Jerusalem - Mittelpunkt der Welt?
Teil 1
Jerusalem war die Geburtsstätte der christlichen Kirche: Jesus hatte seinen Jüngern geboten, in der Stadt zu warten, bis sie zu Pfingsten den heiligen Geist empfingen, etwa 50 Tage nachdem sie miterlebt hatten, wie ihr Meister verraten und getötet wurde.
Ihr Auftrag führte die zwölf Apostel später über Jerusalem hinaus, doch für die Urkirche war die Stadt immer ein Mittelpunkt. Dorthin kehrten sie zu einer entscheidenden Konferenz zurück, wie die Apostelgeschichte berichtet, und auch der Apostel Paulus kam mit in Kleinasien gesammelten Hilfsgütern für eine Hungersnot nach Jerusalem. Die Apostelgeschichte berichtet auch, dass es in Jerusalem war, wo Paulus festgenommen wurde und seine Reise nach Rom antrat, um an Cäsar Einspruch zu erheben.
Die Zerstörung der heiligen Stadt durch römische Truppen im Jahr 70 hatte jedoch eine grundlegende Umorientierung zur Folge. Die Gemeinde war vor der Zerstörung aus der Stadt geflohen und hatte sich in einem Ort namens Pella östlich vom Jordan niedergelassen. Nach dem Krieg wurde Jerusalem nie wieder, was es einmal gewesen war. Der Tempel, der Mittelpunkt der jüdischen Religion, war zerstört worden.
Zu jener Zeit hatten bereits die meisten der ursprünglichen Apostel den Märtyrertod erlitten; nur der Apostel Johannes lebte noch. Als Johannes nach der Zerstörung Jerusalems seinen Evangeliumsbericht niederschrieb, gab er die inzwischen prophetisch wirkenden Worte Jesu an die Frau beim Jakobsbrunnen in Sychar (der heutigen Stadt Nablus am Westufer des Jordan) wieder: Die wahre Anbetung Gottes, hatte Jesus gesagt, sei nicht auf ein Gebäude wie den Tempel zu beschränken. Die wahren Anbeter sollten „im Geist und in der Wahrheit anbeten“ (Johannes 4, 21-24).
Diese Umorientierung war in den Jahrzehnten seit dem Tod Christi zur Lehre und Praxis der Kirche geworden. Solange der Tempel stand, hatte er als Haus des Gebetes für alle Menschen gedient, nicht aber als heilige Stätte der Christen. Die Christen hatten keine heiligen Stätten – keine Kirchen, keine Tempel, keine Basiliken. Das Christentum musste vielmehr jeden Tag gelebt werden, wo auch immer man war. Der Leib und der Geist des Menschen sollten heiliger Raum sein. Der Mensch war nun der wahre Tempel Gottes (1. Korinther 3, 16).
Doch Jerusalem und der Tempel waren nicht völlig vergessen. Der Apostel Johannes sprach in der Apokalypse, die meist als das Buch Offenbarung bezeichnet wird, von einem neuen Jerusalem. Diese neue Stadt, schrieb er, sei bei Gott und werde in der Zukunft zur Erde kommen. Was Johannes über das neue Jerusalem schrieb, stützte sich auf Prophezeiungen Hesekiels, dass Jerusalem am Ende der Zeit vom Messias regiert werden würde.
HERABGESUNKEN UND GEKNECHTET
Selbst nach der Zerstörung durch die Römer blieb eine kleine jüdische Gemeinde in Jerusalem. Diese Juden warteten sehnsüchtig auf die Zeit, in der der Messias den Tempel wieder aufbauen würde. Sie warteten deshalb auf das Erscheinen des Messias. Und tatsächlich glaubten im 2. Jahrhundert einige, unter ihnen auch der führende Rabbi Akiva (ca. 60-135), dass er in Gestalt des Simon Bar Kochba erschienen sei, der in den Jahren 132-135 einen erbitterten Aufstand gegen die Römer anführte. Doch Kaiser Hadrian schlug den Aufstand nieder; die Juden wurden aus Jerusalem verbannt, und die jüdischen Rabbiner lehrten, ein Mensch könne nicht der Messias sein.
Jerusalem verkam zu einem Kaff. Selbst der Kirchenhistoriker Eusebius (264-339), der im rund 120 km entfernten Cäsarea Bischof war, zeigte in seinen frühen Schriften wenig Interesse an der Stadt.
Seine Sicht war wohl von Origenes geprägt, einem anderen Einwohner Cäsareas, der sich in den Jahren nach 230 dort niedergelassen und am Aufbau der Bibliothek mitgewirkt hatte, für die Cäsarea in der Antike weithin bekannt war (siehe unseren Sonderdruck „Origenes – christlicher Platoniker“). Origenes glaubte gemäß seiner Vorliebe für die allegorische Bibelauslegung, dass Jerusalem rein geistig sei. Keine prophetische Aussage über Jerusalem oder das Heilige Land sei als ein physischer Ort zu verstehen; es handle sich um eine geistige Stadt und Nation. Den Messianismus der Juden und einiger Christen, die glaubten, der Messias werde zu einem physischen Jerusalem zurückkommen, lehnte er ab. Im Großen und Ganzen zeigte sich die Christenheit wenig an der Stadt interessiert, und die Juden durften sie nicht einmal betreten, außer an einem Tag im Jahr – dem neunten Tag des hebräischen Monats Ab –, um der Zerstörung des Tempels zu gedenken.
Die Christenheit zeigte sich wenig an der Stadt interessiert, und die Juden durften sie nicht einmal betreten, außer an einem Tag im Jahr.
Eusebius seinerseits behauptete, der Name der Stadt sei im Römischen Reich fast in Vergessenheit geraten. Um diese Behauptung zu stützen, berichtete er von einem Magistrat in Cäsarea, der nicht wusste, wo Jerusalem lag. Es sollte allerdings nicht überraschen, dass ein Magistrat, der höchstwahrscheinlich Heide war, ein unbedeutendes Städtchen im Hinterland nicht kannte. Außerdem wurde es von den Römern Aelia Capitolina genannt, seit Hadrian im Jahr 130 den Wiederaufbau der Stadt befohlen hatte, der den Aufstand des Bar Kochba provoziert hatte.
DER NABEL DER WELT
Für Eusebius wie auch für Jerusalem kam der Umschwung mit dem römischen Kaiser Konstantin, der ein Anhänger des Apoll gewesen war, bevor er sich offenbar zum Christentum bekehrte. Der Mittelpunkt der heidnischen Welt, Delphi, war der Sitz Apolls und hatte bei den Griechen und Römern der Antike als Nabel (omphalos) der Welt gegolten.
Durch ein Orakel des Apoll wurde Konstantin mitgeteilt, die Christen behinderten die Fähigkeit des Orakels, die Zukunft vorauszusagen. Konstantin verstand dies so, dass das Christentum Delphi und sein berühmtes Orakel abgelöst hätte. Er beschloss, seine neue Religion, nun offizielle Staatsreligion, müsse einen neuen Mittelpunkt etablieren. Der religiöse Mittelpunkt würde Jerusalem sein, und Konstantinopel, auf das Konstantin alle Schätze Delphis übertrug, würde als Verwaltungszentrum an die Stelle Roms treten. Apolls Standbild von Delphi würde das Forum Konstantinopels zieren.
Unterdessen war Eusebius in einem Aufwallen neuen messianischen Eifers zu der Überzeugung gelangt, dass die Ankunft eines christlichen Kaisers das messianische Zeitalter ankündigte, und löste sich von seinen früheren, von den Argumenten des Origenes geprägten Ansichten. Nun verkündete er, Konstantins Beschluss bedeute die Errichtung des neuen Jerusalem, und er sah den kaiserlichen Befehl zum Bau der Grabeskirche in der Stadt als Bestätigung seiner Auffassung.
Dieses neue Jerusalem, der Mittelpunkt oder omphalos der Welt, sollte anders sein als alles, was Jerusalem je gewesen war. Konstantin stellte sich das Christentum als universelle Religion vor, die sowohl das Heidentum als auch das Judentum ablösen würde. Deshalb sollte die neue Basilika an der Stelle eines unter Hadrian erbauten heidnischen Tempels errichtet werden, die nun von ihrer Vergangenheit befreit werden sollte. Das gesamte Erdreich und alles, was sich dort in zwei Jahrhunderten angesammelt hatte, sollte abgetragen werden, und der freigelegte Fels sollte als Fundament des neuen Baus dienen. Der Kaiser erklärte, bei diesem Standort handele es sich um Golgatha, die Stätte der Kreuzigung Christi, weil seine Mutter Helena dies behauptete.
Konstantins Mutter und seine Schwiegermutter Eutropia machten Pilgerreisen nach Jerusalem. Helenas Reise unterschied sich von allen späteren Pilgerfahrten, denn im Grunde war sie nicht weniger als ein kaiserlicher Staatsbesuch, bei dem die Macht des Kaisers für alle sichtbar demonstriert wurde und Helena als Regentin ihren Sohn vertrat. Eine solche Rundreise war eine gute Gelegenheit für den Kaiser – oder in diesem Fall die Kaiserinmutter –, den Einwohnern des Reiches zu erklären, wie sie das Leben nach der Auffassung des Kaisers zu sehen hatten. Es war die Chance für einen Kaiser, sein Reich zu formen. Frühere kaiserliche Rundreisen hatten zum Bau öffentlicher Einrichtungen und heidnischer Tempel geführt. Helenas Reise hatte den gleichen Effekt, nur dass es ihr darum ging, Stätten für alle wichtigen Begebenheiten des Lebens Christi zu lokalisieren. Solche Stätten wurden Standorte für Kirchen und Heiligtümer, sodass sich Jerusalem zu einer Stadt der Kirchen entwickelte, unter denen die Grabeskirche an erster Stelle stand.
Die Verwendung einer heidnischen Stätte für eine Basilika war eine vollständige Abkehr vom Judentum und der Religion gemäß der hebräischen heiligen Schrift, deren Mittelpunkt weiterhin der Tempelberg war. Dies sah die aufkommende römische Kirche jedoch nun als das alte Jerusalem. Ähnlich wie das Konzil von Nizäa den Christen verboten hatte, das Datum für Ostern anhand des jährlichen Passafestes zu errechnen, und stattdessen eine neue Methode zur Errechnung von Feiertagen eingeführt hatte, war es Konstantins Ziel in Jerusalem, ein neues System wichtiger Stätten zu schaffen. Und so kann man sagen, dass die Kirche durch die Macht des Kaisers die Heiligkeit von Zeit und Raum im Reich unter ihre Kontrolle bekam.
Eine Folge dieser neuen Sicht Jerusalems war, dass das römische Christentum sich nun in einer Machtposition gegenüber den Juden fühlte; so blieb es den Juden weiterhin verboten, Jerusalem zu betreten. Dennoch hatte das Christentum seinen jüdischen Vorläufern etwas zu verdanken. Schließlich waren die ursprünglichen Mitglieder der Kirche selbst aus dem jüdischen Volk hervorgegangen.
Konstantins Ziel in Jerusalem war es, ein neues System wichtiger Stätten zu schaffen.
Konstantin fand, dass die neue Basilika auf Grundlage des vor rund 250 Jahren zuvor zerstörten Tempels gebaut werden sollte. Darüber hinaus erlaubte es die Lage des vorhandenen heidnischen Tempels, eine direkte Blicklinie vom Inneren der neuen Basilika über den Tempelberg bis zum Ölberg zu schaffen – dem Ort der Himmelfahrt Christi und seiner verheißenen Wiederkunft. (Hier ist anzumerken, dass die heutige Anlage der Grabeskirche nicht die des ersten Baus ist. Zahlreiche Erdbeben und Kriege führten zu erheblichen Auf- und Umbauten.) In dieser Weise, so dachte man, könnte die Grabes-kirche an die einstige Beziehung zwischen dem Allerheiligsten des Tempels und dem Ölberg anknüpfen: Der Hohepriester im Tempel konnte am Versöhnungstag vom Ölberg aus das Zeichen erhalten, dass der Sündenbock in der Wüste getötet und das Sühneopfer außerhalb der Stadt verbrannt worden war. In Konstantins Augen würde die Priesterschaft in diesem neuen Bau den Platz des Hohenpriesters im jüdischen Tempel einnehmen; sie würde nun die Priesterschaft Gottes sein.
ZU DEN WURZELN UND ZURÜCK
Eine Grundlage für die Auffassung, Jerusalem sei der Mittelpunkt oder Brennpunkt der Welt, gab es seit Jahrhunderten vor der Zeit Konstantins. Der Prophet Hesekiel hatte Israel (und damit Jerusalem) in Hesekiel 38, 12 als „Mitte der Erde“ bezeichnet [Menge übersetzt diese Stelle als „Nabel der Erde“], über die einmal der Messias herrschen werde. In der griechischen Übersetzung der hebräischen Schrift wurde hierfür das Wort omphalos (Nabel) verwendet. Der jüdische Geschichtsschreiber Flavius Josephus, der auf Griechisch schrieb, bezeichnete Jerusalem im 1. Jahrhundert mit demselben Wort (Kriege der Juden 3.3.5).
Darüber hinaus lehrte die jüdische Tradition, der Tempelberg sei der erste Teil der Schöpfung Gottes und auch die Stätte der Erschaffung Adams. Zu dieser Tradition kam die christliche Vorstellung, Adam sei auch in Golgatha begraben worden und liege also unter der Grabeskirche in der Erde. Als mehrere Jahrhunderte später die Muslime die Stadt für sich beanspruchten, entwickelten sie eine ähnliche Lehre vom Rang Jerusalems in der Schöpfungsordnung, um dessen Bedeutung für ihre eigene Religion zu begründen.
Zusammen mit den Staatsbesuchen von Helena und Eutropia ließ dieses erneuerte Interesse an Jerusalem die Praxis der Pilgerreisen nach Jerusalem, das inzwischen wieder mit seinem traditionellen Namen bezeichnet wurde, wieder aufleben. Es war ein neues Jerusalem und schien deshalb die Beachtung der Christenheit zu verdienen.
Doch nicht alles ging nach den Wünschen der christlichen Gemeinschaft. Später im 4. Jahrhundert kam ein neuer Kaiser auf den Thron. Er ging als Julian Apostata („der Abtrünnige“) in die Geschichte ein, weil er das Römische Reich wieder zu seinen heidnischen Wurzeln zurückführen wollte.
Julian Apostata erkannte, dass die Stadt ihm nützen konnte, um einen Aspekt seines eigenen Plans für sein Reich zu erfüllen.
Zu Jerusalem stand er natürlich ganz anders als Konstantin, doch er erkannte, dass es ihm nützen konnte, um einen Aspekt seines eigenen Plans für sein Reich zu erfüllen. Zwar hatte Julian kein großes Interesse an den Juden selbst, doch er begriff, dass im Mittelpunkt der jüdischen Religion ein Tempel stand, in dem Opfer darzubringen waren. Er wollte die heidnischen Opfer für den Kaiser wieder einführen, und er sah die Juden mit ihrem Tempel als nützliches Mittel zu diesem Zweck – was er freilich nicht öffentlich kundtat. So wurde den Juden zum Entsetzen der Christenheit erlaubt, die Stadt wieder zu betreten, in ihr zu leben und mit Unterstützung des Reiches den Tempel wieder aufzubauen, um wieder eine Opferpraxis einzuführen.
Allerdings lebte Julian nicht lang genug, um seinen Plan zum Erfolg zu führen. Später im selben Jahr (363) wurde er im Osten getötet. Zur Freude der christlichen Gemeinschaft bekannte sich sein Nachfolger Jovian zum Christentum; und zum Leidwesen der jüdischen Gemeinschaft wurde der Wiederaufbau des Tempels abgebrochen. Wieder wurde es den Juden verboten, die Stadt zu betreten, außer am 9. Ab. Dies bestärkte sie darin, dass nur der Messias, nicht Menschen – nicht einmal Kaiser – den Tempel wieder aufbauen könne.
Einstweilen war das christliche neue Jerusalem in Sicherheit und nahm seinen Platz als Mittelpunkt der Welt wieder ein.
WEITERE UMBRÜCHE
Als das 4. Jahrhundert zu Ende ging, war das Römische Reich geteilt; der Osten behielt Konstantinopel als Hauptstadt, und der Westen blickte wieder auf Rom. Beide erkannten den Papst als religiöses Oberhaupt an, doch die Meinungsverschiedenheiten mehrten sich.
Eine solche Kontroverse betraf Jerusalem. Der Sieg der Truppen Alarichs über Rom im Jahr 410 (der Augustinus zu seinem gefeierten Werk Die Stadt Gottes anregte) führte wieder zu einem Meinungsumschwung im Hinblick auf die Notwendigkeit eines irdischen neuen Jerusalem. Das Weströmische Reich mit dem einflussreichen Augustinus spielte die Bedeutung Jerusalems als irdischer Stadt herunter, während man die Stadt in Ostrom weiter verehrte. Die nachfolgenden Kaiser von Byzanz [Ostrom] sorgten deshalb dafür, dass Jerusalem eine durch und durch christliche Stadt in der byzantinischen Tradition wurde. Sakralbauten beherrschten die Stadt, Mönche und Kleriker wurden ihre größte Bevölkerungsgruppe.
Mit dem Aufkommen des Islam im 7. Jahrhundert geriet Jerusalem jedoch wieder in den Sog einer religiösen Bewegung, die die Welt veränderte. Entkräftet durch seine Kriege gegen die Perser, die Jerusalem geschleift und über 60 000 christliche Einwohner getötet hatten, ließ das verweichlichte Byzantinische Reich im Heiligen Land ein Vakuum entstehen, das der Islam rasch ausfüllte. Vorangetrieben von der Überlieferung, dass Mohammed Jerusalem bei Nacht besucht habe, belagerten die Truppen seines Nachfolgers Kalif Omar die Stadt in den Jahren 637/38 und eroberten sie schließlich.
Der Islam sah Jerusalem ganz anders als das Christentum. Wie dem Judentum war ihm der Tempelberg wichtig – die Stätte der von Salomo und Herodes erbauten Tempel –, wenn auch aus anderen Gründen (siehe Sonderdruck „Stadt der Religionen“ – Teil 2). Deshalb gab er dem „alten“ Jerusalem den Vorzug vor dem „neuen“. Die christliche Missachtung des Tempelbergs als jüdische heilige Stätte, die so weit ging, dass er als Mülldeponie genutzt wurde, war der Auslöser der ersten unter vielen Spannungen zwischen Christen und Muslimen in Jerusalem.
Der Islam sah Jerusalem ganz anders als das Christentum. Wie dem Judentum war ihm der Tempelberg wichtig.
Gegen Ende des 7. Jahrhunderts gab es bereits Pläne für den heutigen Felsendom, einen islamischen Bau, der mit der Schönheit der christlichen Bauten in Jerusalem wetteifern sollte. Der Fels, auf dem der Dom errichtet wurde, hatte bald den gleichen Rang wie das Grab, über dem die Grabeskirche steht. Da die Stadt von Muslimen beherrscht wurde, wurde dieses Heiligtum nun als Mittelpunkt der Welt angesehen.
Der Nabel (omphalos) war um nur etwa einen Kilometer verlagert worden – doch mit welterschütternden Folgen.
HEILIGER KRIEG, UNHEILIGER FRIEDE
Während der folgenden vier Jahrhunderte blieb die Beziehung zwischen den beiden religiösen Gruppen in Jerusalem spannungsreich. Ein Zankapfel war die Größe der Kuppeln von Sakralbauten. Christliche Bauten durften nicht größer und prunkvoller sein als die der Muslime. Einmal zerstörten die Muslime tatsächlich die gesamte Grabeskirche einschließlich des Felsvorsprungs und der Höhle, die als Golgatha und Grab Jesu galten.
Jerusalem spiegelte die Lage des Reiches als Ganzes wider, wo die Muslime sogar nach Anatolien, die heutige Türkei, vorgedrungen waren. Verzweifelt bat der Kaiser den Papst um Hilfe, um die muslimischen „Ungläubigen“ von Konstantinopel fern zu halten.
Rom reagierte – aber nicht wie der Kaiser gehofft hatte. Papst Urban ging es um Jerusalem, nicht um Konstantinopel, möglicherweise als ein Mittel, um die Kirche nach dem Schisma von 1054 wieder zu einen. Die Herrschaft der Muslime über Jerusalem und ihr Einfluss auf die heiligen Stätten des Christentums waren für Europa nicht mehr zu ignorieren. Der Papst rief den Adel Europas zum ersten von mehreren Kreuzzügen auf, um die heiligen Stätten zu befreien, obwohl diese in Wahrheit selten durch die Gegenwart der Muslime bedroht worden waren.
Die Kreuzzüge führten dazu, dass Jerusalem an die Europäer fiel und das muslimische Leben dort ausgemerzt wurde. Es folgten fast 100 Jahre europäischer Herrschaft über die Stadt. Doch statt auf die Grabeskirche und andere traditionelle heilige Stätten der Christen konzentrierten sich die Kreuzfahrer auf den Tempelberg und wandelten den Felsendom, den sie irrtümlicherweise für einen Überrest des Herodianischen Tempels hielten, in ein christliches Heiligtum um.
Doch schließlich bauten die Kreuzfahrer die Grabeskirche wieder auf, und die Stadt wurde von romanischer Architektur geprägt. Doch der religiöse Eifer der Europäer konnte die langen Kommunikationswege zwischen Jerusalem und Europa nicht ausgleichen – auch nicht die Macht und Energie des muslimischen Reichs. So wurden die Kreuzfahrer wieder aus ihrem neuen Jerusalem vertrieben. Die christlichen Gemeinschaften, die blieben, schickten sich darein, die lange Nacht der muslimischen Vorherrschaft zu ertragen.
Während der nächsten Jahrhunderte stand Jerusalem unter der Herrschaft des muslimischen Osmanischen Reiches, und Europa veränderte sich. Die Renaissance brachte ein völlig neues Weltbild, geprägt durch Rationalismus statt Spiritualität. Westeuropa verlor wieder das Interesse an Jerusalem als religiösem Zentrum. Für die Europäer wurde es zur Kuriosität – ein Ort voller Antiquitäten, mit denen sie Museen ausstatteten und ihr Interesse an der Naturgeschichte sowie dem aufstrebenden Fach Anthropologie befriedigten.
Doch das 19. Jahrhundert brachte Europa den Nahen und Mittleren Osten wieder ins Bewusstsein, diesmal aus geopolitischen Gründen. Und parallel zu diesem Interesse entwickelte sich ein erneutes religiöses Interesse an Jerusalem als Mittelpunkt der Welt. Näheres über dieses Interesse und seine Folgen für uns heute lesen Sie in der nächsten Ausgabe.