Eltern, die erziehen

Wer heute ein Kind erzieht, dem muss man nicht sagen, dass dies eine Herausforderung ist. Seit einigen Jahren bietet der Psychologe William Damon seinen Rat an, um die Aufgabe ein wenig zu erleichtern. 

Damon ist Senior Fellow an der Hoover Institution, Direktor des Stanford Center on Adolescence und Professor für Pädagogik an der Universität Stanford. Er ist der Autor von Greater Expectations: Overcoming the Culture of Indulgence in Our Homes and Schools (Höhere Erwartungen: Die Überwindung der Kultur des Gewährenlassens in unseren Familien und Schulen, 1995) und The Youth Charter: How Communities Can Work Together to Raise Standards for All Our Children (Die Jugendcharta: Wie Gemeinschaften zusammenarbeiten können, um die Standards für alle unsere Kinder zu erhöhen, 1997). Derzeit erforscht er die Einflüsse von Schulen, Familien, Arbeitsplätzen, religiösen Institutionen und Freizeiteinrichtungen auf die Entwicklung Heranwachsender sowie pädagogische Methoden, die in Schulen und Gemeinden angewendet werden.

In einem Interview mit der Vision-Mitarbeiterin Rebecca Sweat sagte William Damon vor kurzem:

 

RS Seit dem Erscheinen von Greater Expectations sind fast sieben Jahre vergangen. Wenn Sie heute den Puls der Kindererziehung in Amerika messen würden, wie wäre dann Ihre Beurteilung?

WD Als die erste Auflage erschien, hatten die Leute wirklich Mühe, die Botschaft zu verstehen. Etwas Derartiges hatten sie noch nie gehört. Seit damals hat aber eine Wende eingesetzt. Wir wissen jetzt, dass einige der Vorstellungen, die wir als Gesellschaft hatten, in die falsche Richtung führten. Nun sieht man Eltern, die ihre Kinder zu ehrenamtlicher Arbeit anhalten. Im Bildungswesen wird weit mehr Leistung verlangt. Politiker, Lehrer und Eltern verwenden heute die Begriffe „hohe Maßstäbe“ und „hohe Erwartungen“. Sogar im Bereich der Disziplin herrscht weit weniger Toleranz gegenüber Unehrlichkeit oder Grausamkeit zwischen Kindern untereinander.

RS Welchen Einfluss hat Ihre eigene Erziehung auf Ihre Meinung, wie Kinder erzogen werden sollten?

WD Ich wurde religiös erzogen, und daher weiß ich, wie hilfreich es für ein Kind ist, in einer Tradition aufzuwachsen, die starke Werte und einen Glauben an etwas hat, das größer ist als man selbst, damit man nicht so egozentrisch und selbstbezogen wird. Außerdem wuchs ich in einem Haushalt auf, der nicht sehr wohlhabend war, und so lernte ich, welche Vorteile es hat, wenn man für das, was man sich wünscht, arbeiten muss, statt von vornherein alles geschenkt zu bekommen.

RS Würden Sie sagen, dass die Kindererziehung in Amerika noch einen weiten Weg vor sich hat?

WD Es gibt noch viele ungelöste Probleme, obwohl ich finde, dass schon Fortschritte gemacht wurden. Unsere Wohngebiete müssen mehr wie Gemeinschaften werden, sodass Nachbarn zum Beispiel ein Auge auf die Kinder der anderen haben. Zu viele Familien funktionieren heute natürlich nicht wirklich als Familien. Das hat nicht so viel damit zu tun, dass die Mütter arbeiten und tagsüber nicht zuhause sind. Aber wenn Eltern von der Arbeit kommen, beschäftigen sie sich dann mit ihren Kindern? Essen sie mit ihnen, und reden sie mit ihnen? Lesen sie ihnen etwas vor? Oder schenken sie sich etwas Hochprozentiges ein, setzen sich vor den Fernseher und schalten einfach ab? Ich fürchte, nur allzu viele tun das Letztere, und das macht mir Sorgen.

Zu viele Familien funktionieren heute natürlich nicht wirklich als Familien.“ 

William Damon

RS Glauben Sie, dass das Fernsehen einen negativen Einfluss auf die Familien hat?

WD Ganz sicher, aber es muss nicht so sein. Es könnte positiv sein, wenn Eltern und Kinder eine Sendung gemeinsam sehen und dann besprechen. Das könnte ein Familienanlass sein. Doch oft hat eine Familie drei Fernseher – einen in jedem Schlafzimmer und einen im Wohnzimmer –, und jedes Familienmitglied sieht etwas anderes. Das ist ein Rezept für soziale Isolation.

RS Sollte man Kinder dazu anhalten, weniger fernzusehen oder nur weniger allein fernzusehen?

WDHier gibt es drei Prinzipien: Das erste ist die Beschränkung des Fernsehkonsums. Man lässt das Kind also nicht vier, fünf Stunden am Tag fernsehen. Ein, zwei Stunden am Tag sind wahrscheinlich vertretbar und könnten sogar von Nutzen sein. Zweitens sollten Eltern mit bestimmen, was das Kind sieht, und den Kindern Programme nahe legen, aus denen sie etwas lernen. Und drittens ist es nützlich, wenn Eltern und Kinder möglichst oft gemeinsam fernsehen.

RS Haben auch Materialismus und Konsumdenken einen negativen Einfluss auf die Familien?

WD Wenn man das Wort übermäßig vor diese Begriffe setzt, ja. Ich denke, ein gewisser Materialismus ist gut für Kinder; so lernen sie, den Wert der Dinge konkret zu verstehen. Und es ist gut für ein Kind, schöne Geburtstagsgeschenke zu bekommen und für eine materielle Belohnung arbeiten zu lernen. Aber übermäßiger Materialismus, der zum Selbstzweck wird, ist etwas, mit dem man Kinder verzieht.

RS Versuchen viele Eltern, ihre Zuneigung zu zeigen, indem sie ihren Kindern Dinge kaufen, statt Zeit mit ihnen zu verbringen?

WD Ja, zu viele Eltern versuchen, ihre Kinder zu bestechen. Das ist besonders bei Scheidungen ein Problem, wenn beide Eltern versuchen, sich die Zuneigung ihrer Kinder zu erkaufen, indem sie sie verwöhnen; aber es geschieht auch in Familien, die nicht von Scheidung betroffen sind. Manche Eltern versuchen auch, ihre Kinder zu bestechen, indem sie nicht streng genug sind, wenn die Kinder ein wenig Strenge brauchen würden. Sie wollen bei ihren Kindern beliebt sein und haben oft Angst, durch Regeln Härte zu zeigen. Es ist die Vorstellung: „Mein Kind wird mich nicht mögen, wenn ich ihm das verbiete.“

[Eltern] wollen bei ihren Kindern beliebt sein und haben oft Angst, durch Regeln Härte zu zeigen.“

William Damon

RS Wir hören heute sehr viel darüber, wie wichtig es ist, unseren Kindern Selbstachtung mitzugeben. Ist das Ihrer Ansicht nach wichtig?

WD Nicht als Selbstzweck. Selbstachtung zu haben ist vollkommen in Ordnung, aber sie sollte das Ergebnis von richtigem Verhalten sein. Anders ausgedrückt, man sollte sich selbst gut finden, weil man etwas Gutes getan hat. Kinder sollten nicht mit der Einstellung „Ich bin toll“ herumlaufen, gleichgültig, wie sie sich benehmen. Wir wollen eine Selbstachtung fördern, die aus der eigenen Leistung kommt und daraus, was man für andere tut. Doch wenn ein Kind etwas Schlechtes getan hat, soll das Kind sich deshalb schlecht fühlen. Ich meine nicht, das Kind sollte mit der Einstellung „Ich bin ein schlechter Mensch“ herumlaufen, sondern es sollte sich sagen: „Ich habe etwas Verkehrtes getan, und ich kann lernen, es besser zu machen.“

RS Viele Elternbücher propagieren heute offenbar eine Selbstachtung vom Typ „Ich zuerst“ statt der Art Selbstachtung, über die Sie sprechen.

WD Ja, das ist sehr egozentrisch, und das ist ein Riesenproblem für Kinder. Egozentrische Kinder heranzuziehen ist nicht gut für die Gesellschaft, aber auch für ihre eigene seelische Gesundheit ist es nicht gut, völlig von sich selbst eingenommen zu sein. Dann bekommen die Menschen all diese psychosomatischen Krankheiten – wenn sie sich ausschließlich um sich selbst Gedanken und Sorgen machen.

RS Wie können Eltern ihren Kindern nun die richtige Art der Selbstachtung mitgeben?

WD Durch hohe Erwartungen und indem man seinem Kind die Gewissheit vermittelt, dass es etwas besser machen kann. Zum Beispiel: „Wir wissen, dass Du lesen lernen kannst.“ „Wir wissen, dass Du aufhören kannst, Deine Schwester zu schlagen.“ „Wir wissen, dass Du Deinem Papa beim Rasenmähen helfen kannst.“ Ermutigen Sie Ihre Kinder. Wenn sie es dann tun, sagen Sie ihnen: „st das nicht toll? Du hast das Buch gelesen!“ „Du warst lieb zu Deiner Schwester!“ „Du hast den ganzen Garten gemäht!“ Dann findet das Kind sich gut wegen etwas, das es getan hat – und es verdient, sich gut zu finden.

RS Was ist Ihrer Erfahrung nach der häufigste Fehler, den Eltern bei der Kindererziehung machen?

WD Zu glauben, Kinder seien so zerbrechlich, dass sie mit Herausforderungen oder einer neuen Verantwortung nicht umgehen können. Das ist der größte Fehler, den Eltern machen, und mit ihm verwandt ist der Glaube, Kinder wollten oder bräuchten keine Führung, weil diese ihre Kreativität lähme. Auch das ist falsch. Kinder gedeihen mit Führung; sie hilft ihnen, selbstständige, kreative Menschen zu werden. Kinder mögen Herausforderungen. So entwickeln sie ihre Stärken.

RS Durchhaltevermögen und Beharrlichkeit angesichts von Herausforderungen sind sicherlich wichtige Charakterzüge. Welche anderen wichtigen Eigenschaften sollten Eltern ihren Kindern nach Möglichkeit mitgeben?

WD Die zentralen Grundwerte, die jede Kultur für ein zivilisiertes Leben braucht: vor allem Ehrlichkeit, Mitgefühl, persönliches Verantwortungsbewusstsein, Achtung vor anderen und Achtung vor der Autorität.

RS Es gab Zeiten, in denen Eltern allgemein glaubten, dass Moral durch die Bibel definiert sei, und ihren Kindern diese Moral vorgaben. Sehen Sie darin etwas Ungesundes?

WD Nein, ich sehe nichts Ungesundes darin. Ich finde, die Bibel ist eine sehr gute Quelle für Werte. Aber ich denke, dass es in unserer vielfältigen, pluralistischen, modernen Gesellschaft auch andere gute Quellen gibt. In der Geschichte allgemein und in der amerikanischen und englischen Literatur gibt es viele Geschichten, die gute Werte beispielhaft darstellen, und das sind Dinge, von denen Kinder lernen können.

RS Am Anfang des Interviews sagten sie, die Kindererziehung habe sich verbessert, seit sie Greater Expectations geschrieben haben. Glauben Sie, dass dieser Trend anhält?

WD Ich hoffe es. Ich neige zum Optimismus. Ich denke, so wie unser Land auf die entsetzliche Tragödie vom 11. September [2001] reagiert hat – dass die Menschen als Gemeinschaft zusammenrücken und junge Leute sich um die Leidenden kümmern –, das sind Dinge, die zeigen, dass wir das Potential haben, es wirklich zu schaffen. Es sieht aus, als hätten sich unsere Prioritäten ein wenig verschoben, und das ist der Silberstreifen hinter der schrecklichen Wolke.