Menschen – wer braucht sie?
Es ist einfach, sich selbst und andere als entweder introvertiert oder extravertiert zu kategorisieren. Wie bei den meisten Verallgemeinerungen kennt die Realität allerdings wesentlich mehr Nuancen. Ein tieferes Verständnis dieser Begriffe kann helfen, Beziehungen zu ermöglichen, die mehr bedeuten.
Halten Sie sich für introvertiert? Vielleicht haben Sie sogar irgendwann einmal ein Onlinequiz oder einen Selbsttest gemacht, um Ihren Verdacht zu bestätigen. Wenn ja, sind Sie (ironischerweise) nicht allein. Laut Myers-Briggs Company „bevorzugen“ etwa 57 % der Weltbevölkerung Introvertiertheit. Es gibt sogar einen Welttag der Introvertierten, um diesen Persönlichkeitstyp zu feiern – natürlich in aller Stille.
Diese Statistik hat nur einen Fehler: Befragungen und Tests, auf denen sie beruht, stellen Entweder-oder-Fragen, die Ambiversion – die Eigenschaft, die den meisten von uns in Wirklichkeit am besten entspricht – nicht erfassen können. Stattdessen erzwingen diese Tests Antworten, die unweigerlich zu der irreführenden Kategorisierung als entweder extravertiert oder introvertiert führen.
Das mag auf den ersten Blick harmlos erscheinen, doch was geschieht, wenn man diese Merkmale für feste Persönlichkeitszüge hält? Wenn man sie als einen grundlegenden Aspekt unseres Wesens betrachtet, der nicht verändert werden kann – was macht das mit dem sozialen Gefüge ganzer Gemeinwesen?
Um zu veranschaulichen, wie verzerrt die Statistik ist, erklären die Psychologen Curt und Anne Bartol, dass nur eine relativ geringe Zahl von Menschen tatsächlich auf irgendeine Weise messbar introvertiert sei: „Gewöhnlich haben zwei von drei Personen ,durchschnittliche‘ Werte bei der Skala der Extravertiertheit“, schreiben sie. Damit sind die meisten nicht einmal qualifiziert, an einer Studie über Extraversion und Introversion teilzunehmen. Tatsächlich, so die Bartols, „sind etwa 16 % der Bevölkerung extravertiert, nochmals 16 % introvertiert, und der Rest (68 %) ist ambivertiert.“ (Criminal Behavior: A Psychosocial Approach)<
Mit anderen Worten: Studien, die Introvertierte und Extravertierte vergleichen, untersuchen Menschen an den Extremen – eine Minderheit der Bevölkerung. Es mag reizvoll sein, sich Extraversion und Introversion als zwei Seiten einer Medaille vorzustellen – dass jede und jeder von uns entweder das eine oder das andere ist –, aber das ist schlicht nicht der Fall. Man sollte sich die Typologie besser als Spektrum mit einem großen (und generell vorzuziehenden) Mittelfeld vorstellen.
Woher kommt diese populärpsychologische Vorstellung von Introversion und Extraversion? Der Gedanke stammt ursprünglich von dem Psychiater C. G. Jung, doch mit diesen Begriffen meinte er die Richtung, in die die „psychische Energie“ eines Menschen ströme: Introvertierte befassten sich lieber mit Gefühlen, Träumen und Fantasien in ihrem Inneren, Extravertierte mit konkreten Realitäten der Außenwelt – nicht nur anderen Menschen, sondern Dingen. Selbst Jung erkannte allerdings eine dritte, größere Gruppe an, die in keine der beiden Kategorien passte. Dies wurde weitgehend übersehen, als seine Gedanken mit gewissen Verzerrungen Allgemeingut wurden.
Das daraus entstandene stereotype Denken in Schwarz oder Weiß zeigt sich in zahllosen Varianten. Wir sind z. B. von der Vorstellung beeinflusst, Introvertierte seien zwar großartige Bibliothekare und Buchhalter, aber um im Verkauf Erfolg zu haben, müsse man extravertiert sein.
„Introvertierte sind ,auf Einblick gepolt‘, Extravertierte dagegen sind ,auf Reaktion gepolt‘. Was auch immer an den Mann gebracht werden soll – ob es um herkömmliches Verkaufen geht oder Verkaufen in einem anderen Sinn – es erfordert ein empfindliches Gleichgewicht von Einblick und Reaktion. Ambivertierte können dieses Gleichgewicht finden.“
Menschen messen
Katharine Cook Briggs und ihre Tochter Isabel Briggs Myers lasen über Jungs Typologie, und daraufhin entwickelten sie den Myers-Briggs-Typindikator (MBTI). Katharine liebte es, Biografien zu lesen, und begann, sich für die Persönlichkeitsunterschiede zu interessieren, die sie zwischen diesen Menschen erkannte. Als sie in den 1920er-Jahren Jungs Buch Psychologische Typen entdeckte, war sie fasziniert und machte auch ihre Tochter darauf aufmerksam. Die beiden Frauen (die übrigens keine Psychologinnen waren) entwickelten schließlich einen Persönlichkeitstest, der lose an Jungs Prinzipien anknüpfte. Die erste Version des MBTI kam 1943 heraus, und über die folgenden Jahrzehnte arbeitete Isabel daran, die Testfragen zu verfeinern, damit sie genauer zu Jungs Persönlichkeitstypen passten.
Der MBTI wird erfolgreich breit vermarktet und ist heute einer der populärsten Persönlichkeitstests in der Arbeitswelt, aber professionelle Kliniker verwenden ihn selten. Das liegt zum Teil daran, dass er aus unfachmännischen Deutungen der jungschen Typologie entstanden ist, aber auch daran, dass Jungs Theorien allmählich hinter der breiteren Auffassung zurückgetreten sind, dass Persönlichkeit fließender ist, als man einst dachte.
Psychologen verwenden deshalb eher Tests wie das Minnesota Multiphasic Personality Inventory (MMPI), die Facetten der Persönlichkeit in Kontinuen messen. Bei der Frage, wie extravertiert wir sein könnten, lässt ein Kontinuum Raum für die Tatsache, dass die meisten Menschen (in unterschiedlichem Maße) manchmal unter Menschen und manchmal allein sein wollen; manchmal beleben uns soziale Kontakte und manchmal unsere Projekte, an denen wir als Einzelperson arbeiten. Anders als der Myers-Briggs-Test sind Tests wie der MMPI „validiert“, was einfach bedeutet, dass durch Forschungsergebnisse bestätigt wurde, dass sie tatsächlich korrekt messen, was sie messen sollen.
Wenn wir soziale Beziehungen also wirklich verstehen wollen, ist es an der Zeit, nicht länger uns selbst und andere mit falsch verstandenen und falsch verwendeten Begriffen zu kategorisieren, sondern auf das Bedürfnis nach Anschluss zu schauen, das wir alle haben und das weithin anerkannt ist.
Soziales Lebewesen, Einzelgänger – oder etwas anderes?
Der Mensch ist ein soziales Lebewesen. Das ist ein angeborener Wesenszug, tief im Gehirn verwurzelt in zwei kleinen, mandelförmigen Strukturen namens Mandelkern oder Amygdala. Wenn sie geschädigt sind, erkennen Menschen ihre einstigen emotionalen Bindungen zu Angehörigen und Freunden nicht mehr; ihr soziales Umfeld hat nicht mehr die ursprüngliche Bedeutung. Sie können sich von menschlichem Kontakt zurückziehen, aber sie empfinden keine Einsamkeit, kein Leid wegen ihres Zustands, denn sie spüren nichts von ihrem enormen Verlust.
In unserem Normalzustand sehnen wir uns jedoch nach Gemeinschaft. Unserem inneren Cowboy mag die Vorstellung gefallen, allein in den Sonnenuntergang zu reiten, aber realen Menschen geht es damit nicht gut; sie füllen die Lücke, indem sie ihr Pferd, ihr Auto oder irgendeinen anderen möglichen Ersatz zu ihrem Vertrauten machen. Das ist natürlich keine neue Erkenntnis. Der menschliche Drang, sich anderen anzuschließen, ist seit Langem als Grundbedürfnis anerkannt. Dennoch werden die Implikationen dieser Tatsache manchmal nicht gewürdigt.
„Kein Mensch ist eine Insel, in sich ein Ganzes“, schrieb der englische Renaissancedichter John Donne; „jeder Mensch ist ein Stück des Kontinents, ein Teil des Festlandes. Wird auch nur ein Erdklumpen vom Meer weggeschwemmt, so ist Europa gemindert, als wär’s eine ganze Landzunge. […] Der Tod eines jeden Menschen mindert mich, weil ich in die Menschheit eingewoben bin. Lass daher niemals nachfragen, für wen die Glocke schlägt: Sie schlägt für dich.“
Als Priester und Dichter dürfte Donne diese Worte gekannt haben, die König Salomo zugeschrieben werden: „Wer sich absondert, der sucht, was ihn gelüstet, und gegen alles, was gut ist, geht er an.“ (Sprüche 18, 1)
„So ist’s ja besser zu zweien als allein; denn sie haben guten Lohn für ihre Mühe. Fällt einer von ihnen, so hilft ihm sein Gesell auf. Weh dem, der allein ist, wenn er fällt! Dann ist kein anderer da, der ihm aufhilft.“
Selbst in der modernen westlichen Gesellschaft, die durch und durch individualistisch ist, wird die menschliche Sehnsucht nach sozialer Gemeinschaft in der Kultur gefeiert. „People who need people are the luckiest people in the world“ (Menschen, die Menschen brauchen, haben von allen Menschen der Welt das größte Glück), schrieb der Lyriker Bob Merrill 1964. Das Lied handelte hauptsächlich von Liebesbeziehungen, und Liebespaare sind in der Tat „Menschen, die Menschen brauchen“. Aber das betrifft keineswegs nur sie. Wir alle sind im selben Boot – ob wir ledig, verheiratet, alt oder jung sind; unabhängig von Ethnie, Geschlecht, Kultur oder jeder anderen Bezeichnung – sozialer Anschluss und Interaktion sind für den Menschen überlebensnotwendig.
Aber was ist sozialer Anschluss eigentlich? Wie viele und welche Arten von Verbindung sind wichtig?
Das gemeinhin bekannte Wort sozial kann je nach Kontext Verschiedenes bedeuten. Wissenschaftler verwenden es generell, um zu beschreiben, wie Menschen in organisierten, verflochtenen Gesellschaften miteinander agieren. Soziale Kompetenz ermöglicht ihnen, sich in ihren Beziehungen angemessen zu verhalten, seien es enge Bindungen oder lockere Bekanntschaften. Soziale Verbundenheit kann insbesondere Freundschaft bedeuten, aber auch die Verbundenheit zwischen Personen und ihrer Gesellschaft.
Auch im alltäglichen Sprachgebrauch kann sozial verschiedene Konnotationen haben. Das Wort ist in stark unterschiedlichen Begriffen wie sozialverträglich, soziale Trinker, soziale Medien und soziale Distanzierung enthalten. Die Gemeinsamkeit ist auch hier, dass es um Menschen und ihre Interaktion geht, aber man verfällt leicht in Klischees. Man könnte an Sozialarbeit, soziale Einstellung und dergleichen denken, wo sozial so etwas wie solidarisch bedeutet, und Menschen, die sich sozial engagieren, als extravertiert bezeichnen. Andere, die lieber außen vor bleiben und alles beurteilen, bezeichnet man vielleicht als Mauerblümchen, unsozial oder – noch schlimmer – asozial und auch introvertiert.
Diese Klischees verstärken Mythen, die das Potenzial für persönliches Wachstum lahmlegen können. Wenn man sich (oder andere) als introvertiert oder extravertiert kategorisiert, bleibt wenig Raum für die Wachstumsorientierung, die wir alle brauchen, um das Beste aus uns herauszuholen. Tatsächlich erkennt die Wissenschaft gerade, dass eine Identifikation mit dem einen oder anderen Extrem dazu führen kann, dass man entscheidende Teile der eigenen Persönlichkeit, die dem akzeptierten „Etikett“ widersprechen, zu ignorieren oder zu unterdrücken beginnt
Freundschaft neu gedacht
Wie wichtig ist unser Bedürfnis nach sozialen Bindungen? Es ist so wichtig, dass wir damit zur Welt kommen, ebenso wie mit dem Bedürfnis nach Nahrung, Wasser, Kleidung und Obdach. Wenn eines dieser Bedürfnisse nicht erfüllt wird, gedeihen wir nicht.
Unsere ersten, prägenden Bindungen entwickeln wir meistens zu Familienmitgliedern, aber sie sind nicht die einzigen Beziehungen, die wir im Laufe unseres Lebens brauchen. Schon in der frühen Kindheit wirken sich Beziehungen zu Gleichaltrigen und die prosozialen Fähigkeiten, die wir durch sie gewinnen, in vielfältiger Weise auf das Maß unserer Gesundheit und unseres Wohlergehens bis ins Erwachsenenalter aus. Kulturübergreifende Studien zeigen, dass Menschen ohne starke soziale Netze anfälliger für psychische und körperliche Krankheiten sind (und sich nur schwer davon erholen). Mit fortschreitendem Alter bestehen diese Netze zunehmend mehr aus Freunden als aus Angehörigen, sodass Freunde noch wichtiger dafür werden, dass wir gesund bleiben.
„Schütze dich nicht mit einem Zaun, sondern mit deinen Freunden.“
Neben diesen Vorteilen bringen Freundschaften noch weitere Geschenke mit sich. Ihretwegen ändern wir uns und wachsen wir. Wir lernen durch Feedback von anderen, wer wir sind und wer wir zu werden hoffen. Mit einigen dieser Menschen werden wir tiefe, dauerhafte Beziehungen aufbauen. Mit anderen werden wir eher beiläufige Verbindungen haben. Doch selbst die oberflächlichsten Beziehungen können uns überraschend tief beeinflussen, und selbst im Internetzeitalter bleiben Freundschaften im Leben der meisten Menschen offenbar vielgestaltig und komplex.
Die englischen Soziologen Liz Spencer und Ray Pahl haben erforscht, was Freundschaft heute ist und welche Rolle sie in der Gesellschaft einnimmt. Ihr Buch erschien 2006 unter dem Titel Rethinking Friendship: Hidden Solidarities Today (Freundschaft neu gedacht: verborgene Solidaritäten heute) und zeichnet ein Bild der persönlichen Gemeinschaften von Männern und Frauen verschiedenen Alters, in verschiedenen Lebensphasen und mit verschiedenem sozioökonomischem und ethnischem Hintergrund in ganz England. Sie suchten nach erkennbaren Mustern und waren erstaunt über die reiche Vielfalt der Formen, in denen Menschen ihr soziales Umfeld gestalten. Am Ende fanden sie keine Belege dafür, dass das Internet soziale Bindungen schwächt oder Interaktionen in der realen Welt obsolet macht: „Es hat keinen Massenrückzug aus der Geselligkeit von Angesicht zu Angesicht gegeben, und offenbar wird das Internet hauptsächlich genutzt, um bestehende Beziehungen zu ergänzen und zu pflegen, statt um gänzlich neue persönliche Netze aufzubauen.“
Durch detaillierte Befragungen stellten Spencer und Pahl fest, dass die meisten Menschen Familie und Freunde nicht als zwei verschiedene Gruppen sehen. Manche Freunde sind uns so wichtig wie Familienangehörige, und manchen Angehörigen geben wir einen Platz unter unseren liebsten Freunden. Außerdem zeigt sich beim Schließen von Freundschaften eine Vielfalt auf, die illustriert, warum Begriffe wie Extraversion und Introversion als Beschreibungen menschlicher Geselligkeit nicht nur beklagenswert unzulänglich sind, sondern sogar irreführend.
„Ohne etwas über die Qualität unterschiedlicher Freundschaften zu wissen“, stellten sie fest, „ist es schwierig, aus der Tatsache, dass manche Menschen mehr als zwanzig Freunde [zu ihrer persönlichen Gemeinschaft] zählen und andere nur einen oder zwei, viel zu schließen.“
Formen der Freundschaft
Die Untersuchung von Spencer und Pahl ergab mindestens sieben Formen persönlicher Gemeinschaft, acht Arten von Freundschaft und vier Freundschaftsrepertoires, womit sie verschiedene Arten beschrieben, Freundschaft zu leben.
Ihnen zufolge verlassen sich Menschen mit einem „elementaren“ Ansatz eher nur auf Familienmitglieder oder einen Partner für unterstützende, vertrauensvolle Beziehungen oder ziehen es vielleicht vor, „allein klarzukommen“. Sie mögen Freunden erlauben, eine begrenzte, beiläufige Rolle zu spielen, aber sie sehen Freunde nicht als Vertrauenspersonen oder Teil ihres Unterstützernetzes.
Menschen, die Freundschaft „intensiv“ leben, definieren ihre persönliche Gemeinschaft nur über ihre engsten, komplexesten Beziehungen. Über beispielsweise eine beste Freundin oder verwandte Seele wie eine Partnerin oder ein anderes wichtiges Familienmitglied hinaus umfasst ihr Netz keine weiteren Stufen von Freundschaft.
Anders empfinden diejenigen, die sowohl einfache als auch komplexe Freundschaften anstreben, doch unterscheidet ihre „fokale“ Herangehensweise zwischen einem kleinen Kern von Seelenverwandten und Vertrauenspersonen und einer größeren Gruppe von Kollegen und „Spaßfreunden“.
Spencer und Pahl erhoben nicht den Anspruch, mit ihren Kategorien das Wesen der Freundschaft vollständig wiederzugeben, doch sie nannten einen vierten, sehr wichtigen Typ: Menschen mit einem „breiten“ Repertoire, das sowohl einfache als auch komplexe Freundschaften einschließt. Das klingt ähnlich wie das „fokale“ Repertoire, aber diese Gemeinschaften umfassen ein noch breiteres Spektrum an Freundschaften über fast alle acht Arten von Freunden: Kollegen, nützliche Kontakte, Gefälligkeitsfreunde, Spaßfreunde, Helfer, Tröster, Vertrauenspersonen und Seelenverwandte. „Freunde spielen viele verschiedene Rollen, und Menschen mit einem solchen Repertoire nehmen ihre Freundschaften sehr ernst“, bemerkten Spencer und Pahl. „Generell schätzen sie die besonderen Qualitäten verschiedener Arten von Freundschaft.“
„Unsere Forschung zeigt, dass Freundschaft ein lebenswichtiges Sicherheitsnetz sein kann, das sehr notwendige Unterstützung und Vertrautheit bietet, aber auch ein Sicherheitsventil, das es möglich macht, sich zu entspannen und mit dem Druck des heutigen Lebens zurechtzukommen.“
Man könnte versucht sein, Beziehungen, die auf Geselligkeit und Spaß beruhen, ihren Wert abzusprechen, aber Spencer und Pahl stellten fest, dass solche Freunde erheblich zur emotionalen Resilienz beitragen können. Eine ihrer Probandinnen bemerkte: „Weil das Leben die meiste Zeit so ernst ist, […] ist es schön, Leute zu treffen, mit denen man sich entspannen kann. […] Heutzutage arbeiten alle so hart und es geht so schnell, dass man es manchmal einfach braucht, da rauszukommen und zusammen richtig abzulachen.“
Empirische Forschungsergebnisse bestätigen das. Es besteht ein Zusammenhang zwischen Grübelei (unablässige Beschäftigung mit den eigenen Problemen) und Unzufriedenheit bis hin zur Depression; und während es mit Sicherheit hilft, ein Problem mit einer Freundin zu besprechen, hat unablässiges Grübeln darüber den entgegengesetzten Effekt. Es macht nicht nur deprimiert und hemmt das Lösen des Problems, sondern es erschöpft tendenziell auch das Mitgefühl unserer Vertrauensperson und hat das Potenzial, selbst die engsten Freunde zu vertreiben. Schon wegen dieses Faktors allein würden wir sicher wollen, dass unser Unterstützernetz Freunde umfasst, mit denen wir unsere Sorgen teilen, und andere, die uns hingegen ablenken können.
Als Spencer und Pahl die psychische Gesundheit und das Wohlbefinden ihrer Probanden im Verhältnis zu deren persönlichen Gemeinschaftsstrukturen maßen, fanden sie tatsächlich einige interessante Muster. Sehr kleinen oder zerbrechlichen persönlichen Gemeinschaften entsprachen schlechte Werte bei der psychischen Gesundheit – unabhängig davon, ob familiäre Instabilität in der Kindheit der Grund für das Defizit war oder ob die Betroffenen ihre Freundschaften schlichtweg nicht pflegten. Das leuchtet ein: Wer eine größere persönliche Gemeinschaft hat, kann von vielen Menschen Unterstützung bekommen. Wer dagegen alles auf die sprichwörtliche eine Karte setzt, verliert wahrscheinlich den Boden unter den Füßen, wenn er seine einzige unterstützende Beziehung verliert.
Die Untersuchung von Spencer und Pahl bestätigt, dass soziale Beziehungen für die Gesundheit des Menschen unverzichtbar sind. Doch einer ihrer wichtigsten Beiträge zu unserem Verständnis sozialer Bindungen ist die Erkenntnis, dass unsere Verbindungen so formenreich und unsere Muster, Freundschaften zu schließen und zu pflegen, so individuell sind, dass Kategorien wie introvertiert oder extravertiert – oder die Angst, das Internet sei der Tod sozialer Interaktion – absolut verfehlt sind. Als Menschen ist uns das Bedürfnis nach sozialer Interaktion angeboren. Introvertiert, extravertiert oder ambivertiert – jeder Mensch braucht verschiedene Verbindungen mit anderen, um geistig, körperlich und emotional gesund zu sein.
Menschen, die Menschen brauchen, haben also wohl nicht nur das größte Glück – sie sind nicht einmal nur die glücklichsten Menschen. Sie sind die einzigen Menschen. Das sind wir alle.