Mobbing: Was Eltern wissen müssen

Dieter Wolke ist Professor für Entwicklungspsychologie und Individualunterschiede an der University of Warwick in England. Dort leitet er die Forschung im Bereich Vorlauf und Folgen von Mobbing durch Gleichaltrige. Das Ziel seiner Forschung besteht darin, zu verstehen, warum und wie manche Kinder psychische Probleme bekommen, während sich andere gegenüber negativen Einflüssen als widerstandsfähiger erweisen.

In den letzten 25 Jahren haben Wolke und seine Kollegen eine Vielfalt von Risikofaktoren für psychische Störungen und Verhaltensstörungen untersucht. Jetzt untersuchen sie Mobbing während der gesamten Lebenszeit – von vorgeburtlichen Vorläufern bis zu langfristigen Spätfolgen, wenn Täter, Opfer und Opfer, die selbst Täter werden, das Erwachsenenalter erreichen.

In diesem Interview befragt Gina Stepp Wolke nach den neuesten Forschungsergebnissen seines Teams und darüber, was Eltern zur Vorbeugung des Problems beitragen können.

 

GS Einer der Gründe, die Erwachsene oft dafür nennen, dass sie nicht eingreifen, wenn ihre Kinder gemobbt werden, ist, dass die Kinder Erfahrungen mit Konflikten brauchen, damit sie wissen, wie das wahre Leben ist.

DW Es ist sehr wichtig, zwischen Mobbing und Konflikt zu unterscheiden. Mobbing geschieht mit der Absicht, das Opfer zu schädigen; es geschieht wiederholt, und es wird gewöhnlich mit jemandem gemacht, der schwächer ist oder meint, er sei schwächer. Wenn wir dagegen einen Konflikt haben – eine Meinungsverschiedenheit in einer Diskussion – und gleich stark sind, wollen wir einander nicht notwendigerweise schädigen oder eine Machtbeziehung aufbauen. Das geschieht unter Kindern, aber es geschieht auch mit Eltern. Väter rangeln z. B. oft spielerisch mit Kindern, und das kann man nutzen, um diese das Erkennen von Grenzen einüben zu lassen. Wenn es zu grob wird, sagt man: „Das reicht, stopp, bis hierhin kannst du gehen, weiter nicht.“ Außerdem können Eltern zulassen, dass Kinder Konflikte miteinander austragen, aber ehe sie jemandem einen Stein über den Kopf hauen oder gemein werden, müssen sie aufhören.

GS Sie sagen also, dass es einen Punkt gibt, an dem man eingreifen muss. Ein bestimmtes Maß an Konflikt ist in Ordnung, aber man bringt Kindern bei, wie man mit dem Konflikt umgeht und wie man Probleme löst.

DW Genau. Grenzen zu setzen ist sehr wichtig, denn alle Kinder müssen sozialisiert werden – müssen verstehen, dass man sich nicht alles nehmen kann, was man will, und dass einem nicht alles gehört. Es ist nicht so, dass sie von Geburt an alle Regeln des Zusammenlebens kennen.

GS Je nach Alter entwickeln sie unterschiedliche Fähigkeiten, soziale Regeln zu verstehen. Solange sie keine Theorie des Bewusstseins entwickelt haben – Theory of Mind, die Fähigkeit, zu erkennen, dass andere Kinder oft andere Vorlieben und Gefühle haben als sie selbst –, sind sie vielleicht nicht in der Lage, die Feinheiten bestimmter sozialer Regeln zu begreifen.

DW Das ist richtig, aber diese Sozialkompetenzen können für positive oder negative Zwecke eingesetzt werden, denn mit ihnen kann man auch wirksamer mobben – Gerüchte verbreiten, jemanden ausschließen. Wer eine Theorie des Bewusstseins hat, weiß, wie man jemanden verletzen kann, ohne ihn körperlich anzugreifen.

GS Welche Auswirkungen hat Mobbing?

DW Ein Ergebnis, das wir in einer Studie mit Forschern an der Duke University erarbeitet haben, ist, dass Mobbing ein erhöhtes Risiko für Depressionen und Angst und auch für Selbstverletzung und Selbstmordversuche mit sich bringt. Eine weitere Erkenntnis ist, dass Opfer und Opfer-Mobber (die sowohl gemobbt werden als auch ihrerseits andere mobben) wirtschaftlich nicht besonders erfolgreich sind. Wenn sie 26 Jahre alt sind, tun sie sich schwerer damit, sich an einem Arbeitsplatz zu halten. Sie kündigen oft, weil sie anderen nicht trauen, oder sie fühlen sich leicht kritisiert; sie verlassen eine Arbeitsstelle, ehe sie eine andere gefunden haben, und sie sind schlechtere Sparer. Es gibt also ganz reale wirtschaftliche Auswirkungen, weil die Betroffenen es schwerer haben, in einem Arbeitsumfeld zu funktionieren, wo man mit anderen Menschen interagieren muss.

Was Selbstverletzungen betrifft, so haben wir bei Jugendlichen, die gemobbt wurden, selbst wenn das nur in den ersten Schuljahren war, ein bis zu viermal höheres Risiko festgestellt. Ansprechpartner im Gesundheitswesen, aber auch außerhalb davon fragen nicht immer nach den Beziehungen eines Kindes zu Gleichaltrigen; sie vergessen, wie wichtig diese Beziehungen sind. Aber wenn Kinder 18 sind, haben sie viel mehr Zeit mit Gleichaltrigen verbracht als mit ihren Eltern.

GS Teenager achten schon noch darauf, was ihre Eltern denken, doch der Einfluss der Gleichaltrigen ist enorm.

DW Nun, wie viele Kinder kennen Sie, die sich anziehen wie ihre Eltern, die auf die Musik ihrer Eltern stehen und zu den gleichen Konzerten gehen? Das sind sehr wenige, denn wenn wir heranwachsen, hören wir auf unsere Altersgenossen, und es ist uns sehr wichtig, dazuzugehören. Sozial ausgeschlossen zu sein ist sehr schlimm. Meiner Ansicht nach müssen Therapeuten und Mediziner daran denken, nach den Beziehungen zur Altersgruppe zu fragen, denn bestimmte Probleme – z. B. wenn ein Kind mit Kopfschmerzen heimkommt, nicht zur Schule gehen will, Bauchweh hat usw. – können Anzeichen nicht nur für eine Krankheit oder Probleme mit den Eltern sein, sondern auch dafür, dass es diese Situationen mit Gleichaltrigen vermeiden will.

GS Eine neue Form von Mobbing, mit der wir Eltern als Kinder nicht umgehen mussten, ist Cybermobbing, Mobbing im Internet. Wenn wir damals zu Hause waren, waren wir ziemlich in Sicherheit, außer wenn ein Bruder oder eine Schwester ein Mobber war – was ein weiterer Aspekt ist. Aber jetzt sind unsere Kinder weiter mit ihren Altersgenossen verbunden, wenn sie heimkommen.

DW Das stimmt. Cybermobbing ist wichtig, aber wir sollten es nicht überbewerten, denn 90 Prozent aller Opfer von Cybermobbing werden auch im realen Kontakt gemobbt. Wenn jemand z. B. in Los Angeles sitzt, würde er nicht an ein elektronisches Gerät gehen und anfangen, jemanden in China zu mobben, denn Mobber wollen die Reaktion; es geht um Machtgefälle. So nutzen sie vielleicht eine weitere Waffe aus dem Arsenal, aber generell setzen sie ihre Waffen gegen jemanden ein, den sie kennen, der in derselben Klasse oder Schule ist, und wollen dafür sorgen, dass auch andere Leute dies sehen, oder die Reaktion darauf mitbekommen. Sonst hat Mobbing keinen Zweck.

Cybermobbing: Im direkten Kontakt schlägt man vielleicht nicht körperlich zurück oder findet nicht die richtigen Worte, anonym unter Umständen schon.“

Dieter Wolke

GS Man bekommt nicht die Befriedigung, die Wirkung seines Mobbings zu sehen.

DW Genau. Aber es gibt einen bedeutenden Unterschied beim Cybermobbing: Hier können Opfer sich rächen. Im direkten Kontakt schlägt man vielleicht nicht körperlich zurück oder findet nicht die richtigen Worte, anonym unter Umständen schon.

Trotzdem ist es furchtbar. Ich weiß von einem Jungen, der versucht hat, sich umzubringen, weil ihn jemand mit dem Handy gefilmt hat, als er im Badezimmer mit der Zahnbürste in der Hand Rockstar spielte. Wenn man zwölf ist, ist es extrem demütigend, wenn so etwas der ganzen Welt gezeigt wird. Das Video wurde ein Hit, millionenfach angeklickt. Und es geht nie mehr weg – wohin man auch geht, überall wird man erkannt, das Ansehen ist dahin. Ich sage also nicht, dass Cybermobbing nicht furchtbar ist; es ist einfach eine weitere Waffe im Arsenal.

GS Können Eltern etwas tun, um die Wirksamkeit dieser Mobbingwaffe abzuschwächen?

DW Was heute nicht funktioniert, ist, einem Kind das Handy abzunehmen. Man sollte besser darauf achten, dass es verantwortungsbewusst genutzt wird. Außerdem ist wichtig, dass Kinder nicht nur allein in ihrem Zimmer sind und stundenlang am Computer sitzen, sondern dass sie tatsächlich offen darüber sprechen. Ich finde, sowohl bei Mobbing als auch bei Cybermobbing ist es das Wichtigste, dass man miteinander kommunizieren kann. Am besten funktioniert die Kommunikation, wenn man weder hart ist – z. B. „Schlag zurück!“ – noch überfürsorglich, indem man z. B. gleich zur Schule läuft und alle mit hineinzieht, sodass das Kind sich zusätzlich gedemütigt fühlt, weil die Eltern so ein Theater gemacht haben. Das Entscheidende ist, dass Kinder offen sind und mit ihren Eltern reden können: „Das wird mit mir gemacht. Was kann ich tun?“ Eltern sollten Mitgefühl zeigen, aber nicht überreagieren. Sehr oft haben auch die Kinder selbst gute Vorschläge, z. B.: „Könnte ich diese Person von meiner Freundeliste löschen oder könnte ich mir eine andere E-Mail-Adresse zulegen, die ich nur vertrauenswürdigen Freunden gebe, und die andere Adresse ignorieren?“

GS Weil sie nicht nur die Mobber in der Schule kennen, sondern auch wissen, wer von ihren Schulkameraden sie unterstützen könnte.

DW Ja, aber die Eltern können ihnen auch helfen, Freundschaften aufzubauen. Wer Freunde hat, die ihn verteidigen, wird weniger leicht als Opfer auserkoren. Wenn ein Kind z. B. in eine neue Klasse kommt, ist es wichtig, zu sehen, ob man Klassenkameraden über Nacht einladen kann, Spiele oder Aktivitäten zu organisieren – sodass man die Kinder kennenlernt, die das eigene Kind schützen können. So kann man seinem Kind helfen, Freunde zu finden, denn das kann schwer sein.

GS Es ist auch hilfreich, wenn Eltern in der Schule aktiv sein können. Das zeigt nicht nur dem eigenen Kind, dass es jemanden hat, der auf seiner Seite ist, sondern auch den anderen, dass sich da jemand kümmert; dadurch wird das Kind vielleicht weniger leicht zur Zielscheibe.

DW Außerdem verschafft das Eltern Gelegenheiten, mit den Schulkameraden ihres Kindes zu kommunizieren. Wenn Sie bei Ausflügen mitkommen, sprechen Sie auch mit anderen Kindern, und die können mit Ihnen sprechen – und vielleicht denken die dann sogar: „Er hat eigentlich eine ganz coole Mutter.“

GS Um zur Prävention zu kommen: Einigen Forschungsergebnissen zufolge hilft bei Mobbing eine Nulltoleranzpolitik für ganze Schulen. Haben auch Sie das festgestellt?

DW Am häufigsten wurde eine Methode ausgewertet, die von einem in Norwegen tätigen Schweden entwickelt wurde, Dan Olweus. Sie beinhaltet eine schulweite Politik. Den Lehrern ist diese Politik bewusst, und die Kinder wissen, was akzeptabel ist. Schulleitung und Eltern, alle arbeiten zusammen. Sie bekommen Videos zu sehen, aus denen sie lernen können, mit einer Mobbingsituation umzugehen. Es gibt klare Regeln dafür, wie das funktioniert.

Ein anderer Aspekt ist, dass Ärzte und Pflegepersonal viel bewusster sein sollten, sodass sie, wenn sie Symptome sehen, als eine Option an Mobbing denken. Betroffene sprechen vielleicht mit einer Ärztin, nicht aber mit Lehrern, weil sie glauben, dass diese nicht helfen werden.

Wir müssen sehen, dass Mobbing tatsächlich ein Problem ist, das alle betrifft; es geschieht innerhalb der Gesellschaft. Sie haben vorhin Mobbing durch Geschwister angesprochen; das ist ein weiterer Bereich, den wir bearbeiten – und der überraschenderweise ignoriert wird. Über 90 Prozent aller Kinder haben Geschwister, und dadurch lernen sie, wie man sich gegenüber anderen Kindern verhält. Wir haben festgestellt, dass Kinder, die zu Hause von Geschwistern gemobbt wurden, dreimal wahrscheinlicher auch in der Schule zu Mobbingopfern wurden.

Also ja, Eltern können etwas tun – und das fängt zu Hause an.