Löcher im Netz
Der pensionierte Präsident des Queen’s College in Cambridge (England) blickt auf eine glänzende Laufbahn in der Naturwissenschaft wie auch der Religion zurück. In diesem Interview spricht er über einige Mängel eines wissenschaftlichen Ansatzes, der Glauben ausschließt.
In einer Welt, in der Naturwissenschaft und Religion hoffnungslos unvereinbar scheinen, hat Sir John Polkinghorne engagiert dafür gearbeitet, zwischen beiden eine Brücke zu bauen. Er kann auf eine bemerkenswerte Laufbahn als Professor für mathematische Physik in Cambridge verweisen, in der er zahlreiche Bücher und Artikel veröffentlichte, und wurde 1974 in die renommierte Royal Society aufgenommen. Dennoch entschied er sich Ende der 1970er-Jahre für einen anderen Weg und wurde anglikanischer Geistlicher.
Seit jener Zeit hat der zum Priester gewordene Professor das Tempo seines Schreibens nicht verringert, doch ist sein bevorzugtes Thema nicht mehr die Physik, sondern die Beziehung zwischen Naturwissenschaft und Religion. Sein jüngstes Buch hat er unter dem Titel Questions of Truth: Fifty-One Responses to Questions About God, Science, and Belief (2009) veröffentlicht, ein Gemeinschaftswerk mit seinem Kollegen Nicholas Beale. Er schreibt: „Die rationale Transparenz und Schönheit des Universums sind gewiss zu bemerkenswert, um als bloße Glücksfälle behandelt zu werden.“ Naturwissenschaft, schließt er, „wird so als möglich verstanden, weil das Universum eine Schöpfung ist und wir Geschöpfe sind, geschaffen nach dem Bild des Schöpfers.“
Er erhielt im Jahr 2002 den Templeton Prize, der für „einen außergewöhnlichen Beitrag zur Bestätigung der spirituellen Dimension des Lebens“ vergeben wird, und gilt heute als eine der wichtigsten Stimmen in dem Bestreben, die vermeintliche Kluft zwischen Naturwissenschaft und Glauben zu überbrücken. Dan Cloer von Vision sprach mit Professor Polkinghorne über diese Kluft.
DC Der Apostel Paulus schreibt in seinem Brief an die Hebräer (11, 3): „Durch den Glauben erkennen wir, dass die Welt durch Gottes Wort geschaffen ist – das, was man sehen kann, ist nicht durch etwas geschaffen worden, das man sehen kann.“ Er scheint zu sagen, dass Glaube nicht mit naturwissenschaftlicher Rationalität verbunden sei. Wie sehen Sie als Physiker das?
JP Paulus schreibt den Hebräern mit einer an- deren Weltsicht, als wir sie heute haben. Wir wissen viel mehr über die Beschaffenheit des Universums, in dem wir leben. Die wunderbare Ordnung der Welt und ihr Charakter – in diesem Sinn „das, was man sieht“ – spiegeln den unsichtbaren Geist des Schöpfers wider.
DC Was macht Glauben an Gott rational? Ist er eigentlich rational?
JP Glaube an Gott bedeutet nicht, unsere Augen zu schließen, die Zähne zusammenzubeißen und unmögliche Dinge zu glauben, weil irgendeine Autorität, die nicht hinterfragt werden kann, uns sagt, dass wir das müssen. Es gibt viele Maßstäbe für religiösen Glauben, ebenso wie für wissenschaftlichen Glauben. Natürlich sind das verschiedene Arten von Glauben; aber ich denke, für einen Glauben an Gott gibt es zwei starke Argumente.
Das eine besteht darin, dass, wenn man die Welt betrachtet, da tatsächlich Fragen sind, die über die Wissenschaft hinausgehen – tiefere Fragen, als sie die Wissenschaft sieht. Bei der Erforschung der Welt haben wir z. B. festgestellt, dass in ihrer innersten Struktur eine wunderbare und schöne Ordnung ist. In meiner Zeit als Naturwissenschaftler habe ich in der Teilchenphysik gearbeitet, und eines der Dinge, die wir herausfanden, ist, dass in der Welt eine tiefe Ordnung herrscht. Dies drückt sich in wunderschönen mathematischen Gleichungen aus. Die Naturwissenschaft macht sich diese Tatsache zunutze, aber sie erklärt nicht, woher diese Tatsache kommt. Es ist eine so bemerkenswerte Tatsache, dass wir die Welt in einer tiefen Weise verstehen können, und dass wir, wenn das geschieht, dieses Staunen erfahren. Ich würde sagen, wir brauchen weitere Erklärungen, und ich würde mit Freude antworten, dass hinter der tiefen Ordnung der Welt die Intelligenz Gottes steht; die Ordnung drückt das Wesen Gottes aus.
Das zweite zentrale Argument für den Glauben an Gott kommt aus der religiösen Erfahrung. Ich bin Christ, und im Mittelpunkt meiner religiösen Erfahrung steht meine Begegnung mit der Person Jesus Christus. Nun ist das eine weit persönlichere und etwas uneindeutige Erfahrung, für mich aber eine absolut zentrale und unausweichliche Quelle des Glaubens.
Die Existenz Gottes ist ein komplexes Thema. Die Argumentation basiert aber nicht auf irrationalen Behauptungen.
DC Die persönliche Erfahrung des Einzelnen bleibt ein entscheidender Faktor, da sich ja der Sinn der frohen Botschaft (des Evangeliums) durch Tun erschließt – das, womit man beauftragt ist, konsequent tun.
JP Und in dieser Hinsicht ist religiöser Glaube gefährlicher als wissenschaftlicher Glaube. Ich meine, ich glaube an Quarks und Gluonen als Grundbestandteile der Materie, aber das macht für mein Leben keinen wirklich großen Unterschied. Wenn ich aber ein gläubiger Christ bin, hat das alle möglichen Auswirkungen auf mein Leben; es ist allumfassender und kostet mich in gewisser Weise mehr als wissenschaftlicher Glaube. Es geht nicht nur darum, was man denkt, sondern wie man die Welt wahrnimmt und sein Leben führt.
DC Dass Gott durch natürliche Mittel wirkt, war wohl eine starke viktorianische Vorstellung (vgl. unseren Artikel „Die Abstammung des Darwinismus“ in dieser Ausgabe). Gibt es hier einen Zusammenhang mit dem Werk Charles Darwins?
JP Als Darwin Über die Entstehung der Arten veröffentlichte, waren die Reaktionen auf der naturwissenschaftlichen Seite wie auch der religiösen Seite gemischt. Von seinen Wissenschaftlerkollegen akzeptierten etliche seine Gedanken nicht; sie wussten z. B. nicht, woher diese kleinen Variationen kamen.
Auf der religiösen Seite gab es Leute, die Darwins Erkenntnisse auf Anhieb begrüßten. Sie sahen, dass diese implizierten, dass Gottes Schöpfungswerk nicht ein Fingerschnippen war, das eine fix und fertige Welt produzierte, sondern dass Gott eine Welt produziert hatte, die mit großartiger Fruchtbarkeit und Potenzial ausgestattet war.
DC Ist das dann die Bedeutung des letzten Satzes der Entstehung der Arten, wo Darwin den Schöpfer anruft?
JP Ja, das stimmt. Ich denke, dass da bestimmt ein Zusammenhang besteht.
DC Paulus spricht vom menschlichen Bewusstsein als etwas Geistigem. Was im Menschen ist, weiß allein „der Geist des Menschen, der in ihm ist“ (1. Korinther 2, 11) – wenn Sie das in eine naturwissenschaftliche Ausdrucksweise übersetzen wollten, würden Sie dann sagen: „Im Gehirn des Menschen gibt es ein Muster“?
JP Der Geist des Menschen ist natürlich viel reicher, viel komplexer als das, denn wir sind mehr als das Muster unseres Gehirns. Wir tun uns schwer, in unserer Sprache von heute – wie Paulus in seiner Sprache – den Reichtum des menschlichen Wesens auszudrücken. Wir können nicht leugnen, dass wir stofflich verkörperte Wesen sind, aber wir sind nicht nur stofflich. In gewisser Weise sind wir Amphibien: Wir sind in der materiellen Welt, aber wir sind auch in einer Art geistig-spirituellen Welt. Wir leben im Geist und in der Materie.
„Wir können nicht leugnen, dass wir stofflich verkörperte Wesen sind, aber wir sind nicht nurstofflich. In gewisser Weise sind wir Amphibien: Wir sind in der materiellen Welt, aber wir sind auch in einer Art geistig-spirituellen Welt.“
Ich denke, das ist eine reale, verlässliche Erfahrung, aber sie ist schwierig zu erklären. Wir versuchen, sie mit den Mitteln unserer Generation zu erklären, so gut wir können – so, wie auch Paulus es mit den Mitteln seiner Generation versucht hat.
DC Für viele Menschen besteht eine Unvereinbarkeit zwischen der Vorstellung eines liebevollen Gottes und einem Universum, das verfällt. Ist das zweite Gesetz der Thermodynamik notwendig, damit das Leben weitergeht?
JP In dieser Welt ist es notwendig. So funktioniert sie. Das Gesetz besagt einfach, dass Ordnung immer von Unordnung besiegt wird, im Wesentlichen weil es viel, viel mehr Möglichkeiten gibt, in Unordnung als in Ordnung zu sein. Am Ende nimmt das Chaos zu, und so kommt es zu Tod und Verfall. Es mag lange dauern, aber es geschieht.
Es gibt Grund zu glauben, dass es den Tod in der Welt schon lange gab, ehe es Menschen gab. Der biologische Tod ist nicht dadurch in die Welt gekommen, dass der Mensch sich seiner selbst bewusst wurde. Was in die Welt kam, war eine Art Traurigkeit über die erkannte Vergänglichkeit dieser Welt, weil unsere Vorfahren von Gott entfremdet und isoliert worden waren – dem einzigen Gott mit der Hoffnung auf etwas Zusätzliches, das über den Tod hinausgeht. Das war eine traurige Sache. Aber ich glaube trotzdem, dass Gott treu ist, und dass der Tod, wie Paulus den Korinthern schrieb, „vom Sieg verschlungen“ wird.
Es gibt keinen Grund, zu glauben, Gott könnte nicht eine neue Form der Materie ins Sein rufen (wie Paulus in 1. Korinther 15 beschreibt), die so starke Selbstorganisierungsprinzipien hat, dass das Abgleiten in den Verfall nicht mehr stattfindet. Doch in dieser Welt muss es etwas wie Tod und Verfall geben, denn es ist eine Welt, die sich entwickelt, und in der Geschöpfe sie selbst sein dürfen. Soweit wir sehen können, ist das ein notwendiges Merkmal einer solchen Welt.
DC In dem Film Expelled, der von dem Wettbewerb der Gedanken, akademischer Freiheit, Evolution und „Intelligent Design“ handelt, sagten Sie: „Man erzählt euch, dass die Wissenschaft alles sagt, was ihr über die Welt wissen müsst, oder dass die Wissenschaft euch sagt, dass Religion ganz verkehrt ist, oder dass die Wissenschaft sagt, dass es keinen Gott gibt. Diese Leute geben aber keine wissenschaftlichen Informationen. Sie machen metaphysische Aussagen, und sie müssen ihren Standpunkt aus metaphysischen Gründen verteidigen.“
JP Das ist absolut richtig, und ich würde das auch heute noch immer so sagen. Die Aussage, es gebe außer der physischen Realität keine andere formale Realität, ist keine wissenschaftliche Feststellung, sondern eine metaphysische Behauptung. Diese muss verteidigt werden wie jede andere metaphysische Behauptung.
DC Ist diese Verteidigung der Kern der Territorialität zwischen Naturwissenschaft und Religion?
JP Ich glaube schon. Die Naturwissenschaft ist enorm erfolgreich, aber das ist sie, weil sie ihre Ambition eingeschränkt hat. Sie stellt und beantwortet nicht jede Frage über die Welt; sie fragt, wie Dinge vor sich gehen, was die Abläufe der Welt sind. Und sie schließt ganz bewusst andere Fragen aus, z. B. nach Werten, Bedeutung oder Sinn. Das sind immens wichtige Fragen, die die Naturwissenschaft einfach nicht stellt. In meinen Augen ist es sehr notwendig, über diese Fragen nachzudenken, aber das gehört nicht zur Naturwissenschaft.
Auch betrachtet die Naturwissenschaft nur bestimmte Aspekte der Realität. Sie behandelt die Welt unpersönlich, als ein „es“, ein Objekt. Auf diese Weise kann man Dinge testen. Natürlich gibt das der Naturwissenschaft ihre große Geheimwaffe: die Experimente. Und das ist ungeheuer machtvoll. Doch wir alle wissen, dass es viele persönliche Bereiche des Kontakts mit der Realität gibt, wo das Testen etwas anderem weichen muss, das vielmehr etwas wie Vertrauen ist.
Zwischen uns beiden, von Mensch zu Mensch, würde ich die Möglichkeit einer Freundschaft zerstören, wenn ich ständig kleine Fallen stellen würde, um zu sehen, ob Sie mein Freund sind. Diese Art zwischenmenschlicher Kontakt oder, noch wichtiger, das Wissen um die transpersonale Wirklichkeit Gottes ist ein anderer Bereich der Erfahrung und Erkenntnis. Ich meine, wir brauchen beide. Wir brauchen die Erkenntnisse der Naturwissenschaft und die Erkenntnisse der Religion sowie die Erkenntnisse aller möglichen anderen Dinge, z. B. unsere Vorstellungen von moralischem Wert und von Schönheit, die zwischen diesen beiden Extremen liegen. Die Naturwissenschaft erforscht einen Aspekt der Realität, aber nur einen.
„Die Naturwissenschaft erforscht einen Aspekt der Realität, aber nur einen.“
DC Wenn Sie also von einer Versöhnung zwischen Naturwissenschaft und Religion sprechen, geht es nicht darum, die eine oder die andere zu verändern, sondern darum, zu verstehen, dass beide wichtige Erkenntnisse liefern.
JP Unbedingt. Ich denke, wir haben allen Grund, zu glauben, dass die wissenschaftlich relevante Frage eine wissenschaftlich vertretbare Antwort erhalten wird; sie ist vielleicht sehr schwer zu finden, aber ich bin ganz sicher, dass Antworten auf solche Fragen auf diese Weise zu suchen sind. Ebenso, meine ich, haben wir allen Grund, zu glauben, dass es auf religiöse Fragen – Fragen nach Bedeutung, Sinn und letztgültigem Wert – Antworten geben muss, die in religiösen Begriffen vertretbar sind.
Natürlich sagen Antworten dazu, wie Dinge geschehen, nichts darüber, warum sie geschehen. Diese Fragen sind unabhängig voneinander, aber die Art, wie sie beantwortet werden, muss zusammenpassen. Wenn ich z. B. sage: „Das Wasser kocht“, kann ich meine naturwissenschaftliche Hälfte einschalten und sagen: „Das kommt daher, weil das brennende Gas das Wasser erhitzt.“ Mit meiner menschlichen Hälfte sage ich dagegen: „Ich will Tee machen. Möchten Sie auch eine Tasse?“ Ich muss mich nicht zwischen beiden Antworten entscheiden, und tatsächlich können beide gleichzeitig wahr sein. Aber die Antworten müssen zu den Fragen passen. Wenn ich zu Ihnen sagen würde: „Ich habe gerade den Kessel in den Kühlschrank gestellt, und ich will Tee machen“, dann würden Sie wahrscheinlich denken, dass da etwas ziemlich komisch läuft. Der Bezug muss also stimmen; es ist nicht so, dass die Antwort auf die eine Frage auch für die andere passt.
DC In Ihrem Buch Belief in God in an Age of Science fordern Sie Ihre Kollegen in der Wissenschaft auf: „Das Wesen der Realität großzügig zu sehen; anzuerkennen, dass eine rein objektive wissenschaftliche Beschreibung ein metaphysisches Netz mit vielen Löchern darstellt; in ihrem Denken die gleichen persönlichen Qualitäten widerzuspiegeln, die sie in ihrem Leben genießen und anwenden.“ Das ist offenbar ein Appell an Wissenschaftler, die nicht in Betracht ziehen, dass hinter der Schöpfung Gott steht, offener zu denken, ihre wissenschaftlichen Befunde in dem Zusammenhang realer menschlicher Erfahrung zu betrachten. Was war Ihre Absicht?
JP Ich möchte sie anregen, als Menschen zu denken. Für viele ist der Sprung von der Naturwissenschaft zu Gott in einem Schritt ein zu großer Sprung; darum sind mehrere Schritte erforderlich.
„Für viele ist der Sprung von der Naturwissenschaft zu Gott in einem Schritt ein zu großer Sprung; darum sind mehrere Schritte erforderlich.“
Etwas, worüber ich im Hinblick auf kleine Schritte oft spreche, ist Musik, denn viele Naturwissenschaftler schätzen Musik und werden von ihr beeinflusst. Wenn man einen Naturwissenschaftler bittet, als Naturwissenschaftler Musik zu beschreiben, könnte er oder sie einfach sagen, es ist die auditive Reaktion auf das Feuern von Neuronen im Gehirn, verbunden mit der Berührung des Trommelfells durch Schallwellen. Und das ist irgendwie wahr. Aber es ist nicht die ganze Wahrheit. In der Musik steckt ein tiefes Mysterium. Wie eine Abfolge von Tönen und Pausen uns anzusprechen vermag, ist nicht trivial; dort gibt es eine zeitlose Schönheit.
Eine Weltsicht, die das Mysterium und die Realität der Musik nicht angemessen beinhaltete – die einfache physikalische Schallwellen-Weltsicht – würde der Sache nicht gerecht. Wenn man also einmal beginnt, ein wenig über den Tellerrand hinauszublicken, zu sehen, dass es Dimensionen der Wirklichkeit gibt, die die Naturwissenschaft nicht fassen kann – dass es sozusagen Löcher im Netz gibt –, dann beginnt man hoffentlich, den Gedanken ernst zu nehmen, dass Schönheit, die wir erleben, eine Spur des Schöpfers sein könnte.
Man muss beginnen, über die krasse, reduktionistische Sichtweise hinwegzukommen, die so viele Naturwissenschaftler im Prinzip vertreten, aber in der Praxis nie leben. Kein Mensch könnte als Person ein insofern so belastetes, beschränktes Leben führen.
DC Es ist also angesichts unserer eigenen menschlichen Erfahrung unsinnig, zu glauben, die Naturwissenschaft allein könnte alle Fragen beantworten?
JP Nun, manche glauben das, aber in meinen Augen ist es offenkundig falsch.