Mehr als Worte für den Schmerz
Die Neurowissenschaft und das Trauern
„Gib Worte deinem Schmerz. Gram, der nicht spricht,
Presst das beladne Herz, bis dass es bricht.“
In den letzten zehn Jahren hat die Hirnforschung große Fortschritte im Verständnis von Emotionen wie Kummer, Leid und Freude gemacht – jedenfalls was den mechanischen Aspekt betrifft. Mit Hilfe modernster Technik können Forscher heute sehen, was physisch im Gehirn vor sich geht, wenn wir bestimmte Gefühle haben, doch es bleibt noch vieles zu verstehen.
Jede Hilfe in der Trauerbewältigung ist für die Hinterbliebenen ein wichtiges Thema. Vielleicht können auch die neuesten Entdeckungen der Neurowissenschaft dazu beitragen, den Hinterbliebenen zu helfen, damit aus Trauer nicht zerstörerische Depression wird. Lassen Sie uns zunächst untersuchen, welche Wirkungen ein Trauerfall auf Menschen hat.
Wer schon einmal einen nahen Angehörigen oder Freund verloren hat, weiß, dass der Prozess des Trauerns mitunter sehr einsam machen kann. Selbst wenn auch andere die verstorbene Person geliebt haben: Jeder trauert um den Verlust der eigenen Beziehung zu dieser Person, und jede dieser Beziehungen ist einzigartig. In solchen Situationen hat man leicht das Gefühl, als gäbe es niemanden, der sich voll mit unseren Gefühlen identifiziert – gerade dann, wenn wir uns verzweifelt wünschen, dass jemand die emotionale Lücke ausfüllt, die der Verlust gerissen hat.
Leider wird oft übersehen, dass auch eine Scheidung beim verlassenen Partner oder den Kindern manchmal eine fast unüberwindlich erscheinende Trauer auslöst, die einem Verlust durch Tod nichts nachsteht.
Auf keinen Fall sollte man sich in Trauerfällen einfach zurückziehen und so tun, als ob alles einigermaßen in Ordnung wäre. Die besten und tiefsten Freundschaften helfen nicht, wenn wir uns den Freunden gegenüber nicht öffnen, sie nicht anrufen, um uns auszuweinen. Wir erwecken dann den falschen Eindruck, dass wir uns bemerkenswert gut erholen, obwohl wir uns eigentlich isoliert fühlen – besonders wenn wir der Typ sind, der die Lücke mit Arbeit oder sonstigen Aktivitäten füllt.
Die gesellschaftlichen Normen verstärken das Problem noch, besonders in unseren modernen westlichen Kulturen, wo alles machbar und beherrschbar sein muss. „Reiß-dich-zusammen-Philosophien“ sind in unserer Kultur tief verwurzelt. Ein offenes Trauern wird nicht selten als unzulässiges „Sich-gehen-Lassen“ und Zeichen von charakterlicher Schwäche gesehen, deshalb wird es bewusst oder unbewusst zurückgedrängt. Man will „die Sache in den Griff bekommen“ und den Schmerz mit sich selber ausmachen. Die Folge ist, dass man dann Freunde nicht anruft, obwohl man sie verzweifelt brauchen würde. Und absurderweise fühlt man sich gleichzeitig im Stich gelassen – obwohl man eigentlich die Einsamkeit zum Teil selbst verursacht hat, indem man nicht offen zeigen wollte, wie dringend man Hilfe gebraucht hätte.
Der deutsche Naturwissenschaftler und Journalist Stefan Klein gibt einen aufschlussreichen Kommentar zur Neurowissenschaft der Trauer und ihrer Beziehung zur individualistischen Kultur: „Erst recht das deutsche Gedankengut ist auf fatale Weise durchzogen von der Idee, Einsamkeit sei ein besonders erstrebenswerter und edler Geisteszustand . . . , dass Alleinsein Menschen ihrem innersten Wesen näher bringe“ (Die Glücksformel, 2002, S. 194f). Als Glücksformel ist andauernde Einsamkeit sicher kein hilfreiches Rezept, was nicht bedeutet, dass es im Leben nicht Situationen geben kann, in denen man zuerst mit sich selbst ins Reine kommen muss – auch in Bezug auf den Schmerz der Trauer.
Diese Vorstellung, „als einsamer Wolf“ Dinge bewältigen zu müssen, haben auch andere Kulturen. Die Briten sind für ihre „stiff upper lip“ (steife Oberlippe) bekannt, und Klein verweist auf das Klischee des amerikanischen Western: Cowboys verlassen die Frauen, die sie lieben, und reiten allein in den Sonnenuntergang. Die Botschaft ist: „Der Starke ist am mächtigsten allein.“ Doch „das genaue Gegenteil ist wahr, wie sowohl klinische als auch neurobiologische Untersuchungen zeigen“, schreibt Klein. „Mehr als alles andere bedeutet Einsamkeit Stress – eine andauernde Belastung für Körper und Geist. Unrast kommt auf, Denken und Fühlen sind durch die Wirkung der Stresshormone vernebelt, Abwehrkräfte herabgesetzt. Isolation macht traurig und krank“ (S. 195).
Damit wir hier das Gleichgewicht nicht verlieren: Es ist außer Zweifel, dass Menschen, die nie alleine sein können und nichts alleine bewältigen können, einen Mangel an Reife aufweisen. In einer hektischen Welt wie der unseren manchmal durch Rückzug in die Einsamkeit zur Besinnung zu kommen, ist heilsam, aber trotzdem ist anhaltende Einsamkeit an sich weder eine geistig noch körperlich gesunde Lebenssituation – besonders in Trauerfällen.
Schon am Beginn der biblischen Geschichte über den Menschen heißt es: „Es ist nicht gut, daß der Mensch allein sei …“ (1. Mose 2, 18). Der weise König Salomo zieht folgenden Schluss aus seiner Lebenserfahrung: „Zwei sind allemal besser dran als einer allein. Wenn zwei zusammenarbeiten, bringen sie es eher zu etwas. Wenn zwei unterwegs sind und hinfallen, dann helfen sie einander wieder auf die Beine. Aber wer allein geht und hinfällt, ist übel dran, weil niemand ihm helfen kann . . . Ein einzelner Mensch kann leicht überwältigt werden, aber zwei wehren den Überfall ab. Noch besser sind drei; es heißt ja: »Ein Seil aus drei Schnüren reißt nicht so schnell«“ (Prediger 4, 9-10. 12; Gute Nachricht Bibel).
Eine wissenschaftliche Studie nach der anderen bestätigen diese alten Weisheiten und zeigen, dass unterstützende Begleitung gut für Körper, Geist und Seele ist; sie verlängert das Leben und verbessert dessen Qualität. Negative Begleitung kann allerdings schlimmer sein als gar keine. Destruktive Beziehungen verstärken den Stress und hemmen die Heilung – auch was die Trauerbewältigung anbetrifft. Auf der physiologischen Ebene wurde dies durch mindestens eine amerikanische Studie belegt, die von einem Forscherehepaar durchgeführt wurde – der Psychologin Janice Kiecolt-Glaser und dem Immunologen Ronald Glaser. Sie stellten fest, dass die Heilungsrate bei Menschen in konfliktreichen Beziehungen nur 60% der Rate von Menschen in konfliktarmen Beziehungen entsprach. Gleichzeitig stellten sie fest, dass der Körper nach einem zwischenmenschlichen Konflikt ein Eiweiß freisetzt, das bei Autoimmunerkrankungen wie Rheumatische Arthritis und Morbus Crohn entzündliche Reaktionen auslöst. „Darüber hinaus“, berichten die Glasers, „kann die entzündliche Aktivierung die Entwicklung depressiver Symptome fördern.“
Solche Befunde sollten uns nicht überraschen. Schon der gesunde Menschenverstand dürfte nahelegen, dass wir bei denen Trost suchen sollten, mit denen wir uns am wohlsten fühlen. Klein bemerkt: „Die bloße Berührung eines Vertrauten kann Traurigkeit lindern. Bewirkt wird dies . . . durch Botenstoffe wie Oxytocin und die Opioide, die in Momenten der Zärtlichkeit ausgeschüttet werden.“
Wenn wir trauern, verstehen wir dies alles vielleicht verstandesmäßig, aber wie soll man jemanden direkt darum zu bitten? Manchmal können die Menschen um uns herum schwer erkennen, was wir brauchen. Viele scheuen den Kontakt mit Trauernden, weil sie nicht wissen, was sie sagen sollen – leider sind die einfachen Rezepte wie bloße Anwesenheit und ein Streicheln der Hände, eine Umarmung alles, was notwendig ist. In der Unbeholfenheit im Umgang mit Trauernden passiert es leider auch, dass Freunde oder Verwandte meinen, uns mit allen Mitteln aus der Niedergeschlagenheit herausziehen zu müssen, uns aufzuheitern. Sie wollen uns damit helfen, die Trauer zu verdrängen; oder sie fürchten, ihr Mittrauern und Mitgefühl könnte uns ermutigen, in Selbstmitleid zu zerfließen. Trauer wird leider von vielen als negative und unproduktive Emotion angesehen.
In östlichen Kulturen ist es immer noch verbreitet, bei Leid und Trauer „die Kleider zu zerreißen“ oder „Asche auf das Haupt zu streuen“ und „laut zu klagen“ – der Trauer direkten Ausdruck zu verleihen. Wenn man nicht in solchen Kulturen aufgewachsen ist, sind solche Verhaltensweisen allerdings nicht „nachspielbar“. Trotzdem können wir lernen, offen zu trauern, ohne in eine Dauerdepression zu verfallen. Es fängt damit an, sich seiner Trauer nicht zu schämen – zu dem zu stehen, was man fühlt. Weshalb sollte man den Verlust einer lieben Person nicht beweinen? Müssen wir wirklich beweisen, und wem, dass uns „nichts zu Herzen geht“? Ein versteinertes Herz zu haben ist keinesfalls ein erstrebenswerter Zustand, es bedeutet, lebendig tot zu sein.
Trauern ist notwendig, aber es kommt auf die richtige Dosis an. Stefan Klein macht eine interessante Bemerkung über den Wert dunkler Stimmungen wie Trauer: „So unangenehm es auch sein mag, so nützlich kann dieses Programm des Gehirns sein. Der Organismus antwortet mit Trauer, wenn wir etwas oder jemanden verloren haben oder wenn wir ein erhofftes Ziel nicht erreichen. Dieses Gefühl dient als Signal, es mit einem vielleicht sinnlosen Vorhaben nicht weiter zu versuchen. Niedergeschlagenheit ist ein Energiesparprogramm der Natur. Wenn das Gefühl für die eigenen Kräfte nachlässt, ziehen wir uns zurück, denken nach, überprüfen uns selbst – und gehen aus einer solchen Zeit oft mit größerer Klarheit und Stärke hervor“ (S. 203).
Klein fügt einschränkend hinzu, dass tiefe Traurigkeit über einen längeren Zeitraum in eine ernstere Depression führen kann. Doch es gibt keine konkreten Zeitpläne für Trauer. Was ist ein längerer Zeitraum? Viele Menschen, die nicht von einem Todesfall betroffen waren, unterschätzen die Zeit, die für eine Erholung nötig ist. Professionelle Berater geben für die Zeit, bis Hinterbliebene die Phase des Akzeptierens erreichen, Schätzungen von mehreren Monaten bis zu drei Jahren an. Wenn nicht andere, konkrete Anzeichen auf eine ernste Depression hindeuten, sei es kontraproduktiv, den natürlichen und sehr individuellen Trauerprozess abkürzen oder unterdrücken zu wollen.
Bedeutet das, dass wir uns nicht bemühen sollten, andauernde negative Stimmungen durch positive zu ersetzen oder zumindest immer wieder Aufhellungen zuzulassen? Weit gefehlt.
Die Bibel, das älteste Weisheitsbuch der Menschheit, lehrt in dieser Hinsicht: „Weinen hat seine Zeit, lachen hat seine Zeit; klagen hat seine Zeit, tanzen hat seine Zeit …, verlieren hat seine Zeit …“ (Prediger 3, 4. 6). Allerdings ist das alles eingebunden in eine grundsätzlich positive Lebenshaltung: „Ist’s nun nicht besser für den Menschen, dass er esse und trinke und seine Seele guter Dinge sei bei seinem Mühen? Doch dies sah ich auch, dass es von Gottes Hand kommt. Denn wer kann fröhlich essen und genießen ohne ihn?“ (Prediger 2, 24).
Gerade beim Verlust von lieben Menschen ist eine über das Jetzt und Heute hinausreichende Weltsicht von großer Bedeutung. Für gläubige Christen ist die Botschaft von der Auferstehung ein Trost, auch wenn dieser Glaube den Schmerz des Verlustes nicht sofort stillt. Eine Traurigkeit ohne jegliche Hoffnung führt zur schlimmsten Form von Depression, deshalb ist die Gewissheit und Hoffnung auf Besserung des Zustands von großer Wichtigkeit. Manchmal muss man sich „an der Hoffnung festhalten“.
Auch die neurobiologischen Wissenschaften kommen übereinstimmend zu dem Schluss, dass wir die Möglichkeit haben, das Positive in unserem Gehirn zu verstärken und tatsächliche neurologische Veränderungen zu bewirken, damit aus Trauer keine lähmende Depression wird. Es ist jedoch ein Fehler, wenn wir versuchen, andere zur Unterdrückung ihrer Trauer zu bewegen oder uns zu distanzieren. Die Forschung zeigt, dass nicht das Herunterspielen, sondern die Anerkennung der Trauer den Hinterbliebenen hilft, ihren Verlust auf gesunde Weise zu bewältigen. Das entspricht dem biblischen Prinzip:
„Freut euch mit den Fröhlichen und weint mit den Weinenden“ (Römer 12, 15). Das bedeutet: Das Leben miteinander teilen – auch die Trauer.
In der Einführung ihrer „Caregiver Grief Study“ von 2002 schreiben Thomas Meuser, Associate Professor für Neurologie an der Washington University, und Samuel J. Marwit, Professor für Psychologie an der University of Missouri: „Trauer ist unser angeborener Anpassungsprozess an Verluste und kann, wenn sie ignoriert oder heruntergespielt wird, zu Komplikationen wie Depression und sonstigen Komorbiditäten führen.“ Dichter, die ja für ihre Depressionen und damit zusammenhängenden Leiden bekannt sind, sagen uns dies seit Jahrhunderten. William Cowper war überzeugt: „Trauer ist selbst Arznei“, und in Viel Lärm um nichts schrieb Shakespeare ironisch:
„. . . Stets war’s der Brauch, Geduld zu rühmen
Dem Armen, den die Last des Kummers beugt;
Doch keines Menschen Kraft noch Willensstärke
Genügte solcher Weisheit, wenn er selbst
Das gleiche duldete.“
„Jede Beschäftigung hilft gegen Trübsal. Man nimmt die Zügel des Lebens wieder in die Hand. Wenn man etwas tut, ist das Gehirn gefordert und hat weniger Gelegenheit, dunklen Gedanken nachzuhängen.“
In extremen Trauersituationen müssen wir uns immer wieder bewusst machen, dass es kein gesunder Weg ist, den Kummer zu einer tiefen Depression eskalieren zu lassen. Die Stresshormone können kurzfristig von Nutzen sein, uns langfristig aber schaden und schließlich die Verschaltungen im Gehirn in Mitleidenschaft ziehen. „Das Gehirn verliert dabei seine Wandlungsfähigkeit“, schreibt Klein. Schlimmer noch: „Wenn dieser Zustand längere Zeit andauert, sind die Folgen mitunter verheerend: Graue Zellen schrumpfen. . . . Auch andere Teile des Gehirns verlieren so sehr an Substanz, dass ganze Hirnregionen regelrecht zusammenschrumpfen können“ (S. 210f.).
Der wissenschaftliche Hintergrund dieser Aussage betrifft den Prozess der Neurogenese. Im Lauf der letzten zehn Jahre haben Neurowissenschaftler entdeckt, dass das erwachsene Gehirn in manchen Arealen fortlaufend neue Neuronen bilden kann. Eines der wichtigsten Hirnareale ist der Hippocampus; er ist entscheidend für Lernen und Gedächtnis, aber auch mit Gefühlen und Stimmungen verbunden. Die Forschung hat festgestellt, dass offenbar bestimmte Aktivitäten die Neurogenese im Hippocampus fördern, langfristige Niedergeschlagenheit sie jedoch hemmt. Wenn aus Trauer Depression wird, kommt die Neurogenese zum Stillstand, und bei wiederholten depressiven Episoden kommt es tatsächlich zur Schrumpfung bestimmter Hirnareale. Die Verbindung zwischen Depression und Neurogenese erfordert noch viel Forschungsarbeit, doch dass Depression kein guter Gemütszustand ist, ist mehr als offensichtlich.
Was können wir nun tun, um uns auch in Zeiten der Trauer unsere geistige Gesundheit zu bewahren? Da Neurogenese und Depression unvereinbar sind, rät uns die Vernunft zu Aktivitäten, die bekanntermaßen die Neurogenese fördern. Forschern zufolge bedeutet dies Training in drei Bereichen: Körper, Kopf und Herz.
DER KÖRPER
Wer sich regelmäßig körperlich betätigt, kennt das Gefühl des Wohlbefindens, das von körperlicher Aktivität kommt. So ist die wiederholte Feststellung, dass Bewegung die Neurogenese in dem wichtigen Hirnareal Hippocampus fördert, nicht überraschend. Eine Studie des Salk Institute in Kalifornien kam zu dem Schluss, dass nicht nur „Bewegung die hippocampische Neurogenese fördert und die Lernfähigkeit verbessert“, sondern dass diese Nutzeffekte außerdem für Jung und Alt gleichermaßen erreichbar sind, da „die Reifung neugeborener Neuronen vom Alterungsprozess nicht beeinträchtigt wird“.
„Trauer ist selbst Arznei, und gegeben, die Kraft zu mehren, die die Bürde trägt. . . .“
Der Verhaltensbiologe Paul Martin fügt ermutigend hinzu: „Messungen haben bestätigt, dass schon zehn Minuten rasches Gehen helfen können, die Stimmung zu heben und die Düsternis für ein paar Stunden zu vertreiben. Anstrengenderer und regelmäßiger Sport bewirkt größere und dauerhaftere Verbesserungen der Stimmung und Vitalität. . . . Es ist gut belegt, dass Sport Angst lindert und zur Stressbewältigung beiträgt. Er bringt sogar in manchen Fällen leichter Depression Linderung“ (Making Happy People, 2006).
Eine neue Studie der University of Texas in Austin bestätigt dies. Für klinisch depressive Patienten waren schon 30 Minuten Sport ausreichend, um Messwerte im Zusammenhang mit „Kraft“ und „Wohlbefinden“ zumindest kurzfristig zu erhöhen. John Bartholomew, der an der Studie mitgewirkt hat, hält dies für bedeutsam angesichts der Tatsache, dass Depressive oft versuchen, sich mit Alkohol oder anderen fragwürdigen Methoden selbst zu therapieren. „Sport in geringer bis gemäßigter Intensität scheint eine alternative Methode der Stressbewältigung zu sein“, meint er. Zwar unterstützt mäßig genossener Wein die Gesundheit und „erfreut des Menschen Herz“, wie es in der Bibel heißt, doch Alkohol ist ein Beruhigungsmittel, das, im Übermaß genossen, die besten Absichten zu einer angemessenen Trauerbewältigung sabotieren kann. Zum Glück ist die Wahrscheinlichkeit, dass jemand Sport im Übermaß betreibt, weit geringer; und körperliche Aktivität ist eines der einfachsten und wirksamsten Dinge, die wir tun können, um unsere Traurigkeit zu lindern.
DER KOPF
Noch ehe die Neurowissenschaft begann, die Vorgänge im Inneren des Gehirns offenzulegen, zeigten Studien, dass Menschen, die das Lernen um seiner selbst willen lieben, generell glücklicher sind als andere. Die Nutzeffekte des Lernens werden immer wieder durch neue Ergebnisse bestätigt. Laut Martin zeigt die Forschung, „dass Menschen mit höherer Bildung tendenziell weniger unangenehme Emotionen wie Angst, Zorn und Niedergeschlagenheit und weniger körperliche Symptome wie Schmerzen erleben“. Denn „das Wissen und die Fähigkeiten zur Problemlösung, die Bildung vermittelt, können uns von irrationalen Sorgen befreien, die uns sonst der Angst ausliefern würden“.
Wissenschaftlich gesprochen, setzt das Lernen den Prozess der Neurogenese dort fort, wo die Wirkung der Bewegung aufhört. Nach der Geburt werden neue Hirnzellen entweder integriert oder sie sterben ab, doch die Rutgers-Psychologieprofessorin Tracey J. Shors erklärt: „Die Bildung neuer Erinnerungen erhöht offenbar direkt die Wahrscheinlichkeit, dass neue Neuronen im Gehirn verbleiben, selbst nachdem die Erfahrung vorüber ist. Diese Befunde passen in etwa zu dem Motto »Wer rastet, der rostet«.“ Geistige Aktivität ist also offenbar ebenso wichtig für die Neurogenese wie körperliche.
DAS HERZ
Es gibt einen dritten Faktor, der zu dem doppelten Ziel beiträgt, die Neurogenese zu fördern und die Entwicklung der Trauer zur Depression zu verhindern. Er bringt uns direkt zurück zu unserem Anfang: der richtigen Art von Begleitung.
Alexis Stranahan, David Khalil und Elizabeth Gould von der Princeton University schreiben: „Bei fehlender sozialer Interaktion kann eine normalerweise positive Erfahrung einen potenziell schädlichen Einfluss auf das Gehirn ausüben.“ In einer ihrer Studien stellten sie fest, dass sogar Sport die Neurogenese nicht fördern konnte, wenn die untersuchten Personen isoliert lebten. Mit anderen Worten: Für die Neurogenese ist neben Bewegung auch soziale Interaktion erforderlich, der Kontakt mit Menschen.
Dies bestätigt nur, was die Menschheit schon instinktiv weiß: Der Mensch ist ein soziales Wesen. Klein zufolge ergänzt die Naturwissenschaft unser angeborenes Gefühl hierfür, da sie den nachprüfbaren Beweis liefert, dass „ein gut funktionierendes Gemeinschaftsgefüge die seelische und körperliche Verfassung von Menschen so stark beeinflusst, dass sogar ihre Gesundheit davon profitiert. . . . Wer gut sozial verankert ist, lebt besser und länger“ (S. 268).
Ja, es ist nicht gut, wenn ein Mensch alleine ist, und im Verband von Freunden lässt sich vieles leichter ertragen. Um Freunde zu gewinnen, muss man allerdings auch selbst menschenfreundlich sein, sich den Menschen zuwenden. Wer sich nie um andere kümmert, darf nicht überrascht sein, wenn er dann auch im Leid und in der Trauer alleine ist.
Der Neurowissenschaftler James Coan von der University of Virginia hat festgestellt, dass Menschen mehr brauchen als nur soziale Wurzeln, dass oberflächliche, distanzierte Beziehungen nicht ausreichen. Ein besonders auffälliger Vorteil einer engen Beziehung ist das gegenseitige Sich-Berühren, Anfassen, In-den-Arm-Nehmen, Auf-die-Schulter-Klopfen. Coan berichtet von „der ersten Erforschung der neurologischen Reaktionen auf menschliche Berührungen in Gefahrensituationen und der ersten Studie, in der gemessen wurde, wie das Gehirn die gesundheitsfördernden Eigenschaften enger sozialer Beziehungen ermöglicht“. Seine Methode? Er setzte verheiratete Frauen durch elektrische Schläge unter Stress und stellte ihre Reaktionen mit Hilfe der Kernspintomographie (MRI) bildlich dar. Nacheinander ertrugen sie den Schlag allein, während sie die Hand eines Fremden hielten und während sie die Hand ihres Ehemannes hielten. Wie erwartet, zeigte die MRI, dass die Frauen mit der geringsten Angst reagierten, wenn sie die Hand ihres Mannes hielten, und mit der größten Angst, wenn gar keine menschliche Berührung da war.
Obwohl dies eine Selbstverständlichkeit zu sein scheint, ist es doch von Bedeutung, denn ein hohes Maß an Stresshormonen korreliert stark mit klinischer Depression. Könnten körperliche Berührungen für Menschen in der Trauerarbeit biologisch notwendig sein? Wenn ja, ist dies ein Aspekt des Erholungsprozesses, den Hinterbliebene nicht allein bewältigen können.
Es ist ein Ausdruck liebender Zuwendung, jemanden bei der Hand zu nehmen, dem Trauernden oder Leidenden die Hand zu streicheln. Liebende gehen oft „Hand in Hand“. Unsere westliche Kultur ist leider immer noch voll von „Berührungsängsten“ und ungesunder Distanz, trotz einer oberflächlichen „Küsschengesellschaft“.
Dem Schmerz Worte geben? Man mag Shakespeare nicht widersprechen, aber Fachleuten zufolge müssen manche Menschen einfach nicht über ihren Kummer sprechen. Das bedeutet allerdings nicht, dass sie im Zusammenhang mit ihrem Kummer keine anderen Bedürfnisse hätten. Vielleicht müssen wir einfach unsere Handys und E-Mails beiseite- lassen und stattdessen jemanden auf die altmodische Art „an die Hand nehmen“. Denn wenn es ein Motto gibt, das für Hinterbliebene ebenso passt wie für ihre Helfer, dann dieses: „Taten statt Worte“.