewigkeit in ihr Herz gelegt; nur daß der Mensch nicht ergründen kann das Werk, das Gott tut, weder Anfang noch Ende“ (Prediger 3, 11).
DIE MACHT DES URSPRUNGS
Ein Mensch, dessen Gefühl der Herkunft irregeleitet ist, baut sein Leben auf unsicheren Grund; das Gleiche gilt kollektiv für eine Zivilisation. Ob wir unsere Identität als Humanisten oder Theisten (Gottgläubige) finden - jeder von uns richtet seinen Lebensbogen (bewusst oder unbewusst) nach seinem Verständnis der Vergangenheit aus. Aus der Perspektive der Humanisten verkünden wir unsere neu entdeckte, bewusste Kontrolle über die Zügel unserer Evolution. Aus der Perspektive der Theisten suchen wir eine Berührungsstelle mit unserem Schöpfer, um etwas zu finden, das über unsere eigene Vorstellungskraft und die physischen Beschränkungen des wahrgenommenen Universums hinausgeht.
Eine Erkundung des Universums ist letztlich eine Entdeckungsreise in den Mikrokosmos, der wir selbst sind - wer wir sind, warum wir existieren und woher solche Fragen kommen. Dies Bewusstsein unserer Wissbegierde zwingt uns, immer weiter zu forschen. Letztlich in der Hoffnung, unserem Bewusstsein einen Sinnzusammenhang zu geben, haben wir unser technisches Können und die Reichweite wissenschaftlicher Beobachtung immer weiter vorangetrieben. So haben wir die fantastischste Datenmenge angehäuft, die seit Menschengedenken zusammengetragen wurde. Doch all diese Informationen dürfen nicht einfach angehäuft und gespeichert werden; sie müssen uns verstehen helfen, um es mit Tifft zu sagen, „was Realität ist“. Wir wollen das „da draußen“ kennen, um das „hier drinnen“ zu verstehen.
Unser Gefühl des Ursprungs ist eindeutig etwas sehr Mächtiges. Weil wir physische Wesen sind, die in einem stofflichen Universum leben, spielt die Naturwissenschaft eine legitime Rolle bei der Suche nach einer Erklärung, einer ersten Ursache der materiellen Welt. Seit Jahrzehnten finden immer wieder Naturalisten und Supernaturalisten gemeinsamen Boden im Urknall - eine materielle Erklärung für ein Ereignis, das menschliches Verstehen übersteigt. Viele haben sich damit zufrieden gegeben, dass ein Schöpfer irgendwie den Urknall „gezündet“ hat.
Doch was ist, wenn es den Urknall nie gab? Was, wenn es überhaupt keine Entstehung, kein Anfangsereignis gab? Wozu braucht man dann eine erste Ursache, eine Zündung und einen Auslöser der Zündung? Wenn das Universum einfach aus unendlich vielen Dominosteinen besteht, durch deren Umfallen eine nicht nachvollziehbare Kausalkette in Gang gesetzt wurde - wie passen wir dann ins Bild? Immer mehr glaubwürdige Physiker warnen, unsere bekannteste naturwissenschaftliche Theorie von der Entstehung des Universums sei ein Götze, ein Aberglaube, der bald entlarvt und wie seine Vorgänger als mangelhaft verworfen werde.
In vielerlei Hinsicht hat uns die Naturwissenschaft tatsächlich auf einen „Exodus“ aus der Sklaverei von Ignoranz und Mythen geführt. Ist die Urknalltheorie - einer der größten Triumphe der Naturwissenschaft, wie Tyson schreibt - nur ein goldenes Kalb, ein schlechter Ersatz, der verdunkelt, statt zu erhellen? Sollte sich der Urknall als Fiktion erweisen, wie würde sich das auf unsere größere Suche nach einer abschließenden Antwort auf unsere Fragen nach dem Ursprung auswirken?
In Teil 2 untersuchen wir, was Edwin Hubble die „unerkannten“ Prinzipien nannte, die eine ganze Schar von Physikern motivieren, den Urknall zum Schweigen zu bringen.