Islam: Teile zusammengefügt
Vision-Interview mit Malise Ruthven, einem früheren Mitarbeiter beim Arabic Service der BBC. Wir versuchen in dem Gespräch, ein klareres Bild von der Welt des Islam zu ermitteln.
Malise Ruthven ist ein angesehener Kenner des Islam und Autor des Buches A Fury for God: The Islamist Attack on America (Zorn für Gott: Der Islamisten-Anschlag auf Amerika, Juni 2002). Darin untersucht er die antiwestlichen Ressentiments und Motive der Terroristen im Kontext des aktuellen fundamentalistisch-islamischen Denkens. Vor kurzem sprach Ruthven mit dem Chefredakteur von Vision, John Meakin, über sein Buch und die Ereignisse des 11. September 2001.
JM Woher kommt Ihr Interesse an der modernen Entwicklung des Islam?
MR Mein Interesse am Islam begann vor allem in den Siebzigerjahren, als ich bei der BBC arbeitete und später freiberuflich für mehrere Publikationen im Mittleren Osten tätig war. Was als eine Serie von Artikeln begann, übrigens für eine englischsprachige Zeitschrift im Mittleren Osten, entwickelte sich zu einem Buch mit dem Titel Islam in the World. Ich interessierte mich auch für den politischen Islam und den christlichen Fundamentalismus in Amerika. Ich schrieb das Buch The Divine Supermarket: Shopping for God in America (Der göttliche Supermarkt: auf der Suche nach der Seele Amerikas, Frankfurt a. M., Fischer, 1991), das 1990 in den USA und 1989 in Großbritannien erschien. Ich denke, eines meiner Hauptanliegen ist es, eine Art strukturelle Parallele zwischen unterschiedlichen religiösen Systemen zu finden und das zu ergründen, was pauschal als Fundamentalismus bezeichnet wird. Zurzeit arbeite ich auch an einem Buch für Oxford, über ebendieses Thema.
JM Sie scheinen das Wort Fundamentalismus für die fanatische Auslegung des Islam, die wir gesehen haben, nicht besonders zu mögen. Könnten Sie das ausführen?
MR Nun, es ist nicht mein Lieblingswort. Ich denke aber, dass es manchmal von Vorteil ist, es zu verwenden, weil man dann auf bestimmte Gemeinsamkeiten aufmerksam wird, die man zwischen Leuten findet, die ich lieber als Islamisten und amerikanische Fundamentalisten bezeichne. Ich finde das Wort Fundamentalismus problematisch, weil es im Kontext eines ganz spezifischen Phänomens entstand, nämlich der konservativen Gegenreaktion auf die liberale [christliche] Theologie am Beginn des 20. Jahrhunderts. Und obwohl der Begriff andere Bewegungen kolonisiert hat, ist die Situation in der Welt des Islam und sogar in anderen, nichtprotestantischen Traditionen nicht genau gleich. Da gibt es ein semantisches Problem, und das kann ziemlich irreführend sein.
Im Islam streitet man sich generell nicht über die Unfehlbarkeit oder die Entstehung des Textes. Dort geht es vielmehr um die Beziehung zwischen den Glaubensüberzeugungen des Islam und den Regierungssystemen. Und deshalb halte ich den Begriff Islamist für sinnvoller, weil das griechische Suffix -ism, wie in Islamismus oder Islamist, etwas bezeichnet, das man die Ideologisierung des Glaubens nennen könnte, in dem Sinn, dass der Glaube eine ganz spezifische Orientierung auf ein politisches Ziel erhält.
JM Im Mittelpunkt Ihres neuesten Buches stehen natürlich die Ereignisse, die generell mit dem Datum ?11. September bezeichnet werden. Die meisten Menschen sehen in diesen Ereignissen nur einen unaussprechlichen Gräuel. War das auch Ihre Reaktion?
MR Meine Reaktion, die ich am Anfang des Buches beschreibe, war wie die vieler anderer. Das war unvorstellbar und absolut verblüffend, und natürlich war es grauenhaft. Aber ich glaube, in dem Entsetzen schwang auch mit: „Meine Güte, diese Typen wissen genau, was sie machen“, denn sie hatten es schon vorher versucht und waren nicht erfolgreich.
JMTeilen Sie die Ansicht, dass die Extremisten zu verurteilen sind, die breite Masse der Muslime aber schuldlos ist?
MR Ich glaube nicht, dass eine religiöse Tradition als Ganzes freigesprochen werden kann. In diesem spezifischen Fall haben verantwortungsbewusste religiöse Führer die Taten verurteilt. Doch insbesondere im sunnitischen Islam hat die religiöse Obrigkeit keine entscheidende Macht. Der sunnitische Islam in seiner Hauptrichtung ist eine Art Priesterschaft der Gläubigen, sodass die formelle Verurteilung von einigen hochrangigen islamischen Autoritäten - vor allem, wenn sie im Dienst der Regierung stehen - nicht viel Gewicht hat.
„Es gibt in der Bevölkerung Saudi-Arabiens, insbesondere bei den Jüngeren, und in der Welt des Islam allgemein einen Nationalismus, der an der militärischen Präsenz der Amerikaner dort Anstoß nimmt.“
Man muss wirklich über die Verlautbarungen der Führer hinaus auf die Haltung des Volkes schauen, und die, denke ich, ist weit weniger eindeutig. Es gibt zum Beispiel in der Bevölkerung Saudi-Arabiens, insbesondere bei den Jüngeren, und in der Welt des Islam allgemein einen Nationalismus, der an der militärischen Präsenz der Amerikaner dort Anstoß nimmt. Hinzu kommt das Wissen um die Korruptheit der herrschenden Dynastie. Dann die Tatsache, dass sie Milliarden für Waffen ausgegeben haben, und als sie den ersten Pulverdampf rochen, als Saddam Hussein in Kuwait einfiel, versteckten sie sich voller Angst unter Amerikas Rock, weil sie lauter Waffen gekauft hatten, mit denen sie nicht umgehen konnten.
All dies lässt auf ein vielschichtigeres Meinungsbild schließen. Tatsächlich sind viele Muslime so wütend darüber, wie die Dinge in den letzten zehn oder mehr Jahren gelaufen sind, dass sie leider einen Angriff auf die Vereinigten Staaten als etwas sehen, das die Amerikaner herausgefordert haben. Individuell gesehen würde die große Mehrheit der Muslime aber wohl den Tod der einzelnen Menschen bedauern.
JM Was müssen wir nach dem 11. September insbesondere verstehen?
MR Nun, mein Anliegen sind natürlich bestimmte Aspekte der westlichen Politik. Besonders kritikwürdig finde ich die Art, in der die westliche Ölindustrie und Waffenindustrie das sehr oligarchische und unrepräsentative Regime in Saudi-Arabien stützen. Ich denke, hier müssen wir uns auf Schwierigkeiten gefasst machen. Sehr kritisch sehe ich auch die Art, wie Amerika offenbar die Politik der Regierung Sharon unterstützt. Obwohl man natürlich die entsetzlichen Schäden, den Schmerz und die Not berücksichtigen muss, den die Selbstmordbomber dem jüdischen Volk zugefügt haben. Das würde ich nicht abstreiten. Ich sehe die Muslime nicht als die Unschuldigen in dieser Situation.
In der Welt des Islam gibt es ein tief sitzendes Problem, das ich „Beweisführung durch den sichtbaren Erfolg“ nenne: die Vorstellung, dass der Wahrheitsbeweis des Islam irgendwie in seinen historischen Erfolgen liegt. Viele junge Muslime glauben in der Tat, der Wahrheit des Islam müsse zum Sieg verholfen werden - nicht durch persönliche Moral oder indem man sich selbst und dadurch die Gesellschaft moralisch verbessert, sondern tatsächlich durch eine Machtübernahme und eine islamische Regierung für die ganze Welt. Und das ist eine Ideologie, meine ich, der man sich entgegenstellen muss.
JM Sie erwähnen am Anfang Ihres Buches, dass Ihr eigener Vater im Zweiten Weltkrieg starb, den Sie tatsächlich als Dschihad gegen den Faschismus bezeichnen. Hitlers Bewegung, so wie auch der Marxismus-Leninismus, wird allgemein als utopisch oder millenaristisch gesehen. Ist der Islam in seinem Wesen wirklich anders?
MR Der Islam ist eine sehr breite Tradition. Es gibt sogar Gelehrte, die das Wort niemals in der Einzahl verwenden. Es gibt viele verschiedene Islame. Aber es ist sicher wahr, dass bestimmte Entsprechungen (und man muss sehr Acht geben, wie man dies ausdrückt) zwischen den totalitären Bewegungen der 1930er-Jahre in Europa und der islamistischen Bewegung bestehen. Ich würde das nicht auf alle Aspekte der islamistischen Bewegung anwenden, ebenso wenig wie man die Bezeichnung „totalitär“ auf alle Aspekte des Sozialismus anwenden würde. Es ist ein Überbegriff. Es gab demokratische Sozialisten ebenso wie es demokratische Islamisten gibt. Doch die Leute, die wir oft Extremisten nennen - die Leute, die im Wesentlichen daran glauben, die Macht zu ergreifen und die islamistische Ideologie durchzusetzen, weil dies für sie eine religiöse Offenbarung ist -, berufen sich auf einen transzendentalen Imperativ, um ihren politischen Willen durchzusetzen. Ich denke schon, dass dies viel Ähnlichkeit mit den transzendentalen Imperativen der Bolschewiken und der Nazis hat - und mit dem der Faschisten, die meinen Vater getötet haben.
JM Der Anschlag am 11. September war tatsächlich ein Selbstmordattentat. Wie sehen Sie die Behauptung, in der traditionellen Lehre des Islam sei Selbstmord nicht zulässig?
MR Wenn man sich die islamische Gesetzgebung anschaut, so spricht sie sehr deutlich gegen den Selbstmord (Intihar). Und tatsächlich gibt es eine berühmte Überlieferung (Hadith) des Propheten, nach der er gesagt haben soll, dass der Selbstmörder seine Tat in der Hölle in alle Ewigkeit wiederholen muss. Das ist eine ganz klare Aussage gegen den Selbstmord. Doch die Selbstmordattentäter, die diese grauenhaften Taten begehen, definieren sie nicht als Selbstmord. Das Wort, das sie benutzen, ist Istischhad, freiwilliger Märtyrertod.
„Die Selbstmordattentäter, die diese grauenhaften Taten begehen, definieren sie nicht als Selbstmord.“
Hinsichtlich des freiwilligen Märtyrertodes ist die Lehre weit weniger eindeutig. In meinem Buch erwähne ich ein Ereignis in der Biographie Mohammeds, das einen Krieger in der Schlacht von Badr betrifft, wo Mohammed seinen ersten großen Sieg gegen Mekka erfocht. Dieser Krieger riss sich seine Rüstung vom Leib, stürzte sich in die Schlacht und tötete fünf Feinde, ehe er überwältigt wurde. Diese Tat fand die Billigung des Propheten. Nun, das war kein Selbstmord - aber es kam dem sehr nahe.
Die modernen Selbstmordattentäter graben diese alten Geschichten aus, und einige Geistliche rechtfertigen sie mit dem Argument, wenn Selbstmord mehr zum Wohl der Gemeinschaft der Muslime beitragen könne, nämlich weil er eine wirksame Waffe gegen den Feind ist, dann sei er gutzuheißen. Betrachtet man aber die Fatwas (Rechtsurteile), die zum Thema der Selbstmordattentate in Israel gesprochen wurden, so sind die Meinungen innerhalb der sunnitischen Theologen geteilt. Einige Scheichs haben gesagt, dass sie unter bestimmten Bedingungen zulässig sind, und dies sind die Urteile, mit denen die Geistlichen in Palästina sie rechtfertigen. Andere haben sie verurteilt. Was diese Frage betrifft, so kann man nicht sagen, dass die Geschworenen noch beraten, sondern dass es tatsächlich uneinheitliche Rechtsauffassungen gibt.
JM Glauben Sie, dass bei diesen Leuten Hoffnungslosigkeit herrscht?
MR Oh, keine Frage. Schauen Sie sich Terror in the Mind of God (Terror im Geist Gottes) an, eine Studie des religiösen Terrorismus von dem amerikanischen Forscher Mark Juergensmeyer. Er hat die Familien einiger Selbstmordattentäter befragt, einige Freiwillige und auch einige Geistliche in Palästina. Natürlich war das vor der aktuellen Krise, aber trotzdem zeigt sein Text zweifelsfrei, dass dahinter große Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit steckt. Doch bei den mehr Gebildeten gibt es einen weiteren Aspekt, der mehr mit Theologie zu tun hat. Es herrscht eine Stimmung, die ich als Verzweiflung im Sinne Nietzsches bezeichne - Verzweiflung daran, dass man vom Gott des Islam erwartet, dass er den Sieg gibt. Natürlich haben die Mystiker des Islam, die Sufis, die Tradition niemals wirklich so ausgelegt. Doch es gibt Menschen, die glauben, dass die Tradition durch den Beweis des sichtbaren Erfolgs bestätigt werden muss. Das historische Scheitern - der Islam wird durch koloniale Regierungen überwältigt, das Wirtschaftswachstum in den muslimischen Ländern fällt hinter das der afrikanischen Länder südlich der Sahara zurück und so weiter - hat eine theologische Verzweiflung ausgelöst. Der „Gott des sichtbaren Erfolgs“ hat nicht getan, was von ihm erwartet wurde, und es herrscht Wut und Zorn, den man wohl existentiell nennen kann, das Gegenteil von Hoffnung.
JM Hätte Mohammed die Ereignisse des 11. September gutgeheißen?
MR Es würde einen allgemeinen Protest geben, wenn ich sagte, dass Mohammed eine solche Gräueltat je gutgeheißen hätte. Doch man muss den Kontext berücksichtigen. Es gab ein Ereignis bei der Belagerung Taifs, in einer seiner letzten Schlachten gegen die Ungläubigen. Den Quellen zufolge - von denen allerdings nicht klar ist, wie korrekt sie sind - kam einer der Obersten der Gläubigen zu ihm und fragte, ob es rechtens sei, mit Schleuderkatapulten Steine in Städte hineinzuschießen. Der Tradition zufolge bejahte er dies im Wesentlichen. Auf den Einwand, es könnten Frauen und Kinder in der Schusslinie sein, soll er mit einem seiner typischen, elliptischen Sätze geantwortet haben: „Ihre Kinder gehören ihnen.“ Dies wird in dem Sinn ausgelegt, dass Kollateralschäden in einem Konflikt unvermeidlich sind.
Zwischen dem 11. September und der Belagerung Taifs besteht natürlich keine direkte Analogie. Doch dies ist die Art Argument, mit der Islamisten ihre Theorie rechtfertigen. Und in gewisser Weise ist die Frage, ob Mohammed dafür oder dagegen gewesen wäre, vielleicht gar nicht die richtige. Religiöse Traditionen und religiöse Aussagen sind Quellen, die von Völkern unserer Zeit zum Guten oder zum Bösen benutzt werden. Man muss Religionen nicht so sehr als Ideologien ansehen, sondern als Symbolsysteme oder Symbolsprachen, die für beides benutzt werden können. Es kommen positive und negative Dinge heraus, aber alles hängt davon ab, wie man den Kontext des Konflikts definiert.
„Ich glaube, man muss mit Aussagen wie: ,Der Islam erlaubt dies, der Islam verbietet jenes‘ sehr vorsichtig sein.“
El-Kaida und die Attentäter des 11. September redeten sich ein, sie kämpften in einem heiligen Krieg, einem Dschihad gegen den Westen. Und auf dieser Basis gibt es eine Rechtfertigung für diese Art Anschlag. Ich glaube, man muss mit Aussagen wie: „Der Islam erlaubt dies, der Islam verbietet jenes“ sehr vorsichtig sein. Die Diskussion darüber, ob etwas mit dem Islam vereinbar ist oder nicht, ist eigentlich nicht Sache der Außenstehenden. Es ist eine Diskussion, die die Muslime selbst führen müssen. Dass der Islam eine tolerante Religion sei, ist eine Halbwahrheit. Dass er eine intolerante Religion sei, ist auch eine Halbwahrheit.
JM Aber ist der Islam eine tolerante Religion?
MR Der Islam hat eine Tradition der Toleranz, die darauf zurückgeht, dass Christen, Juden und andere zur Zeit des Propheten Mohammed den Status geschützter Gemeinschaften bekamen. Doch diese Toleranz war immer bedingt. Sie beruhte auf der Idee, dass diese Leute als Untertanen eines muslimischen Staates geschützt waren.
Ein Teil des Problems ist die Entwicklung einer Theologie für Muslime, die in ihrem Umfeld zu einer Minderheit gehören, und darüber hat die klassische Rechtswissenschaft des Islam nicht viel zu sagen. Eines der großen Probleme für den Islam ist heute die Tatsache, dass in der modernen Welt alle religiösen Traditionen in gewisser Weise Minderheiten sind. Darum wollen die Islamisten die Grenzen [des erlaubten Verhaltens] für muslimische Minderheiten in nichtmuslimischen Ländern und für Muslime, die in ihrem Land der Mehrheit angehören, wieder aufbauen. In mehrheitlich muslimischen Ländern sagen sie: „Wir wollen den Gesetzen des Islam wieder Geltung verschaffen“, aber das ist ein extrem problematisches Unterfangen. Wenn es um echte Toleranz geht - in dem Sinn, dass man anderen religiösen Traditionen das gleiche Gewicht oder den gleichen Raum gibt -, dann sind Muslime wohl nicht toleranter als die Anhänger anderer religiöser Traditionen.
JM Der wahhabitische Islam, der in Saudi-Arabien vorherrscht, gilt aus westlicher Sicht allgemein als intolerant. Aber Sie schreiben in Ihrem Buch, dass 80% der Moscheen in den USA der wahhabitischen Richtung zuzuordnen sind. Können wir eine ähnliche Intoleranz in der Entwicklung des Islam in Amerika erwarten?
MR Sie sprechen da ein sehr wichtiges Problem an, nämlich dass die Wahhabiten eine sehr intolerante Hardliner-Version des Islam exportiert haben. Sie legt besonders viel Wert auf die Schriften des Geistlichen Ibn Taimija aus dem 13. Jahrhundert, nach dessen Lehre der eigentliche Islam am Punkt der größten Distanz zu anderen religiösen Traditionen beginnt.
Wo der wahhabitische Islam in die USA exportiert wurde, nimmt er zwar nicht die gleiche Form an wie in Saudi-Arabien, doch er hat die Tendenz, von jungen Leuten zu fordern, dass sie sich an eine sehr eigene, andere Lebensweise halten und sich der Gesellschaft nicht anpassen. Man kann sehen, dass es dafür gute Gründe gibt: Es ist eine Form des kollektiven Selbstschutzes, und es vermittelt eine eigenständige Identität. Allerdings fördert es auch die Einstellung, etwas Überlegenes zu sein.
JM Bedeutet Dschihad „heiliger Krieg“, oder bezeichnet es eher einen inneren Kampf?
MR Es bedeutet beides. Dschihad bedeutet einfach „Kampf“, und das wird manchmal in dem Sinn ausgelegt, der bei den Marxisten bewaffneter Kampf gegen einen Unterdrückerstaat hieße. Es kann auch den Kampf gegen die niedrigeren geistigen Impulse im eigenen Inneren bedeuten. Das Wort hat ein breites Spektrum von Bedeutungen in den Schriften der so genannten fundamentalistischen Islamisten - Abu-Ala Maududi in Pakistan und Said Qutb in Ägypten. Es hat eine explizit politische Definition bekommen, weil die herrschenden Mächte als „ungläubig“ bezeichnet werden. Das Wort dafür ist Dschahilijah, und es stellt sie den Herrschern von Mekka gleich, gegen die Mohammed während seiner Karriere als Prophet und Staatsmann Krieg führte. Diese Bedeutung wird auf heutige Regierungen übertragen, und dann beruft man sich auf den Dschihad, um Konflikte mit herrschenden Mächten zu rechtfertigen - manchmal auch Terroranschläge auf sie.
Es ist in der Tat eine komplizierte Angelegenheit, denn wenn man den Text des Korans selbst liest, findet man bestimmte Passagen, die die Gläubigen auffordern, Götzenanbeter zu bekämpfen und sie zu töten, wo immer sie ihnen begegnen. Andererseits gibt es Passagen, in denen steht, dass es in der Religion keinen Zwang gibt. So entwickelt die klassische islamische Rechtswissenschaft die Lehre mit einiger Spitzfindigkeit innerhalb dieser Parameter. Allgemein gesprochen unterschied man zwischen Dschihad als kollektiver Pflicht - was tatsächlich bedeutete, dass der Sultan zu entscheiden hatte, ob eine strategische Situation die Erklärung eines Dschihad erforderte - und einem sozusagen „harten“ Dschihad, einer persönlichen Pflicht für jeden einzelnen Muslim.
JM Die westliche Lebensweise ist für Muslime in mancherlei Hinsicht gottlos, weil sie sie als unmoralisch empfinden. Haben wir im Westen von dem Begriff Dschihad etwas zu befürchten?
MR Ihre Frage umfasst zwei Elemente. Wir haben eine Menge von Terroranschlägen zu befürchten. Im Hinblick auf die Auffassung, dass der Westen amoralisch ist und damit islamische Wertesysteme bedroht, ist zu sagen, dass die muslimische Gesellschaft dem Verhalten des Einzelnen Grenzen gesetzt hat. Nicht die moralische Entscheidung des Einzelnen, sondern die von Gott gesetzten Grenzen bestimmten, was ein Mensch tun konnte - und die Einhaltung dieser Grenzen wurde durch die Anwendung des islamischen Gesetzes gewährleistet.
Die Schwierigkeit ist, dass es unter den Bedingungen der Moderne mit ihrem kulturellen und religiösen Pluralismus problematisch ist, diese Art von Grenzen aufrecht zu erhalten. Die Tendenz in der modernen Welt ist, dem Verhalten immer weniger äußere Grenzen zu setzen und die Entscheidung in diesen Dingen dem Einzelnen selbst zu überlassen. Hiermit können die amerikanischen Fundamentalisten nur sehr schwer umgehen. Sie bekämpfen es und versuchen, „christlichen Werten“ in der amerikanischen Gesellschaft wieder Geltung zu verschaffen. Das Gleiche tun Muslime.
Ich persönlich halte das nicht für tragfähig, denn die Welt ist inzwischen pluralistisch. Wenn man dem Verhalten äußere Grenzen setzt, ohne einen sozusagen medienfreien, totalitären Staat zu schaffen, hat man tatsächlich ein Rezept für Heuchelei - kulturelle Schizophrenie. In einigen zeitgenössischen muslimischen Gesellschaften, etwa Pakistan, haben sie perfekte Beispiele dafür. Auf der einen Seite sehen die Leute per Satellit MTV, holen sich pornographisches Material usw. Auf der anderen Seite werden Frauen für sexuelle Fehltritte, die sie vielleicht nicht einmal begangen haben, öffentlich gesteinigt. Das sind äußerst abstoßende Beispiele öffentlicher Gewalt. Das gab es auch unter den Taliban in Afghanistan. Letztlich erfordert die Moderne die Privatisierung der Moral ebenso wie die Privatisierung der Religion. Aber das ist etwas, mit dem Muslime sich nicht wohlfühlen.