Die neue Techno-Eugenik
Keimbahn-Engineering und das Ende der Menschheit
Unsere neu entdeckte Macht, die Gene unserer Kinder zu manipulieren, zwingt die Gemeinschaft der Menschen, sich einer Grundsatzfrage zu stellen: Werden wir Wissenschaft und Technik nutzen, um die Spezies Mensch zu fördern oder um sie zu zersetzen?
Jede Stunde, jeden Tag werden in aller Welt 15.000 Babys geboren. Etwa 3 Prozent, 450 Babys, sind Zwillinge. Im November 2018 kam in China ein ganz besonderes Zwillingspaar zur Welt: Die Schwestern namens Nana und Lulu waren die ersten Menschen, die mit CRISPR, dem aus Bakterien entwickelten System zur Genmodifikation, genetisch verändert worden waren.
Eine Mitentdeckerin und Pionierin der Anwendung der CRISPR-Technik zur Genomkorrektur, Jennifer Doudna von der Universität Berkeley, sagte 2016 zu Vision: „Das Gesamtbild ist, dass wir die Mittel haben, unsere DNS zu verändern und damit das zu ändern, was wir an künftige Generationen weitergeben. Und jetzt können wir diese Entscheidungen treffen. Das ist ein Gedanke von großer Tragweite.“
Frau Doudna berichtete, dass unter Wissenschaftlern weithin Einigkeit darüber herrscht, was anzustreben ist: „ein breiter gesellschaftlicher Konsens, bevor wir diese Technologie in irgendeiner klinischen Anwendung in der menschlichen Keimbahn einsetzen. Aber wie definiert man ‚breiter gesellschaftlicher Konsens‘? Das werden wir noch sehen, es war nicht das Ende des Meinungsaustauschs, sondern der Anfang.“
Doch Meinungsaustausch und Konsens wurden von der Realität Nana und Lulu überrollt.
Der chinesische Biophysiker Jiankui He schritt über Konsens und Philosophie hinweg zur Praxis. Vor dem Aufsichtsverfahren der Süd-Universität für Wissenschaft und Technik in Shenzhen hatte er seine Pläne offenbar getarnt. Zuerst wandte er Techniken der künstlichen Befruchtung an, um mehrere Embryonen herzustellen. Dann vollzog er den folgenreichen Sprung nach vorn und leistete, wie er es ausdrückte, Pionierarbeit in der „Genchirurgie“. Sein Ziel war es, eine Mutation zu erschaffen, die dafür bekannt ist, eine Form der HIV-Infektion zu blockieren.
Weil die Änderungen in den Zellen des embryonalen Frühstadiums vorgenommen wurden, sind theoretisch alle Zellen der Mädchen Träger der Mutation. Das bedeutet, dass ihre Eizellen die Änderungen tragen; sie werden sie an ihre Kinder vererben. Das nennt man Keimbahnmodifikation.
Als die Geburt der Mädchen bekannt gegeben wurde, gab es in der Wissenschaftswelt einen lauten und entsetzten Aufschrei. Aber war man wirklich überrascht? Was steht auf dem Spiel, wenn wir beginnen, unsere Gene zu modifizieren?
Ein Beitrag zu dem Meinungsaustausch kommt von Richard Hayes, dem Mitbegründer und von 2001 bis 2012 geschäftsführenden Direktor des Center for Genetics and Society (CGS) in Berkeley, Kalifornien. „Wir sind in einer klassischen Situation von Gefahr und Chance“, sagt er. „Wenn es uns nicht gelingt, ein Gefühl dafür zu wecken und zu mobilisieren, dass wir einer gemeinsamen Menschheit angehören, wird es schwer sein, gefährliche Gentechniken einzudämmen; andererseits könnte die schiere Gefahr, die von diesen Techniken ausgeht, genau das sein, was nötig ist, damit die Bedeutung unseres gemeinsamen Menschseins weithin verstanden und bejaht wird.“
Hayes sprach mit dem Vision-Autor Dan Cloer über die Modifikation der menschlichen Keimbahn und ihre eugenischen Gefahren.
DC Wie sind Sie von der Forschung über Energie- und Ressourcenpolitik auf die Politik der Humangenetik gekommen?
RH Anfang der 1990er-Jahre war ich Doktorand an der University of California in Berkeley und mein Spezialgebiet war Umweltökonomie und ökonomische Gerechtigkeit. Ich hatte auch Kurse in Bereichen, die weniger mit meinem Spezialgebiet zu tun hatten, von denen ich aber glaubte, dass sie die Aussichten für eine nachhaltige und gerechte Zukunft der Menschheit beeinflussen würden. Einer dieser Bereiche war Humangenetik.
DCDas war am Anfang des Human Genome Project.
RHJa, das ging damals gerade los. Es schien eine vernünftige Vorstellung, dass Techniken der Humangenetik im frühen 21. Jahrhundert von Bedeutung sein würden. Aber erst als ich begann, Lehrveranstaltungen und Konferenzen zu besuchen und mit Forschern zu sprechen, wurde mir bewusst, wie schnell diese Techniken tatsächlich entwickelt wurden, wie wirklich gefährlich sie potenziell waren, wie entschlossen viele führende Wissenschaftler das Ziel verfolgten, eine neue Techno-Eugenik zu entwickeln, und wie wenig sowohl die Öffentlichkeit als auch die politischen Entscheidungsträger von alledem mitbekamen.
„Die neue Techno-Eugenik ist weit gefährlicher als die alte Eugenik, weil wir jetzt nicht nur einzelne Gene und Gensätze manipulieren können; wir können Gene zusammensetzen und einfügen, die in der Geschichte des Lebens auf der Erde noch nie zusammengesetzt waren.“
Ich fing an, mit Leuten zu sprechen, um zu sehen, wer außer mir darüber besorgt war, wie diese neuen Gentechniken entwickelt wurden. Meine Kollegin Marcy Darnovsky und ich organisierten eine Reihe kleiner Treffen und Konferenzen, die schließlich 2001 zur Gründung des Center for Genetics and Society (CGS, Zentrum für Genetik und Gesellschaft) führten. Die Hauptzielsetzung des CGS ist, auf die Gefahren der neuen Techniken der Humangenetik aufmerksam zu machen und auf politische Maßnahmen zu drängen, die sicherstellen, dass sie nur für unschädliche, hilfreiche Zwecke angewendet werden.
DCMein Eindruck ist, dass Sie die Anwendung von Gentechnik am Menschen als eine Art Untergrundbewegung der Wissenschaft sehen, die etwas tut, was sie nicht tun sollte.
RHSie war nicht direkt im Untergrund; sie war eher für alle sichtbar versteckt. Führende Wissenschaftler wollten auf die Erschaffung von Designerbabys hinarbeiten, aber das sagten sie nicht, weil sie wussten, dass die große Mehrheit der Amerikaner strikt dagegen war. Also gingen sie strategisch vor, mit einer Flut sogenannter Ethikreports, Sicherheitsüberprüfungen, Forschungskommissionen und Ethikräten, die alle den Anschein gründlicher, nüchterner Erwägung erweckten. Aber das war in großen Teilen ein Tarnmanöver. An keiner Stelle hieß es in auch nur einem der Kommissionsberichte: „Wir sollten die Erschaffung von Designerbabys verbieten. Auf Dauer.“ Sie hätten es tun können, aber sie taten es nicht. Das ist der Hinweis. Unterdessen hielten sie Fachkonferenzen ab und schrieben populäre Bücher, in denen sie die vielen lebensrettenden Therapien belegten, die Eingriffe in das Humangenom ermöglichen würden.
Allerdings sind einige ihrer Behauptungen berechtigt: Es gibt potenziell heilsame Anwendungen der Gentechnik am Menschen. Gentests können Gene identifizieren, die Krankheiten verursachen könnten und dadurch eine frühe Behandlung ermöglichen. Andere Gentests können zeigen, ob ein Patient auf bestimmte Pharmaka mehr oder weniger ansprechen könnte. Und bestimmte Arten von Genmodifikation könnten geeignet sein, um eine breite Vielfalt von Gesundheitsstörungen zu lindern oder sogar zu heilen.
Natürlich erfordert die Entwicklung solcher Anwendungen der Gentechnik eine sorgsame Überwachung und Regulierung. Und es gibt enorme Bedenken wegen der potenziellen Kosten und somit der Chancengleichheit bei vielen Gentherapien. Eine der vorgeschlagenen Gentherapien kostet über 4 Millionen Dollar pro Patient.
DCDie Modifikation von Immunzellen zur Bekämpfung von Krebs mithilfe von CRISPR ist z. B. kein besonderes moralisches Problem, auch wenn sie Fragen nach der Verteilungsgerechtigkeit aufwerfen kann. Ist der Eingriff in die Keimbahn (Eizellen, Spermien und Zygoten) die rote Linie, die nicht überquert werden darf?
RHDas stimmt, und es ist wichtig zu wissen, warum. Die Modifikation von Genen im Körper eines Patienten – mit Ausnahme der Gene in Eizellen oder Spermien – heißt „somatische Gentherapie“. Der Fall, den Sie nennen, der Einsatz von CRISPR, um Immunzellen zu verändern, ist ein gutes Beispiel. Somatische Genmodifikationen werden nicht an Nachkommen vererbt. Eingriffe in die Keimbahn verändern dagegen die Gene in Eizellen und Spermien. Diese Veränderungen werden nicht nur an Kinder vererbt, die mit diesen veränderten Eizellen und Spermien empfangen werden, sondern auch an deren Kinder, und immer so weiter. Wie Sie sagen: Der Eingriff in die Keimbahn ist die rote Linie, die wir nie überschreiten sollten. Das öffnet die Tür zu einer wahrhaft dystopischen, albtraumhaften menschlichen Zukunft.
DCMeinen Sie mit „albtraumhaft“ mehr als nur eine weitere Kluft zwischen Reich und Arm?
RHAllerdings. Wenn wir vererbbare Genmodifikationen zulassen, werden die ersten Anwendungen wahrscheinlich moderat sein. Man wird ein Gen mit einem Defekt korrigieren, der eine Krankheit verursacht. Aber wenn es okay ist, ein Gen zu optimieren, warum dann nicht zwei? Und wenn zwei, warum dann nicht 20? Oder 200? Und wenn es okay ist, das zur Heilung von Krankheiten anzuwenden, warum nicht auch, um eine erwünschte Begabung, kognitive Fähigkeit oder körperliche Eigenschaft zu verbessern?
„Es gibt über 20 000 menschliche Gene. Wie viele kann man ändern, bis wir aufhören, Menschen zu sein? Wo ist die Grenze? Und wer würde die Grenzlinien ziehen? Wenn wir einmal richtig loslegen, gibt es kaum Aussichten, wieder umzukehren.“
Wenn wir einmal anfangen, unsere Gene zu modifizieren, sind wir auf einem Weg, der zur Bildung genetischer Kasten führt, und von da aus zu Menschen-Unterarten. Darüber hinaus schlagen manche Forscher vor, komplett künstliche Chromosomen zu bauen, potenziell Tausende von Genmodifikationen hineinzupacken und sie in Eizellen und Spermien einzubringen. Menschen, die mit diesen Extra-Chromosomen geboren würden, könnten sich nur mit Trägern des gleichen Extra-Chromosoms fortpflanzen. Das nennt man reproduktive Isolation, und es ist der bestimmende Faktor, der eine Spezies von einer anderen unterscheidet.
Vererbliche Genmodifikation hätte Auswirkungen auf die Gefühle von Eltern für ihre Kinder. Kinder wären nicht mehr freie Geschenke der Liebe, sondern Artefakte, hergestellt nach erwünschten Leistungsstandards.
Wir alle wissen, dass Computersoftware alle paar Jahre in neuen Versionen auf den Markt kommt. Angenommen, Baby Susan wird mit 20 Genversionen konstruiert, die zur Zeit ihres Zusammenbaus das Neueste und Beste sind. Was geschieht, wenn ihr Bruder Bob drei Jahre später mit neueren, weiterentwickelten Versionen der gleiche Gene zur Welt kommt? Denken Sie daran: Wie gehen die Leute mit veralteter Computersoftware um?
Vor einigen Jahren hatten meine Frau und ich ein Abendessen mit mehreren gebildeten berufstätigen Paaren und sie diskutierten über die Herstellung von Kindern durch Klonen von Menschen. „Sollte der Klon erfahren, wie er geschaffen wurde, und wenn ja, in welchem Alter?“ „Könnte man einen Klon von einem Klon machen?“ Niemand schien im Mindesten zu spüren, welche reflexive Verdinglichung und Entmenschlichung eines menschlichen Lebens die Ausdrücke widerspiegelten, die sie verwendeten.
Wir stehen an einer entscheidenden Wegkreuzung. Ungefähr in den nächsten zehn Jahren wird die Gemeinschaft der Menschen diese Frage beantworten müssen: Werden Wissenschaft und Technik dazu benutzt werden, den Sinn des Menschseins weiter zu zersetzen? Werden wir uns entscheiden, Menschen zu bleiben, oder versuchen, eine Art posthumanes Kunstprodukt zu werden?
DCDas wirft die Frage auf, was der Sinn des Menschseins eigentlich ist. Manche werden sagen, er bestehe darin, die Wissenschaft bis an ihre maximalen Grenzen zu nutzen, und wenn das Artenbildung zur Folge hat, wie Sie meinen – nun, wir haben ja auch die Neandertaler zum Aussterben gebracht.
RHManche Leute sagen das tatsächlich und eine erste Antwort appelliert an unser tiefes und langes Engagement für Demokratie. Was halten die großen Mehrheiten für das Richtige, bei uns und weltweit? In einer Umfrage nach der anderen sagen die Menschen unmissverständlich: Der Weg, der uns in eine Zukunft posthumaner Designerbabys führt, ist kein Weg, den wir gehen wollen.
Bei dem Zustand, in dem die Welt heute ist, mit dem sprunghaften Wachstum der wirtschaftlichen Ungleichheit und mit ausufernder Polarisierung und Konflikten, die kein Abklingen erkennen lassen, ist es das Letzte, das wir tun sollten, eine Technik wie CRISPR zur genetischen Modifikation unserer Kinder zu verbreiten. Es wäre ein […] mir fällt nicht einmal eine Metapher ein. Es wäre tatsächlich ein Verbrechen gegen die Menschheit.
DCDer Film GATTACA wird oft als Darstellung solch einer künftigen genetischen Dystopie zitiert. Glauben Sie, dass ein Medium wie dieses einen Beitrag dazu leistet, dass sich Menschen mit den Implikationen unserer Technik auseinandersetzen?
RHDas tut es, aber wir müssen vorsichtig sein. Tatsächlich stellt GATTACA die Gefahren der neuen Gentechniken geringer dar, als sie wirklich sind. In dem Film geht es hauptsächlich um Diagnostik an menschlichen Embryonen zum Ausschluss von Krankheiten, was besorgniserregend genug ist, aber nicht die noch gefährlicheren Anwendungen von CRISPR zur Keimbahnmanipulation berührt. Ich wäre vorsichtig damit, bei kommerziellen Medien, und ganz besonders Hollywoodfilmen, nützliche Informationen über so komplexe und folgenschwere Themen zu suchen. Allerdings, wie Sie sagen, können solche Filme eine breite und anhaltende Wirkung haben. Ein positiver Nebeneffekt ist, dass sich Leute, die in der Filmindustrie arbeiten, an hohen Standards ethischer Verantwortung messen lassen müssen, wenn sie umstrittene Themen aufgreifen.
„Im Idealfall sollten sich die Menschen über Themen wie Genmodifikation am Menschen in einem Rahmen informieren, wo sie mit anderen zusammenkommen, die in ihrer Gemeinschaft leben: ihrer Kirchengemeinde, einem Elternbeirat, lokalen Bildungseinrichtungen und dergleichen.“
DC2008 schrieben Sie in Ihrer Ausarbeitung für einen Unterausschuss des US-Repräsentantenhauses über Genetik und andere Techniken zur Modifikation am Menschen: „Trotz vieler gegenteiliger Aussagen ist der Flaschengeist nicht freigekommen. Jedenfalls sind einige der Geister gute Geister. Und die schlimmsten Geister sind noch in der Flasche. Ich bin aufrichtig überzeugt, dass wir die Zeit und die Fähigkeit haben, ihnen zuvorzukommen und das Richtige zu tun.“ Sind wir ihnen noch voraus?
RHJa, aber die Situation ist ständig im Fluss. Über 35 Länder weltweit, darunter die Mehrzahl der Länder mit den am weitesten entwickelten Infrastrukturen in den Biowissenschaften, haben Keimbahnveränderungen am Humangenom gesetzlich verboten und die Vereinten Nationen haben einstimmig beschlossen, ein weltweites Verbot von reproduktivem Klonen von Menschen zu fordern. Die Geburt der ersten genmanipulierten Babys in China hat letztes Jahr international für Empörung und neue Rufe nach weltweiten Verboten von Eingriffen in das Humangenom gesorgt.
Auf der anderen Seite sind die Befürworter der Techno-Eugenik so engagiert wie eh und je, und Designerbaby-Förderer in den drei Ländern mit den aktivsten Pro-Eugenik-Forschungskadern – Großbritannien, den USA und China – arbeiten daran, Rufe nach permanenten Verboten und sogar starken Moratorien abzuwenden. In weiteren Ländern sollen illegal operierende Forscher an eigenen Projekten der Genmodifikation arbeiten. Jede weitere Geburt wird den Glauben verstärken, dass eine Zukunft mit Designerbabys unvermeidbar ist – genau das, was die Designerbaby-Befürworter uns glauben machen wollen. Aktionen, um dieses Gefühl von Fatalismus zu unterstützen, muss entgegengetreten werden und die wirksamste Weise, das zu tun, ist zu zeigen, dass eine Politik, die die Herstellung von Designerbabys verbietet, mit Erfolg vertreten und etabliert werden kann. Es muss eine aktive, koordinierte, finanziell gut ausgestattete globale Kampagne geben, um die neue Techno-Eugenik zu stoppen und vererbliche Genmodifikation am Menschen zu verbieten. Derzeit ist keine derartige Kampagne angelaufen.
DCDa der menschliche Embryo die Plattform für die Modifikation der Keimbahn ist, sind dann Stammzellenforschung und die Nutzung von Embryonen im Frühstadium ein weiteres besorgniserregendes Thema? Benjamin Hurlbut, ein Bioethiker an der Arizona State University, fragt schlicht: Was ist der Embryo? Wie er schreibt, wollen einige Forscher „den bei der künstlichen Befruchtung übrig gebliebenen Embryo von einem potenziellen Kind zu einem Versuchsobjekt umfunktionieren“. Sie haben geschrieben: „Es ist die materialistisch-reduktionistisch-deterministische Weltsicht, die Amok läuft. Es ist das, was geschieht, wenn Menschen den Kontakt zu sich selbst, anderen und der Natur verlieren.“ Wie passt all das zusammen?
RHWir müssen anerkennen, dass Menschen in gutem Glauben verschieden darüber denken, wo genau die Grenzlinien beim Umgang mit menschlichen Embryonen zu ziehen sind. Aber eine Welt, in der es überhaupt keine Grenzlinien für den Umgang mit menschlichen Embryonen gibt und in der vererbliche Modifikationen am menschlichen Erbgut und reproduktives Klonen von Menschen erlaubt sind, wäre eine höllische Dystopie. Jeder Aspekt des menschlichen Personseins würde sich bald zu einer bedeutungslosen Gefühlsduselei und letztlich in nichts aufgelösen. Anhaltende Behandlung menschlicher Personen als Objekte führt dazu, dass das Personsein ein Objekt wird – das heißt, es führt zur Auslöschung.
Es ist wichtig, zu verstehen, dass Genmodifikation am Menschen Bestandteil eines Komplexes aus neuen, ineinandergreifenden Technologien von enormer Macht und Tragweite für die Zukunft des Menschen ist – u. a. Nanotechnologie, synthetische Biologie, künstliche Intelligenz und Robotik. Verfechter der hypertechnologischen Zukunft erwarten und feiern eine Welt, in der alles Leben in Maschinen integriert oder ganz durch sie ersetzt worden ist und in der der Geist von Menschen, auf Computerchips gespeichert, von einem mit Sonnenenergie betriebenen Raumschiff nach Alpha Centauri gebracht wird. In einflussreichen Sektoren von Wissenschaft und Technik, Hochschulen, Industrie, Medien und Kunst ist diese perverse Vision rasch zu der vorherrschenden Vision der Zukunft des Menschen geworden. Ihre Verfechter verkünden, sie sei ein Beweis genialen menschlichen Strebens – aber besser versteht man sie als Beweis von Pathologie. Der Glaube, Menschen seien einfach Maschinen und Maschinen würden irgendwann genau wie Menschen sein, ist ein verhängnisvoller Irrglaube. Dass so viele ansonsten intelligente Leute offenbar diesem Glauben anhängen, ist alarmierend und sollte Anlass zu großer Sorge sein.
„Ohne ein starkes Bekenntnis zu den spirituellen Dimensionen menschlichen Lebens wird es schwierig sein, die Keimbahnmodifikation und die technologische Entmenschlichung, die sie zur Folge hätte, zu verhindern.“
DCIch würde sagen, der sogenannte Blick von nirgendwo ermöglicht es Wissenschaftlern, die so denken, zu glauben, sie machten ihre eigenen Regeln. Wenn es keine höhere Bedeutung gibt, wenn Zellen und Physik alles sind – nichts Heiliges hier, weitermachen, nichts zu sehen –, dann gibt es nichts, in dem man verankert sein kann, außer in sich selbst.
RHDas sehe ich auch so. Es ist, als würde im Kern ihrer Seele etwas fehlen; oder besser, es ist da, aber in einer so harten, verhornten Schale abgekapselt, dass sie nicht mehr wissen, dass es da ist. Eine gängige Reaktion auf diesen Zustand existenzieller Entfremdung besteht darin, Selbstbestätigung durch Macht und Kontrolle über die Natur und andere Menschen zu suchen. Ich glaube nicht, dass wir ganz begreifen, wie allgegenwärtig diese Entfremdung und die damit einhergehende Machtgier tatsächlich sind.
DCHier kommen wir wieder zu dem Problem Sinn. Wo finden wir den Sinn, der uns helfen wird, die richtigen Grenzen zu setzen? Müssen wir an dieser Stelle auf Einstein hören, der gesagt hat: „Wissenschaft ohne Religion ist lahm, Religion ohne Wissenschaft ist blind“?
RHWir brauchen beides, Wissenschaft und Religion, und es ist falsch, zu glauben, sie seien in sich unvereinbar. Ich denke, wir alle, religiös oder weltlich, können uns darauf einigen, dass wir das Problem der weitverbreiteten, tiefen Entfremdung verstehen und ihm begegnen müssen. Es braucht keine religiöse Bindung, um die Fülle, die Vielfalt und den Reichtum des Menschseins zu spüren und zuzustimmen, dass wir auf Technologien, die unser gemeinsames Menschsein gefährden, verzichten sollten.
Mein Fazit ist dies: Ich denke, wir leben mittendrin in einem dicken, fetten Wunder – und wir sind zu einem erheblichen Teil hier, um das zu feiern. Aber wir sind von dieser Realität entfremdet worden; und mit unseren vielen fehlgeleiteten Versuchen, den Schmerz dieser Entfremdung zu lindern, können wir großen Schaden anrichten, und wir tun es auch. Zu den größten Schäden gehört die Zerstörung dessen, was es bedeutet, ein Mensch zu sein. Und das tun wir immer mehr durch den Gebrauch machtvoller Techniken, z. B. der Techniken, mit denen wir die Gene unserer Kinder manipulieren können.
DCEin russischer Genetiker namens Denis Rebrikov hat im Juni gesagt, dass er mit CRISPR die Keimbahn von weiteren Kinder modifizieren will und dass Veränderungen der Keimbahn zum Zweck der Optimierung in Zukunft definitiv kommen werden. Zu Science sagte er: „[Optimierung] wird der nächste Schritt sein. Aber in 20 bis 30 Jahren. Jetzt bin ich dagegen. 2040 werde ich es unterstützen. Ich bin nicht gegen die Idee selbst. Und diese Leute, die dagegen sind, wollen all diese Dinge bei ihren Kindern haben, aber nur durch eine ,göttliche Vorsehung‘, nicht durch Wissenschaft. Sie sind Lügner oder dumm.“
RHIch wünschte, ich könnte sagen, dass ich schockiert bin, jemanden so reden zu hören, aber ich bin es nicht. Das und Schlimmeres habe ich viele Male von Wissenschaftlern gehört. Ich meine, wir müssen Mitleid mit denen empfinden, deren Verständnis von menschlichem Leben so verarmt zu sein scheint.