Das unvorhergesehene Endspiel
Teil 2 - Das unvorhergesehene Endspiel
Jerusalem - einst Nabel der Welt, dann unbedeutendes Kaff; einst religiöses und militärisches Aushängeschild, dann abseitige Kuriosität. Die Geschichte der Heiligen Stadt hat mehr Höhen und Tiefen als die Berge Judäas, zwischen denen sie liegt. In Teil 1 haben wir die Geschichte von der Entstehung des Christentums bis zur europäischen Renaissance betrachtet. Auf die eine oder andere Weise war die Stadt stets im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit. Und im Großen und Ganzen blieb sie auch am Beginn der Aufklärung und darüber hinaus eine Drehscheibe in den religiösen und politischen Manövern der Welt.
PILGER UND PURITANER
Mit dem Scheitern der Rückeroberung Jerusalems durch die Kreuzzüge im Mittelalter verloren die meisten Europäer die Stadt aus dem Blickfeld. Die Orthodoxen und Katholiken unterstützten jedoch weiterhin ihre dortigen Missionen, insbesondere jene, die im Zusammenhang mit der Grabeskirche standen. Einige Pilger konnten das Heilige Land besuchen und über ihre Erlebnisse berichten, doch generell verhinderten die geographische Distanz der europäischen Länder und ihre eigenen Probleme ein dauerhaftes Interesse an jener Region der Welt.
Selbst für den berühmtesten Reformator Europas hatte Jerusalem wenig Anziehendes. Martin Luther würdigte den Wert der Stadt als Pilgerstätte neben Rom und Santiago de Compostela in Spanien, wo man den Apostel Jakobus begraben glaubte. Doch er lehnte die populäre Vorstellung ab, mit Pilgerreisen könne man sich Absolution von Sünden verdienen. Anfang 1537 erwiderte er denen, die zu solchen Stätten reisen wollten, in seinen Tischgesprächen: „Nun aber können wir auf wahre Pilgerschaft im Glauben gehen, das ist, wenn wir eifrig die Psalmen, Propheten, Evangelien usw. lesen. Statt an heiligen Stätten umherzugehen, können wir bei unseren Gedanken verweilen, unser Herz prüfen und das wahre Gelobte Land und Paradies des ewigen Lebens besuchen.“
Offenbar sah Luther Jerusalem eher als die von Origenes und Augustinus beschriebene spiritualisierte Stadt, nicht wie Konstantin als eine Stadt, die anstrengende und aufwändige Pilgerreisen verlangte.
Doch trotz der geringen Begeisterung des Reformators verloren die Protestanten nicht völlig das Interesse an Jerusalem. Die puritanischen Väter hatten feste Vorstellungen von der Stadt und ihrem Platz in der Prophetie. Im Unterschied zu der allegorischen Auffassung der katholischen Kirchenväter, die ihnen vorausgegangen waren, nahmen sie die Dinge wörtlich. Und die Puritaner sahen Jerusalem nicht in erster Linie als den Ort des Todes und der Grablegung Jesu, sondern als den Ort seiner verheißenen Wiederkunft und Herrschaft.
Dieses prophetische Szenario sah auch für das im Exil lebende jüdische Volk eine Rolle im Heiligen Land vor. Als Lord Protector des republikanischen Commonwealth zwischen den Königen Charles I. und Charles II. genehmigte Oliver Cromwell die Rückkehr der Juden nach England (sie waren fast 400 Jahre verbannt gewesen). Doch damit war sein Interesse an ihnen nicht erschöpft. Wie auch andere Puritaner des 17. Jahrhunderts - unter ihnen der Dichter John Milton - glaubte Cromwell, dass es die Bestimmung der „verlorenen Stämme“ Israels sei, in ihr Gelobtes Land zurückzukehren.
Die gleiche Vorstellung gab es auf der anderen Seite des Atlantiks, wo Roger Williams, der Gründer der Kolonie Rhode Island, ebenfalls an die prophetische Notwendigkeit der Wiederherstellung Israels glaubte. Später offenbarte John Adams als zweiter Präsident der USA, auch er wünsche sich „die Juden wieder in Judäa, einem unabhängigen Staat“.
[Isaac] Newton schrieb einen Kommentar über das Buch Daniel des Alten Testaments; darin behandelte er auch Jerusalem und das Kommen des Antichristen.
Isaac Newton, der vor allem als Physiker bekannt ist, hinterließ einen Einblick in die eschatologische Stimmung seiner Zeit, indem er seine eigenen Vorstellungen über Prophetie in detaillierter schriftlicher Form festhielt. Newton schrieb einen Kommentar über das Buch Daniel des Alten Testaments; darin behandelte er auch Jerusalem und das Kommen des Antichristen, wie es im Buch der Offenbarung weiter umrissen ist. Seiner protestantischen Sichtweise entsprechend stellte er den Antichristen als das Papsttum dar.
Dies ist die Vorgeschichte einer Sicht von Jerusalem, die bis heute evangelikale und fundamentalistische Gruppen motiviert und die politische Haltung Großbritanniens wie auch der USA im Hinblick auf den Nahen Osten prägt. Die Rückkehr der Juden nach Israel war einfach ein Mittel, die Prophetie zu erfüllen, damit die Welt für die Wiederkunft Christi bereit würde. Von zentraler Bedeutung war der Tempelberg, zu dem Christus wiederkommen werde und von dem aus er über die Welt herrschen werde. Mit einer ähnlichen Perspektive wie Konstantins Synthese von Staat und Kirche begannen Politiker sich berufen zu fühlen, bei Gottes Werk mitzuwirken. Diese Haltung sollte in den darauf folgenden Jahren zunehmend an Bedeutung gewinnen.
ZURÜCK NACH JERUSALEM
Als das 18. Jahrhundert zu Ende ging, spekulierten zahlreiche Autoren in England, die Französische Revolution sei ein Zeichen für den bevorstehenden Zusammenbruch des Papsttums - die Erfüllung des Sturzes des Falschen Propheten, den die Offenbarung prophezeit. Bekanntlich geschah nichts dergleichen. Stattdessen machte der Untergang der französischen Monarchie es möglich, dass Napoleon Bonaparte an die Macht kam. Seine glücklosen Abenteuer in Ägypten und Palästina um die Jahrhundertwende schufen Bedingungen, die protestantischen Theologen und Klerikern gerade recht kamen. Die Prophetie schien sich mit den Politikern der Zeit zu verbünden, um eine neue Dynamik im Leben Jerusalems zu schaffen.
Zwanzig Jahre nach Napoleons Rückzug vom östlichen Mittelmeer entrangen die ägyptischen Mamelucken ihren osmanisch-türkischen Verwandten die Kontrolle über Palästina und Syrien. Um Unterstützung zu gewinnen, luden sie europäische Diplomaten und Missionare nach Damaskus und Jerusalem ein. Diplomatische und kirchliche Missionen wurden Hand in Hand eingerichtet. Die britische Regierung, die eine zentrale Rolle im Nahen Osten spielen sollte, richtete als erste eine diplomatische Vertretung in Jerusalem ein (1838). Der britische Premierminister Lord Palmerston befürwortete die Beteiligung seines Landes an Plänen für das Heilige Land. Im Jahr 1840 schrieb er einem seiner Botschafter über das Interesse der Juden in ganz Europa, nach Palästina zurückzukehren - mehrere Jahrzehnte vor den Bestrebungen Theodor Herzls und der zionistischen Bewegung.
Etwa zur gleichen Zeit bemühte sich das protestantische Preußen, gemeinsam mit Großbritannien ein religiöses Zentrum in Jerusalem zu errichten, um dem Einfluss der römisch-katholischen und der orthodoxen Kirche sowie der Kopten und Armenier entgegenzuwirken. Das englisch-preußische Bistum, das auf Betreiben des Kaisers und der britischen Regierung im Jahr 1841 gegründet wurde, konnte sich letztlich nicht halten, zeigt aber, welche Bedeutung man Jerusalem damals beimaß. Das Land des alten Israel wurde zunehmend aus prophetischer Perspektive gesehen, wie es seit den ersten beiden Jahrhunderten nach Christus nicht mehr der Fall gewesen war. Es wurde ein wichtiger Brennpunkt - nicht nur für Kirchen, sondern auch für Regierungen. Schließlich waren die Politiker Männer der Kirche, zumeist Protestanten, die auf die religiösen Interessen ihrer Wähler zu achten hatten.
So begierig waren die protestantischen Kirchen, sich in Jerusalem zu etablieren, dass dies tatsächlich auch die Katholiken und Orthodoxen dazu brachte, ihre Präsenz dort zu verstärken. Im Jahr 1845 wurde das griechisch-orthodoxe Patriarchat Jerusalem, dessen Sitz jahrhundertelang Konstantinopel gewesen war, in die Stadt zurückverlegt. Das lateinische Patriarchat, immer eine französische Domäne, wurde zwei Jahre später wiederhergestellt. Um nicht ins Hintertreffen zu geraten und um ihre Interessen wahrzunehmen, entsandte die russisch-orthodoxe Kirche alsbald einen residierenden Bischof nach Jerusalem.. Die meisten europäischen Mächte wie auch die USA richteten darüber hinaus Konsulate in der Stadt ein, und eine breite Vielfalt christlicher Gemeinschaften folgte mit Missionen und Instituten. Zu dieser Zeit vertrieben die Osmanen die Ägypter aus Palästina, doch obwohl die ägyptische Kontrolle über Jerusalem kurzlebig gewesen war, gelang es den zurückkehrenden Herrschern nicht, die offene Politik der Ägypter rückgängig zu machen und die Europäer zu entfernen.
DER TEMPEL IM BRENNPUNKT
In Großbritannien und den USA nahm das religiöse Interesse am Heiligen Land rasch zu. Es wurden mehr Missionen gegründet, um Juden zum Christentum zu bekehren - natürlich protestantische Missionen. Unterdessen fand der Zionismus (und mit ihm die Rückkehr der Juden in ihr Heimatland), der als rein politische Bewegung im späten 19. Jahrhundert in Europa begonnen hatte, Befürworter und bereitwillige Verbündete in den evangelikalen Flügeln protestantischer Kirchen überall in Großbritannien und den USA.
Protestantische Gruppen sahen nicht nur die Rückkehr der Juden, sondern auch die Wiederherstellung des Tempels als notwendige Voraussetzung für die Wiederkunft Christi.
Doch das Interesse an der Region hatte einen bestimmten Brennpunkt. Protestantische Gruppen sahen nicht nur die Rückkehr der Juden, sondern auch die Wiederherstellung des Tempels als notwendige Voraussetzung für die Wiederkunft Christi. Die einschlägigen Bücher aus dem 19. Jahrhundert bezeugen diese Ansicht. So konzentrierte sich die protestantische Christenheit ebenso wie ihre muslimischen und jüdischen Gegenspieler auf den so genannten Tempelberg oder al-Haram as-Sharif. Evangelikale Protestanten in Europa und den USA gingen ein Bündnis mit den Zionisten ein, das weit über das bloße Interesse an einem jüdischen Staat hinausging. Die Vision der Protestanten war ein Jerusalem als Weltzentrum, mit besonderem Augenmerk auf den Tempelberg.
So verstärkten messianische Erwartungen von Protestanten das Interesse der Juden an Jerusalem und ihrer Rückkehr nach Palästina. Obwohl die orthodoxe rabbinische Tradition seit dem 2. Jahrhundert lehrte, dass der Messias, nicht aber ein menschlicher Herrscher diese Rückkehr bewerkstelligen werde, mobilisierte Rabbi Zvi Hirsch Kalischer die religiöse Meinung mit seiner Lehre von der doppelten Rückkehr. Die erste, sagte er, betreffe eine kleine Gruppe von Pionieren, die das Land in Erwartung des Messias vorbereiten solle. So hatten die jüdischen und christlichen Interessen in der Region letztlich ein gemeinsames Ziel - das Kommen des Messias -, doch dies wurde sehr unterschiedlich ausgedrückt.
Typisch für das Maß des Interesses von außen war die Gründung des Palestine Exploration Fund durch den Erzbischof von York und andere im Juni 1865. Die Zielsetzung war angeblich nicht religiös, sondern wissenschaftlich - ein Versuch, das Heilige Land durch Archäologie, die Erforschung der Sitten und Gebräuche sowie Topographie, Geologie und Naturgeschichte zu verstehen. Die Gesellschaft beauftragte die Captains Charles Warren und Charles Wilson, das Land zu erforschen und zu kartographieren. Interessanterweise sollten sie unter anderem Jerusalem und vor allem dem Tempelberg besondere Aufmerksamkeit widmen. (Warrens Pläne, Zeichnungen und Fotografien der Region sind bis heute eine ausgezeichnete Sammlung von Informationen. Studien wie diese sind sehr nützlich, um den Lebenshintergrund der Bibel für Menschen zu erschließen, die zwei Jahrtausende von ihm entfernt sind und deren Leben so anders ist als das zur Zeit der Bibel.)
Ein weiteres Beispiel für das Interesse an Jerusalem und den Wunsch nach einem protestantischen Mittelpunkt war der Fund des Gartengrabes, in das Jesus gelegt worden sei. Im Jahr 1874 veröffentlichte Conrad Schick in Deutschland einen Artikel, in dem er das Grab beschrieb. Im darauf folgenden Jahr erschien er in englischer Sprache und wurde von den Protestanten mit größtem Interesse aufgenommen. Es waren noch keine zehn Jahre vergangen, da erklärte der britische General Charles Gordon dieses Grab zur offiziellen Stätte der Grablegung Jesu, und ein nahe gelegener Felsvorsprung wurde als die Kreuzigungsstätte Golgota identifiziert. Spätere archäologische Funde haben allerdings gezeigt, dass das Grab etwa 700 Jahre vor der Zeit Christi angelegt wurde und daher nicht das neue Grab sein konnte, das die Evangelien beschreiben (siehe unseren Artikel „Grundlose Behauptungen“).
ERFÜLLTE PROPHEZEIUNG?
Als zu Beginn des nächsten Jahrhunderts der Erste Weltkrieg ausbrach, entsandten die Briten General Edmund Allenby in den Nahen Osten. Ein anderer General zeigte ihm ein Buch aus den 1880er-Jahren mit dem Titel The Jew and the Passion for Israel. Es hatte in Großbritannien große Beachtung gefunden und war vor dem Krieg siebenmal (und danach noch mehrere Male) nachgedruckt worden. Sein Autor George Brooks sagte darin auf chronologischer Basis voraus, Jerusalem werde im Jahr 1917 von der türkischen Herrschaft befreit werden. Allenby war von dem Gedanken fasziniert und begann seine eigene Rolle im Nahen Osten in einem prophetischen Zusammenhang zu sehen.
In einer Serie strategischer Schachzüge rückten Allenbys Truppen ihrem Ziel näher: Jerusalem von der Herrschaft der Osmanen zu befreien. Selbst der Einsatz von Kampfflugzeugen in der Schlacht um Jerusalem wurde im Licht der biblischen Prophetie gedeutet, und dies, obwohl die Flugzeuge keinen wesentlichen Beitrag zu der Schlacht leisteten - außer vielleicht die Stadtbewohner zu verängstigen. Militärstrategisch gesehen war ihr Einsatz eine Katastrophe. Die Briten setzten zehn Flugzeuge ein, von denen fünf abstürzten und ihre Besatzung in den Tod rissen; all das, um eine Kuh zu töten und einen Mann auf dem Ölberg zu verwunden. Doch die Briten sahen es als Erfüllung einer Prophezeiung bei Jesaja: „Und der Herr Zebaoth wird Jerusalem beschirmen, wie Vögel es tun mit ihren Flügeln, er wird schützen, erretten, schonen und befreien“ (Jesaja 31, 5).
Trotz dieser unglücklichen Episoden wurden Allenbys Truppen am 9. Dezember 1917 die Schlüssel Jerusalems überreicht. Der General selbst betrat die Stadt zwei Tage später zu Fuß (aus Ehrfurcht vor Jerusalem). Als er für seine Verdienste um das Empire zum Peer erhoben wurde, nahm er den Titel „Viscount Allenby of Megiddo“ (Harmagedon) an. Harmagedon ist der Ort, den die Offenbarung als Sammelplatz für die Entscheidungsschlacht zwischen Christus und den vom Antichristen geführten Kräften dieser Welt bezeichnet. Der Titel, den Allenby wählte, ist ein weiteres Anzeichen dafür, dass er seine Rolle im Zusammenhang mit der biblischen Prophetie sah.
Interessanterweise hatte der britische Premierminister David Lloyd George der britischen Öffentlichkeit versprochen, Jerusalem werde bis Weihnachten 1917 von der türkischen Herrschaft befreit sein. War er von derselben Prophezeiung motiviert wie Allenby, oder war es reine Effekthascherei? Wahrscheinlicher ist das Erstere, denn Lloyd George war, wie andere in seinem Kabinett, zu einer tiefen Kenntnis der Bibel und der Prophetie erzogen worden. Ihrem Verständnis nach taten sie in Palästina und besonders in Jerusalem „das Werk des Herrn“.
RELIGIÖS MOTIVIERT
In der Balfour-Erklärung von 1917 bot die britische Regierung den Zionisten Unterstützung für „die Errichtung einer nationalen Heimstätte für das jüdische Volk in Palästina“ (siehe unseren Artikel „Stadt der Religionen Teil 1 – Die Jerusalem-Frage“). Über diese historische Erklärung schreibt der Historiker David Fromkin in A Peace to End All Peace: „Die biblische Prophetie war das erste und dauerhafteste unter den vielen Motiven der Briten, den Juden Zion zurückgeben zu wollen.“
„Die biblische Prophetie war das erste und dauerhafteste unter den vielen Motiven der Briten, den Juden Zion zurückgeben zu wollen.“
Das gleiche Gefühl war auf der anderen Seite des Atlantiks erkennbar, wo Präsident Woodrow Wilson - der Sohn eines presbyterianischen Klerikers - seine Freude darüber ausdrückte, den Juden bei ihrer Heimkehr und dem Wiederaufbau des alten Landes Israel helfen zu können.
Im Jahr 1947 schuf eine Resolution der Vereinten Nationen die Grundlage für einen jüdischen Staat in Palästina. In den darauf folgenden Kämpfen mit den Arabern brachten die Juden in Palästina Westjerusalem unter ihre Kontrolle, nicht aber die Altstadt und den Tempelberg, die bis zum Sechstagekrieg von 1967 von dem haschemitischen Königreich Jordanien kontrolliert wurden. Doch die Änderung der Besitzverhältnisse im Jahr 1967 tat der Auffassung von Jerusalem als Mittelpunkt der Welt keinen Abbruch. Für die Juden war der Brennpunkt - wie schon seit jeher - der Tempelberg, der auch dem Islam heilig ist. Und auch für die Evangelikalen stand er im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit. Das erneuerte protestantische Interesse an Jerusalem zeigte sich in der Entstehung von Gruppen wie „Jews for Jesus“. Auch das messianische Judentum - eine christliche Initiative unter den Juden, deren Name irreführend ist - entwickelte sich, insbesondere im angloamerikanischen Raum.
In jüdischen wie christlichen Gruppen gibt es ein kontinuierliches und wachsendes Interesse am Wiederaufbau eines Tempels als notwendiger Voraussetzung für das Kommen des Messias. Ein Beispiel hierfür ist die Siedlung Mitzpe Jericho, wo jüdische Aktivisten bereits Priester in einem Modell des noch zu bauenden Tempels ausbilden. Im Jahr 1997 versuchte eine Gruppe namens „Die Getreuen des Tempelberges“, einen Grundstein für den neuen Tempel auf dem Tempelberg zu legen. Ihre Aktionen wurden von der Regierung und den Gerichten Israels blockiert, denen die politischen Folgen eines solchen Unterfangens durchaus klar waren. Der betreffende Stein liegt nun ohne Aufschrift vor der Botschaft der USA in Jerusalem als schweigende Erinnerung an das gemeinsame Ziel einiger Bürger beider Länder. Jedes Jahr wird erneut versucht, den Grundstein auf dem Tempelberg zu legen, und jedes Jahr wird der Fall wieder mit dem gleichen Ergebnis gerichtlich verhandelt. Außerdem gibt es Bestrebungen, den genauen Standort des ursprünglichen Tempels zu lokalisieren, um festzustellen, ob er wieder aufgebaut werden könnte, ohne die muslimischen Heiligtümer des Haram zu schänden. Die Welt des Islam beobachtet dies alles mit Unbehagen, bereit, ihre Interessen zu verteidigen.
GOTT HELFEN, JERUSALEM ZU HELFEN
Was steckt hinter diesem allseitigen Eifer für Jerusalem?
Jerusalem ist insofern einzigartig, als „der größte Teil seiner Geschichte jüdisch war, doch . . . diese jüdische Geschichte wurde zu einer christlichen Geschichte, und die christliche und jüdische Geschichte wurde eine muslimische“, schreibt Oleg Grabar in Space and Holiness in Medieval Jerusalem.
Doch zu dieser Geschichte kommt eine offenbar angeborene Sehnsucht, Gott dabei zu helfen, seine Ziele zu erreichen. Ja, die Bibel spricht tatsächlich davon, dass Christus auf den Ölberg zurückkehrt und dass ein neuer Tempel in Jerusalem gebaut wird. Sie spricht auch von Jerusalem als dem Verwaltungszentrum der ganzen Welt (Jesaja 2, 1-4). Doch sie zeigt, dass dies nicht durch menschliches Eingreifen geschieht. Im Gegenteil, die Bibel sagt, dass die Menschen und ihre Regierungen gegen Gottes Willen für diese Region opponieren werden, statt ihn zu unterstützen (Sacharja 14, 2).
So wie die Gläubigen breiten auch Gelehrte ihre eigene geistige Landkarte über Jerusalem aus, formen und verändern es nach ihren Vorstellungen und Träumen.
In einer Buchbesprechung über Jerusalem: Its Sanctity and Centrality to Judaism, Christianity and Islam (1999, Hrsg. Lee Levine) kommt Ora Limor von der Open University of Israel zu dem Schluss: „So wie die Gläubigen breiten auch Gelehrte ihre eigene geistige Landkarte über Jerusalem aus, formen und verändern es nach ihren Vorstellungen und Träumen. Der stärkste Eindruck, den man von diesem Band erhält, ist: Jedem sein Jerusalem.“
Frau Limors Zusammenfassung legt eine gewisse Vorsicht nahe. Stehen die „Vorstellungen und Träume“ von Generationen von Menschen - ob Juden, Christen oder Muslimen - wirklich in Einklang mit Gottes Absicht für Jerusalem, oder sind sie durch ihre eigenen Fehldeutungen geprägt? Sind ihre Vorstellungen vernünftiger als die Kaiser Konstantins oder der Anhänger von Bar Kochba?
Der Gott, den Juden, Christen und Muslime zu verehren behaupten, warnt davor, sich in Jerusalem einzumischen: „Siehe, ich will Jerusalem zum Taumelbecher zurichten für alle Völker ringsumher, und auch Juda wird's gelten, wenn Jerusalem belagert wird. Zur selben Zeit will ich Jerusalem machen zum Laststein für alle Völker. Alle, die ihn wegheben wollen, sollen sich daran wund reißen; denn es werden sich alle Völker auf Erden gegen Jerusalem versammeln“ (Sacharja 12, 2-3).
Ist es möglich, dass Menschen zu versessen sind, Gottes Werk auf Erden so zu vollenden, wie sie es sehen, und dabei übersehen, dass Gottes Plan für Jerusalem ein ganz anderer ist? Die Geschichte der Stadt ist voller Schachfiguren - Königen, Läufern sowie einfachen Bauern -, die in einem Strategiespiel verstrickt waren: Wie manövriert man seine Figuren so, dass man seine eigenen Vorstellungen von Gottes Willen durchsetzt?
Die größere Herausforderung bleibt, Jerusalems zentrale Position aus der Sicht Gottes sehen zu lernen.