Herzen der Finsternis

Das Ausmaß an Bösem, das von Adolf Hitler und Benito Mussolini verübt wurde, und das klägliche Scheitern ihrer grandiosen Pläne macht die beiden zu falschen Messiassen der ersten Ordnung.

VORIGES LESEN

(TEIL 6)

ZUR SERIE

Als die ausländischen Besucher am 23. Juni 1940 aus dem Invalidendom in das Pariser Sonnenlicht hinaustraten, hielt ein Fotograf die außergewöhnliche Szene fest. Der Mann in der Mitte war fast von Kopf bis Fuß in einen weißen Mantel gehüllt, alle anderen in Schwarz. Dem Architekturkritiker Deyan Sudjic zufolge war er „eine magische Lichtgestalt wie der Sonnenkönig, gesäumt von geringeren, in Finsternis verlorenen Sterblichen“ (The Edifice Complex, 2005). Für diesen Besuch als Sieger in Paris hatte Adolf Hitler als Begleitung nicht militärische Nazigrößen gewählt, sondern zwei Architekten und einen Bildhauer: Albert Speer, Hermann Giesler und Arno Breker.

Der Führer hatte zuerst den Wunsch gehabt, Maler zu werden, dann Architekt, aber für beide Studiengänge hatte er als junger Mann in Wien die Qualifikation verfehlt. Nun, nachdem er auf die Gruft Napoleons hinabgeschaut hatte (den Schrein des Möchtegern-Messias aus dem vorangegangenen Jahrhundert), wies er seinen persönlichen Bildhauer an, etwas viel Eindrucksvolleres für ihn zu entwerfen, wenn seine Zeit käme – etwas, zu dem man buchstäblich aufblicken musste. Napoleon hatte versucht, die Welt zu erobern, und war gescheitert; Hitler war entschlossen, nicht zu scheitern.

Hitler wollte das alte Rom, und Speer tat sein Bestes, um es zu liefern.“ 

Deyan Sudjic, The Edifice Complex

Durch den Sieg der Nazis über Frankreich, die Rache für Deutschlands vernichtende Demütigung nach dem Ersten Weltkrieg, erstreckte sich das Dritte Reich nun vom Atlantik bis zur russischen Grenze. An diesem Tag konnte der strahlende und größenwahnsinnige Führer seine Bereitschaft signalisieren, wie Sudjic schreibt, „die Welt neu zu gestalten“. Als größter Architekt der Menschheit „wollte Hitler das alte Rom, und Speer tat sein Bestes, um es zu liefern“.

Dies ist eine Ambition, die bei Politikern mit maßlosem Ehrgeiz öfter vorkommt – die Weltkarte nach der antiken römischen Tradition zu verändern. Wenige Jahre zuvor hatte ein anderer vorgeblicher Apoll ähnliche Ansprüche angemeldet. Der Faschist Benito Mussolini – Il Duce – kam zehn Jahre bevor Hitler nationalsozialistischer deutscher Kanzler wurde, als Italiens Premierminister an die Macht. Im April 1922, sieben Monate ehe König Vittorio Emmanuele III. ihn mit der Regierungsbildung beauftragte, hielt der Duce eine programmatische Rede. Unter anderem verkündete er: „Rom ist unser Ausgangspunkt und unser Bezugspunkt; es ist unser Symbol oder, wenn es euch lieber ist, unser Mythos. Wir träumen vom römischen Italien – weise und stark, diszipliniert und imperial. Viel von dem unsterblichen Geist des alten Rom ist im Faschismus auferstanden!“

Laut dem vatikanischen Gelehrten Peter Godman hatte Mussolinis Rhetorik zur Zeit dieser Rede „schon einen mystischen und messianischen Ton angenommen. . . . Er wollte als neuer Augustus, als zweiter Caesar angesehen werden. . . . Die Aufgabe erforderte einen Übermenschen. Gegen das Paradies, das Mussolini auf Erden errichten wollte, standen die Liberalen, Demokraten, Sozialisten, Kommunisten und (später) Juden als dämonische Widersacher. Doch er würde über diese Feinde der Menschheit triumphieren, denn er war nicht nur Caesar Augustus, sondern auch der Erlöser.“

Der Führer und der Duce hatten ähnliche Feindbilder. Auch ihr Größenwahn, ihr Publikum und dessen Bedürfnisse waren einander ähnlich. In seiner weithin gerühmten Hitler-Biografie schreibt der Historiker Sir Ian Kershaw, im Jahr 1936 sei Hitlers „narzisstische Selbstverherrlichung infolge der Fast-Vergöttlichung, die seine Anhänger auf ihn projizierten, ins Unermessliche angeschwollen. Nun sah er sich selbst als unfehlbar. . . . Das deutsche Volk hatte diese persönliche Hybris des Führers geformt. Nun stand ihr vollständiger Ausdruck bevor – das größte Wagnis in der Geschichte der Nation – die Machtergreifung über den gesamten europäischen Kontinent.“ Auf dem vier Jahre langen Weg nach Paris besetzte Hitler das Rheinland, annektierte Österreich und die Tschechoslowakei und überfiel Polen, Dänemark, Norwegen, Holland, Belgien und Luxemburg. Kurz vor dem Fall Frankreichs unterstützte Mussolini Hitlers Bestrebungen mit Truppen, wie es dem Pakt entsprach, den er und der Führer unterzeichnet hatten.

Mit ihrem Versuch, die Welt umzugestalten, reagierten Mussolini und Hitler auf das, was sie als die Herausforderungen und Chancen ihrer Zeit sahen: die Bolschewistische Revolution, die Nachwirkungen eines Weltkrieges, wirtschaftliche und soziale Instabilität, glühenden Nationalismus sowie das Verlangen nach charismatischen Führern und Problemlösern. Dass ihre eigenen psychischen Bedürfnisse bei diesem Bestreben eine erhebliche Rolle spielten, ist unumstritten, doch sie wären nie zu ihrer Machtfülle gelangt, wenn ihnen nicht bedeutende Anteile ihrer Bevölkerung die notwendige Unterstützung gegeben hätten.

Es ist entsetzlich genug, dass Mussolini den Tod einer Million Menschen verschuldete, doch das Leid, das Hitler verursachte, war unvorstellbar. Und es ist nicht nur die Zahl der Toten – allein rund 6 Millionen Juden –, sondern auch die pathologische Natur seines Hasses und seiner Grausamkeit, seine Menschenverachtung, ob deutscher oder irgendeiner anderen Nationalität. Sein Opfer war die Menschheit. Insgesamt macht das Ausmaß des Bösen, das diese beiden Diktatoren entfesselten, und das elende Scheitern ihrer grandiosen Pläne sie zu falschen Messiassen erster Ordnung, die die Überlebenden am Rand des Abgrunds zurückließen.

DIE ANFÄNGE

Mussolini wurde 1883 in Dovia, nahe der nordöstlichen Adriaküste Italiens, als Sohn des Hufschmieds Alessandro und der Lehrerin Rosa geboren. Sein Vater war ein politischer Aktivist, unterstützte sozialistische Ziele und betrank sich gern; seine Mutter war traditionell religiös und erzog ihren Sohn in der römisch-katholischen Lehre.

Benito tat es zunächst seinem Vater gleich, wurde Sozialist und brachte es bis zum Anführer des linken Parteiflügels. Als Chefredakteur der sozialistischen Zeitung Avanti stellte er sich gegen Italiens Krieg mit Libyen (1911-1912). Als er jedoch beim Ausbruch des Ersten Weltkriegs plötzlich Interventionist wurde und einen Kriegseintritt seines Landes befürwortete, wurde er aus der Partei ausgeschlossen. Den Platz des Sozialismus in seinem Leben nahm nun der Nationalismus ein. Er gründete eine eigene Zeitung namens Popolo d’Italia und trat bald den Militärdienst an. Aus dem Krieg als Unteroffizier heimgekehrt, bildete er mit anderen Veteranen eine neue, rechtsgerichtete und militaristische Organisation, die Fasci di combattimento, die sich dem politischen Terrorismus und der gewaltsamen Wiederherstellung der Ordnung verschrieb. Im Jahr 1921 zog er als Abgeordneter der soeben anerkannten Nationalen Faschistischen Partei ins Parlament ein.

Sechs Jahre nach Mussolinis Geburt kam Adolf Hitler in Braunau, an der Grenze Österreichs mit Deutschland zur Welt. Er war das vierte Kind einer hingebungsvollen, frommen Mutter und eines harten, herrischen Vaters. Die prekäre Erziehung durch den übellaunigen Zuchtmeister Alois, der gern in Gesellschaft trank, und die überängstliche, sehr aufmerksame Klara spielte für die Entwicklung des psychischen Profils von Hitler als Erwachsenem eine bedeutende Rolle, doch ein definitiver Zusammenhang mit seinem späteren kalten, unerbittlichen Menschenhass lässt sich nicht feststellen. Seine Jahre als Jugendlicher waren unglücklich und voller Misserfolge; die Familie zog häufig um, und er wiederholte eine Prüfung nach der anderen, bis er schließlich den Besuch der Oberschule abbrach. Der Tod seines Vaters, der im Jahr 1903 bei seinem morgendlichen Glas im örtlichen Weinhaus starb, rührte ihn nicht, doch als seine Mutter vier Jahre später vorzeitig an Brustkrebs starb, war er untröstlich.

Schon als junger Mensch träumte Adolf von Größe und tat sich schwer, Verluste, Zurechtweisungen oder Fehlschläge zu akzeptieren. Auf Misserfolge pflegte er mit Faulheit, Depression, Zorn und Wut zu reagieren. Als der Erste Weltkrieg ausbrach, sah er darin eine Chance, sich zu profilieren. Obwohl er ein Jahr zuvor über die Grenze nach München geflohen war, um dem Militärdienst in Österreich zu entgehen, trat er nun in das bayerische Heer ein. Seine Tapferkeit als Melder mit dem Rang eines Gefreiten an der Westfront wurde zweimal mit dem Eisernen Kreuz belohnt. Im Jahr 1918 wurde er durch Senfgas vorübergehend blind; er erholte sich in einem Lazarett und ging dann nach München zurück, um auf die Demobilisierung zu warten.

Dort stürzte sich Hitler, der keine Arbeit fand, mit anderen Veteranen in das politische Leben in der rechtsgerichteten Deutschen Arbeiterpartei. Der Krieg hatte seinen nationalistischen Extremismus verstärkt, und nun gab er den Juden und den Marxisten die Gesamtschuld an Deutschlands Scheitern. Seine rhetorischen Fähigkeiten wurden bald erkannt, und so begann sein kometenhafter Aufstieg zum Ruhm. Schon 1921 war er Vorsitzender der in NSDAP (Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei) umbenannten Partei.

An diesem Punkt ihrer Entwicklung ließen weder Mussolini noch Hitler die immense Wirkung ahnen, die sie bald auf die ganze Welt haben sollten. Ohne die besonderen Nachkriegsbedingungen in Italien und Deutschland hätte keiner von beiden ein hohes Amt erreicht. Es war die Kombination bestimmter Bedürfnisse und Sehnsüchte im Volk und der persönlichen Ambitionen dieser beiden Männer in einer außergewöhnlich instabilen Gesellschaftsordnung, die ihren totalitären Siegeszug ermöglichte.

DER BLUFF DES DUCE

Mussolinis Berufung zum Premierminister folgte auf seinen viel gefeierten „Marsch auf Rom“ im Oktober 1922 – der allerdings weit weniger spektakulär war, als die Propaganda des Duce ihn darstellte. Auf seinen Befehl marschierten vier faschistische Anführer mit ihren Truppen auf Rom, während er zuhause in Mailand blieb – bereit, in die Schweiz zu flüchten, falls seine Pläne fehlschlügen. König Vittorio Emmanuele sagte später, aus vier Richtungen seien bis zu 100 000 von Mussolinis Schwarzhemden in die Stadt geströmt. Verschiedene faschistische Quellen berichteten von 50 000-70 000. Die Wahrheit ist, dass staatliche Truppen etwa 20 000 schlecht ausgerüstete, hungrige, nasse und schmutzige faschistische Soldaten anhielten, von denen danach rund 9000 die Tore der Stadt erreichten. Dem deutschen Historiker Martin Broszat zufolge „gab es in der alten und neuen Geschichte kaum einen Angriff auf Rom, der so kläglich in seinen Anfängen steckenblieb“.

Es war ein enormes Risiko, doch trotz der Schwäche des Marsches hatte der Duce gewonnen. Am 30. Oktober traf er mit dem Zug in Rom ein und nahm die Einladung des schüchternen Königs an, Premierminister zu werden. So viel zur oft gerühmten „Machtergreifung“. Der Mythos wurde jedoch verbreitet, und als Mussolini im Jahr 1927 seinen faschistischen Kalender einführte, wurde der 28. Oktober (der Jahrestages des Marsches) zum Neujahrstag bestimmt und als Nationalfeiertag begangen. Der 23. März wurde als Beginn des Faschismus zum Feiertag und der 21. April als Tag der Gründung Roms.

INSPIRATION FÜR HITLER

Hitler und der Duce hätten einander viel früher begegnen können, wenn Mussolini seinen Nacheiferern im Norden gegenüber offener gewesen wäre. Auf niedriger Ebene gab es zwar Kontakte zwischen deutschen und italienischen Faschisten – aller Wahrscheinlichkeit nach hatten die Nazis sogar ihren Gruß bei den Schwarzhemden abgeschaut, die ihn ihrerseits von der römischen Antike hatten –, doch erst kurz vor dem Marsch auf Rom gelang es einem Nazi-Anhänger, dem Playboy Kurt Lüdecke, den Kontakt mit Mussolini selbst herzustellen. Der Duce hatte zuvor noch nie von Adolf Hitler gehört. Dieser hingegen war immer tiefer beeindruckt von Mussolinis Erfolg und hoffte auf eine Begegnung oder finanzielle Unterstützung; er bezeichnete ihn als „unvergleichlich“ und „brillanten Staatsmann“. Umso mehr gefiel es ihm, als seine eigenen Anhänger begannen, ihn Deutschlands Mussolini oder sogar einen neuen Napoleon zu nennen.

Augenblicklich waren meine kritischen Fähigkeiten ausgeschaltet … Er erschien mir wie ein zweiter Luther … Als ich mich umschaute, sah ich, dass seine Suggestivkraft die Tausende in Bann hielt wie einen Einzigen … Die Willenskraft dieses Mannes, die Leidenschaft seiner ehrlichen Überzeugung schienen auf mich überzuströmen. Ich hatte ein Erlebnis, das sich nur mit einer religiösen Bekehrung vergleichen ließ.“

Kurt Lüdecke, Zitiert von Joachim C. Fest, Hitler: Eine Biographie

Im Dezember 1922 war im NS-Parteiorgan Völkischer Beobachter erstmals zu lesen, Hitler sei ein besonderer Führer und der eine, auf den Deutschland gewartet habe. Das öffentlich ausgedrückte Verlangen begann zu Hitlers eigenen Ambitionen zu passen. Wenige Monate später sagte der Chefredakteur des Organs, Dietrich Eckhart, der Hitlers überbordende Leidenschaft für das Führen erkannte, zu einem Freund, sein Größenwahn sei „auf halbem Weg zwischen Messiaskomplex und Neroismus“. Dies basierte auf Hitlers Bemerkung nach einem Besuch in Berlin, dessen Dekadenz ihn abstieß: „Ich fühlte mich fast wie Jesus Christus, als er in den Tempel seines Vaters kam und die Geldwechsler fand.“

Obwohl Hitlers Selbstbild wohl noch nicht über das eines Johannes des Täufers hinausging, der dem ersehnten Erlöser den Weg bereitet, klang schon an, was Ende 1923 kommen sollte, als er der Londoner Daily Mail sagte: „Wenn Deutschland ein deutscher Mussolini gegeben wird, . . . würden die Menschen auf die Knie niederfallen und ihn mehr verehren, als Mussolini je verehrt worden ist.“

Rom ist unser Ausgangspunkt und unser Bezugspunkt; es ist unser Symbol oder, wenn es euch lieber ist, unser Mythos. Wir träumen vom römischen Italien – weise und stark, diszipliniert und imperial. Viel von dem unsterblichen Geist des alten Rom ist im Faschismus auferstanden!“

Benito Mussolini, Zitiert von Peter Godman, Hitler and the Vatican

VORAUSSETZUNGEN FÜR KULTE

Obwohl Mussolini nicht ebenso tief in das völkermordende und bestialische Böse absank wie Hitler, gibt es in ihren Geschichten viele Entsprechungen. Nicht zuletzt sind dies die Wirkungen kollektiver Verzweiflung in schweren Zeiten. Dann schenken die Menschen radikalen Stimmen unvernünftig viel Gehör und machen manchmal Männer zu Göttern. Der Mussolini-Biograf Richard Bosworth schreibt: „1914 hofften viele Italiener auf einen ,Führer‘, der den Kompromissen, der Konfusion und der Korruption, die sie überall erkannten, ein Ende bereiten würde. Und Mussolini wurde, wenn auch zweifellos noch in einem kleinen Kreis, als potenzieller Kandidat für diese Rolle bekannt.“ Ohne Italiens Eintritt in den Ersten Weltkrieg im Jahr 1915 wäre Mussolini vielleicht schon früher Premierminister geworden. Jedenfalls dauerte es noch einige Jahre, bis die verzweifelt auf einen Erlöser wartenden Italiener von dem Führer hörten, dessen tiefe Berufung es war, die Nation wiederzubeleben, einem Mann, der heldenhaft allein ging oder, wie Bosworth kommentiert, „einem Mann, der zu einem Gott wurde“.

Ähnliche Sehnsüchte entstanden, wie wir sahen, in Deutschland nach dem Krieg durch den Gesichtsverlust, die Trauer, Verzweiflung, Enttäuschung, die sozialen Wirren und die politische Instabilität, die Härte der von den Alliierten aufgezwungenen Reparationen sowie die durch sie verursachte Arbeitslosigkeit und Inflation. Das Volk war reif für radikale Appelle. Eine Generation von Männern und Frauen, die durch die Gewalt und Not des Krieges geprägt war, brachte ihre „seelische Verletzung“ mit in die „Friedenszeit“, und Hitler fand Worte, ihre innersten Frustrationen und Sehnsüchte auszusprechen.

Geschickt setzte er auch schon sehr früh religiöse Terminologie ein, um seine politischen Ziele zu formulieren und den Menschen schmackhaft zu machen.

Auf einer Weihnachtsfeier [1926] einer Münchener Sektion der NSDAP verglich Hitler die Lage der Partei, ihre Verfolgung und Nöte mit der Lage des Urchristentums: Der Nationalsozialismus … werde „die Ideale von Christus zur Tat werden lassen, das Werk, welches Christus angefangen hatte, aber nicht beenden konnte, werde er – Hitler – zu Ende führen“. Der Völkische Beobachter schreibt [am 23. Dez. 1926] über diesen Auftritt Hitlers, der dem Laienspiel „Erlösung“ folgte: „… der sich nun teilende Vorhang zeigte den neuen Erlöser, den Erretter des deutschen Volkes aus Schande und Not – unseren Führer Adolf Hitler“ (Joachim C. Fest, Hitler: Eine Biographie, Ullstein, 1987).

Das Geld, um seinen Aufstieg als Führer zu finanzieren, fand sich auch bald über einflussreiche Gönner. Er hatte von Jugend auf Richard Wagners Musik geliebt, und der Zufall brachte ihn in Verbindung mit den reichen Wagnerianern in Bayreuth, wo der Komponist seine letzten Jahre verlebt hatte. Diese prominente Gruppe fand Hitler sympathisch und vielversprechend genug, um ihm finanzielle Unterstützung und Zugang zu weiteren Mächtigen zu geben.

DER KURS WIRD GESETZT

Kershaw bemerkt, dass es der Erfolg des Duce mit dem Marsch auf Rom war, der Hitler zu seinem Versuch ermutigte, im November 1923 in Bayern die Macht zu ergreifen – dem gescheiterten Hitler-Ludendorff-Putsch mit dem „Marsch auf die Feldherrnhalle“. Hitler hatte Mussolinis zweifelhafte Leistung kommentiert: „So wird es mit uns sein. Wir müssen nur den Mut haben, zu handeln. Ohne Kampf kein Sieg!“ Später sagte er rückblickend: „Glauben Sie nicht, dass die Ereignisse in Italien keinen Einfluss auf uns hatten. Das Braunhemd hätte es ohne das Schwarzhemd wahrscheinlich nicht gegeben. Der Marsch auf Rom 1922 war einer der Wendepunkte der Geschichte.“ Ein beredtes Zeugnis für die Macht faschistischer Propaganda.

Doch als der Münchner Putsch zusammenbrach und Hitler zu fünf Jahren Haft wegen Verrats verurteilt wurde, zeigte der Duce keinerlei Neigung zu einer Beziehung mit, wie es schien, einer unter vielen erfolglosen rechten Gruppierungen, die seine Schirmherrschaft wollten.

Obwohl Hitler insgesamt nur 13 Monate verbüßte, hatte er in dem relativen Komfort der Landsberger Festung Zeit, die erste Fassung der späteren Nazibibel zu diktieren – seiner verbitterten Autobiografie Mein Kampf. Hier versprühte er sein Gift gegen Juden, Marxisten und Slawen, machte sich Luft über die Alliierten, die Deutschland mit ihrem Versailler Vertrag bestraft hatten, huldigte der Macht und legte seine Pläne für die Weltherrschaft dar. Laut Kershaw brachte die Arbeit an dem Buch Hitler die „absolute Überzeugung von seinen eigenen, fast messianischen Eigenschaften und seiner Mission“. Anhand von Passagen aus Mein Kampf zeigt der Biograph, dass Hitler, als er Ende 1924 freikam, „sich sicher fühlte, dass er dazu bestimmt war, der ,große Führer‘ zu werden, auf den das Volk wartete, der den ,verbrecherischen Verrat‘ von 1918 auslöschen, Deutschlands Macht und Herrlichkeit wiederherstellen und einen neu erstandenen ,germanischen Staat deutscher Nation‘ schaffen würde“. Seine verdrehten Vorstellungen von nationaler Erlösung durch die gewaltsamen Säuberungseffekte einer pervertierten religiösen Wissenschaft standen fest – und allzu viele Menschen waren bereit, ihren kritischen Verstand abzuschalten und ihm Gehör zu schenken.

Hitler war nicht der einzige Nazi, der 1924 schrieb. Sein Bewunderer Georg Schott veröffentlichte ein beweihräucherndes Buch, das ihn als Propheten, Genie, religiösen Menschen, politischen Führer, willensstarken Mann, Pädagogen, Erwecker, Befreier sowie Muster an Demut und Treue darstellte. Hier wurde Hitler, kommentiert Kershaw, „in nichts Geringeres als einen Halbgott verwandelt“. Schott schrieb: „Es gibt Worte, die ein Mensch nicht aus sich selbst hat, die ihm ein Gott zu verkünden gab. Zu diesen Worten gehört dieses Bekenntnis Adolf Hitlers . . . ,Ich bin der politische Führer des jungen Deutschland.‘“ Und Schott fuhr fort: „Das Geheimnis dieser Persönlichkeit liegt in der Tatsache, dass in ihr das Tiefste dessen, was in der Seele des deutschen Volkes schlummert, in vollen, lebendigen Zügen Gestalt angenommen hat. . . . Das ist in Adolf Hitler erschienen: die lebendige Inkarnation der Sehnsucht der Nation“ (Kershaw, Hitler, 1889–1936: Hubris).

Hitler fühlte sich zu weit mehr als politischer Führung berufen. „Wer den Nationalsozialismus nur als politische Bewegung versteht“, so hat Hitler geäußert, „weiß fast nichts von ihm. Es ist mehr noch als Religion: er ist der Wille zur neuen Menschenschöpfung“ (Fest, Hitler: Eine Biographie, Seite 305).

Es sollten noch einige Jahre ins Land gehen, ehe er die Macht eines Diktators hatte, doch Hitlers Kurs war nun klar, und der Boden – schon bereitet für den Führerkult – sollte seine giftige Pflanze aufnehmen.

RELIGIÖSE MANIPULATION

Unterdessen wurde in Italien, mit Mussolini als Premierminister, die Sprache immer beweihräuchernder. In welchem Maß die öffentliche Verehrung mit religiösen Begriffen ausgedrückt wurde, zeigt sich in den von dem britischen Wissenschaftler John Whittam zitierten Worten eines enthusiastischen Faschisten, der 1925 sagte: „In einem Jahrhundert kündet uns die Geschichte vielleicht davon, dass nach dem Krieg ein Messias in Italien erstand, der zuerst zu 50 Menschen sprach und am Ende eine Million evangelisierte; dass diese ersten Jünger sich dann in ganz Italien verteilten und mit ihrem Glauben, ihrer Hingabe und ihrem Opfer die Herzen der Massen eroberten“ („Mussolini and the Cult of the Leader,“ New Perspective, März 1998).

Über Hitler sollte es bald ähnliche Aussagen geben. Laut Kershaw gingen die Nazis „so weit, dass sie behaupteten, die einzige historische Parallele zu Hitler, der mit sieben Männern begonnen habe und nun eine riesige Massengefolgschaft anzog, sei Jesus Christus, der mit zwölf Gefährten begonnen und eine religiöse Bewegung der Millionen geschaffen habe“ (The „Hitler Myth“).

Dies war mit Sicherheit nicht allein Hitlers Schuld. Die Menschen kamen auf ihn zu. Sie brauchten ihn, und er brauchte ihre Verehrung. Ein Mann, dem so viel Anbetung entgegengebracht wird, verfällt ihr nicht nur leicht, sondern kann auch beginnen, religiösen Eifer im Dienst des Staates zu manipulieren.

Der Duce war durchaus bereit, seine antiklerikalen Gefühle im Interesse der Machtfülle zu mäßigen und, wie Whittam schreibt, „viele der Symbole und Rituale des römischen Katholizismus für sich zu nutzen; es war eine seiner ersten Taten als Premier, in allen Schulräumen wieder das Kruzifix anbringen zu lassen“. Doch die soziale Revolution, die Mussolini anstrebte, sollte die Gläubigen in eine neue Religion einführen, eigens konzipiert für den neuen, faschistischen Menschen.

Auch Hitler machte, nachdem er an die Macht gekommen war, zynisch Gebrauch vom Christentum, um seine Bestrebungen zu fördern. Er wollte ein neues, „positives Christentum“ schaffen, das die Katholiken und Protestanten Deutschlands einen sollte. Doch die Hauptfigur in seiner Version des Glaubens war ein zorniger, arischer Christus, gewiss nicht der als Jude geborene Messias.

Ohne Zögern griff er selbst zur blasphemischen Inanspruchnahme „meines Herrn und Heilands“ für seine antisemitischen Hassausbrüche: „In grenzenloser Liebe lese ich als Christ und Mensch die Stelle durch, die uns verkündet, wie der Herr sich endlich aufraffte und zur Peitsche griff, um die Wucherer, das Nattern- und Ottergezücht hinauszutreiben aus dem Tempel! Seinen ungeheuren Kampf aber für diese Welt, gegen das jüdische Gift, den erkenne ich heute, nach zweitausend Jahren, in tiefer Ergriffenheit am gewaltigsten an der Tatsache, dass er dafür am Kreuz verbluten musste.“ (Zitat einer Rede v 12.4.1922, Fest, Hitler: Eine Biographie, Seite 220-221)

Das darf nicht als wirkliche Bewunderung des Christentums missverstanden werden, das „Endziel“ des Nationalsozialismus nach der Ausrottung der Juden sollte nach Hitler sein, den „verrotteten Zweig“ des Christentums zu terrorisieren.

Trotz aller taktischen Zugeständnisse an die Religion hätte keiner der beiden Führer zugelassen, dass das Kreuz den Fasci oder dem Hakenkreuz den Rang streitig machte.

Die politische Religion des Duce erforderte auch ein neues Rom und großartige Bauprojekte in der bestehenden Stadt; schließlich wollte er als moderne Entsprechung des Augustus anerkannt werden. Bald machte er sich an die Zerstörung von Kirchen, Gebäuden und – wie er fand – Auswüchsen der Kunst aus früheren Jahrhunderten. An ihre Stelle sollten faschistische Kunst und Architektur treten. Ein Plan sah eine breite Prachtstraße vor, die zu einem neuen Forum mit Mussolinis Namen führte; dort plante er, in Anlehnung an Neros Kolossalstatue des Sonnengottes mit Neros eigenem Gesicht, eine 80 Meter hohe Bronzestatue, die ihn als Herkules darstellte. Das Forum und die Statue wurden nicht fertiggestellt, doch im ganzen Land wurden viele öffentliche Gebäude, Bahnhöfe, Postämter, Hochschulen und Fabriken gebaut. Hinzu kamen Gedenkstätten für faschistische Märtyrer mit Gedenkflammen und Kapellen in allen faschistischen Parteizentralen.

Auch viele von Hitlers architektonischen Fantasien hatten politisch-religiöse Anklänge. Er plante eine neue Welthauptstadt namens Germania in Berlin. Sie sollte im Jahr 1950 für eine Weltausstellung fertiggestellt sein und umfasste einen Dom, der 180 000 Personen Platz bieten sollte, und einen Triumphbogen im römischen Stil, der mit nahezu 118 Metern mehr als doppelt so hoch sein sollte wie Napoleons Arc de Triomphe. Doch warum solche überdimensionalen Maße? Hitler erklärte es selbst, indem er schrieb: „Dass der Wert eines Monuments in seiner Größe liegt, ist eine Grundüberzeugung der Menschheit.“ Vielleicht aus diesem Grund, meint der Psychotherapeut George Victor, „befahl Hitler nach seiner Machtergreifung den Bau eines neuen Kanzleramtes für ihn, dessen riesige Ausmaße Besucher spüren lassen würden, dass sie sich in der Gegenwart des ,Herrn der Welt‘ befanden“ (Hitler: The Pathology of Evil, 1998).

DER DUCE UND DER PAPST

Der Vatikan war nicht erfreut, dass Mussolini Kirchen abriss, um Platz für weltliche Bauten zu schaffen. Doch 1929 schien der Duce seine antiklerikale Haltung etwas zu mildern, und er unterzeichnete ein Konkordat mit dem Vatikan. Wie Godman berichtet, lobte der Papst Mussolini bei der Würdigung des Abkommens als „Mann der Vorsehung“, dessen Taten der Versöhnung „Gott-Italien und Italien- Gott wiedergegeben“ hätten. Paradoxerweise schien seine offensichtliche Unterstützung des Diktators nur dessen Vergötzung zu verstärken, statt die Aufmerksamkeit der italienischen Öffentlichkeitauf Gott zu lenken.

Doch war Mussolini dem Papst oder der Kirche wirklich entgegengekommen? Seine faschistischen Anhänger schrieben das Personalpronomen weiterhin groß, wenn es sich auf Mussolini bezog, und, so Godman, „krochen vor ihrem ,geistigen Vater‘ und ,sublimen Erlöser im römischen Himmel‘, während sie ihren Glauben an seine Unfehlbarkeit verkündeten“. Der Duce „gab vor, auf diese Huldigungen keinen Wert zu legen, und ermutigte stillschweigend dazu“. Auch dass 1930 in Mailand eine Schule für „mystischen Faschismus“ eröffnet wurde, die den Führerkult fördern sollte, ließ nicht erkennen, dass Mussolini die Demut entdeckt hätte. Als er im Jahr 1932 den Faschismus definieren sollte, schrieb er: „Faschismus ist ein religiöses Lebenskonzept . . . das jedes Individuum transzendiert und es in den Stand eines initiierten Mitgliedes der geistlichen Gesellschaft erhebt.“ Das war eindeutig nicht die Religion, auf deren Förderung der Papst gehofft hatte. Doch man feierte den zehnten Jahrestag der Ernennung des Duce, und seine Verherrlichung war in vollem Gange.

Bosworth zitiert einige Beispiele: Ein italienischer Biograf beschrieb die Rolle der Eltern im Leben des Duce mit folgenden Worten: „Alessandro Mussolini und Rosa Maltoni spielten nur die Rolle eines Johannes [des Täufers] im Verhältnis zu Christus. Sie waren Werkzeuge Gottes und der Geschichte mit der Aufgabe, über einen der größten nationalen Messiasse zu wachen. Tatsächlich den größten.“ Ein prominenter faschistischer Journalist schrieb: „Das neue Italien heißt Mussolini“, nannte ihn „seinen unfehlbaren Anführer“ und behauptete: „Die Entfaltung der Revolution ist Er [sic]: Mussolini.“ Ein anderer schrieb: „Der Name Mussolini ist überall bekannt . . . als Symbol der Macht und Vollkommenheit.“ Noch erstaunlicher war die Formulierung, der Duce sei „allgegenwärtig“.

Über Hitler wurde dies noch nicht gesagt, doch im Norden vollzogen sich ähnliche Entwicklungen.

DAS KOMMEN DES GERMANISCHEN MESSIAS

1932 war Hitler noch ein Jahr von der Kanzlerschaft entfernt, obwohl die NSDAP aus den Wahlen von 1930 als zweitstärkste Partei im Reichstag hervorgegangen war. Im Februar und März war wieder Wahlkampf; dieses Mal wollte er Reichspräsident werden. Es kam zu einer Stichwahl, und er reiste – unkonventionell und mit großem Erfolg – zu den Wahlveranstaltungen im Flugzeug an. Nie zuvor war ein Politiker im Wahlkampf geflogen. Wieder wurde die NSDAP zweitstärkste Partei, allerdings mit einem enormen Zuwachs an Stimmen. Bei Wahlveranstaltungen für die Reichstagswahlen im April sprach Hitler an 25 Orten im ganzen Land. Kershaw zitiert die Bemerkung einer Lehrerin nach einer solchen Veranstaltung mit 120 000 Menschen in Hamburg: „Wie viele sehen zu ihm auf in ergreifender Gläubigkeit als dem Helfer, Erretter, als dem Erlöser aus übergroßer Not.“

Der Völkische Beobachter schrieb über Hitlers Auftritt am 9. November 1935: „Statuenhaft steht er, der über das Maß des Irdischen bereits hinausgewachsen“ (Fest, Seite 697).

Dass nichts weiter von der Wahrheit entfernt sein konnte, zeigten die nächsten 13 Jahre.

Wie Mussolini sollte Hitler zur Machtergreifung aufgefordert werden. Nach langem Parteigerangel bat ihn Reichspräsident Paul von Hindenburg im Januar 1933, das Amt des Kanzlers zu übernehmen. Im Juli schloss der Führer sein eigenes Konkordat mit dem Vatikan, und im Juni 1934 traf er zum ersten Mal Mussolini.

Bald sollte über Deutschland, Italien und die Welt die furchtbarste Zeit in der modernen Geschichte hereinbrechen. Hiervon wird in der nächsten Ausgabe in „Messiasse! Herrscher und die Rolle der Religion“, Teil 8 die Rede sein.

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(TEIL 8)