Untergang der Diktatoren
Teil 7, „Herzen der Finsternis“, beschrieb den Aufstieg der beiden unheilvollsten Gestalten des 20. Jahrhunderts. Die Etablierung der totalen Macht vollzog sich zwar bei Hitler und Mussolini mit unterschiedlichem Tempo, doch beide Führer hatten schon jahrelang ähnliche messianische Ambitionen geäußert. Nach der Machtergreifung akzeptierten diese falschen Messiasse bereitwillig die Vergötterung durch ihre Anhänger.
VORIGES LESEN
(TEIL 7)
ZUR SERIE
Was Benito Mussolini in Italien drei Jahre gekostet hatte, erreichte Adolf Hitler in Deutschland innerhalb von drei Monaten. Das brutale Regime des Führers schien Anfang 1933 fast voll entwickelt anzukommen. Der Historiker Fritz Stern schreibt: „In neunzig Tagen war ein Einparteienstaat etabliert, und die Menschen waren der Rechte beraubt, die im Abendland seit Jahrhunderten als unveräußerlich gegolten hatten.“ Der Duce hatte seinen totalitären Staat dagegen nur allmählich durchgesetzt.
HEILIGE POLITIK
1922 wurde Mussolini das Amt des Premierministers angetragen. Er machte sich die bereits vorhandene Vorliebe der Italiener an einer Art politischen Religion, in der das Vaterland als göttlich gesehen wurde, zunutze und schwelgte in der Fantasie, sein Regierungssystem könne alle Nachkriegsprobleme Italiens lösen. Im Mittelpunkt seiner Lösung stand die Institutionalisierung einer faschistischen Religion. Von 1925 bis 1939 arbeiteten nacheinander vier Parteisekretäre daran, die quasireligiöse Ordnung mit dem Ziel des faschistischen „Neuen Menschen“ der überwiegend bereitwilligen italienischen Bevölkerung zu vermitteln.
Wie der Historiker Emilio Gentile schreibt, wirkte der Sekretär Roberto Farinacci (1925-26) „mit ,dominikanischem Glaubenseifer‘ daran mit, das Regime zu etablieren“. Sein Nachfolger Augusto Turati (1926-30) „predigte die Notwendigkeit, ,absolut zu glauben‘ – an den Faschismus, den Duce, die Revolution zu glauben, wie man an die Gottheit glauben würde“. In charakteristisch blinder Gefolgschaft erklärte Turati: „Wir akzeptieren die Revolution mit Stolz, wir akzeptieren diese Dogmen mit Stolz; selbst wenn uns bewiesen wird, dass sie falsch sind, akzeptieren wir sie ohne Diskussion.“ So überrascht es nicht, dass sein Katechismus des Faschismus von 1929 „die Unterwerfung aller unter den Willen eines Führers“ unterstreicht.
Parteisekretär Giovanni Giurati (1930-31) setzte sich dafür ein, dass die faschistische Jugendorganisation einen sowohl militanten als auch missionarischen Charakter annahm, in Einklang mit Mussolinis Diktat von 1930: „Glauben, gehorchen, kämpfen“. Die italienischen Faschisten glaubten, dass ihre Bewegung wichtige Merkmale der römisch-katholischen Kirche angenommen habe. Allerdings erklärte Carlo Scorza, der Sekretär der Faschistischen Jugend, im Jahr 1931, Sanftheit und Demut gehörten nicht zu diesen religiösen Merkmalen. Vielmehr habe Mussolinis Bewegung viel von der „großen Schule des Stolzes und der Unbeugsamkeit“ gelernt; Italiens Faschisten übernähmen die Methoden „jener großen und unvergänglichen Stützpfeiler der Kirche, ihrer großen Heiligen, Päpste, Bischöfe und Missionare: politischer und kriegerischer Geister, die sowohl mit dem Schwert als auch mit dem Kreuz vorgingen und ohne Unterschied den Scheiterhaufen und die Exkommunikation, Folter und Gift einsetzten – natürlich nicht im Streben nach weltlicher oder persönlicher Macht, sondern für die Macht und Herrlichkeit der Kirche.“
Mit der Ernennung Achille Staraces zum Parteisekretär (1931-39) erreichte Mussolinis Staatsreligion ihren Höhepunkt. Im Jahr 1936, schreibt Gentile, wurde die Faschistische Jugend angewiesen: „Habt immer Glauben. Mussolini hat euch euren Glauben gegeben. . . . Was immer der Duce sagt, ist wahr. Worte des Duce sind nicht anzufechten. . . . Sprecht jeden Morgen nach eurem Credo des Gottesglaubens euer ,Ich glaube an Mussolini‘.“
MUSSOLINI DER GÖTTLICHE
Der italienische Faschismus begann nicht mit dem Kult Mussolinis, doch hatte dieser schon zuvor als Sozialist und durch sein Eingreifen in das Kriegsgeschehen einen mythischen Status erreicht. Sein Aufstieg zur „Gottheit“ kam später, nach 1925, als die neue Bewegung Italien immer fester in den Griff bekam. Sobald der Faschismus fest als Religion etabliert war, konnte Mussolini den Anspruch erheben, zentraler Gegenstand ihres Kultes zu sein.
Gentile bezeichnet die Herrschaftsform des Duce als „totalitäres Cäsarentum“. Wie wir in dieser Serie gesehen haben, sind religiöse Gefühle durch viele der Cäsaren manipuliert worden, und etliche von ihnen wurden auch zu Göttern erhoben. Einige verlangten dies sogar zu Lebzeiten. So überrascht es nicht, wie der Historiker Gentile weiter ausführt, dass der Führerkult Mussolini mit den größten Kaisern Caesar und Augustus gleichsetzte. Piero Melograni zufolge glaubte Mussolini dies schließlich selbst und „behauptete, der Erbe, wenn nicht gar die tatsächliche Reinkarnation des Augustus zu sein“ („The Cult of the Duce in Mussolini’s Italy,“ Journal of Contemporary History, 1976).
Als wäre dies kein ausreichender Stammbaum, galt er darüber hinaus als gleichrangig mit Machiavelli, Napoleon, Sokrates, Platon, Mazzini, Garibaldi, Franz von Assisi, Christus und sogar Gott! Laut Gentile wurde Mussolini „Staatsmann, Gesetzgeber, Philosoph, Schriftsteller, Künstler, Universalgenie und Prophet, Messias, Apostel, unfehlbarer Lehrer, Gesandter Gottes, auserwählter Träger der Bestimmung – der Mann, den die Propheten des Risorgimento angekündigt hatten. . . .“ [Risorgimento ist die Epoche der „Wiedererstehung“ in der italienischen Geschichte (1815-70)]
„[Mussolini] ist ganz Held, strahlend wie die Sonne; das inspirierende und kreative Genie; der Führer, der erobert und fasziniert; Er ist die massive Gesamtheit von Mythos und Realität. . . . Die Revolution ist Er, Er ist die Revolution.“
Der wichtigste Förderer dieser Anbetung war, wie gesagt, Parteisekretär Starace. Er formalisierte den Kult, befahl sogar, das Wort Duce habe immer in Großbuchstaben zu erscheinen. Nach seiner Ernennung gab es keine Grenzen mehr für die Versuche, der Öffentlichkeit die institutionelle faschistische Religion aufzuoktroyieren. Der devote Journalist Asvero Gravelli verfasste salbungsvolle Zeilen voller Überschwang über den Duce, u.a.: „Gott und Geschichte bedeuten heute Mussolini.“ Es war jedoch nicht der Faschismus an sich oder irgendjemand seiner anderen Anführer, die so viele Italiener inspirierten. Wenn also Gentile eine anonyme Quelle zitiert „Faschismus ist eine Religion – eine Religion, die ihren Gott gefunden hat“, so geschieht dies, um die zentrale Bedeutung des Duce für die Anziehungskraft des Faschismus hervorzuheben. Es war die Person Mussolini selbst, die die Menschen anzog, nicht „der Glaube an die Werte und Dogmen der faschistischen Religion“. Gentile kommentiert dies mit dem wichtigen Gedanken, dass es zum Teil die Art der traditionellen italienischen Religiosität war, die die Anbetung Mussolinis so leicht möglich machte.
NÜTZLICHE RELIGION
Weiter nördlich, in Deutschland, beschleunigte sich eine ähnliche Verschmelzung von religiöser Inbrunst, Götzenanbetung und politischer Absicht, als Hitler an die Macht kam. Allerdings stand das religiöse Element bei den Nazis selten so auffallend im Vordergrund wie bei den italienischen Faschisten – bis heute ist die religiöse Komponente des Führerkults in Deutschland eher im Hintergrund geblieben.
Nachdem Reichspräsident Paul von Hindenburg ihn Ende Januar 1933 zum Kanzler ernannt hatte, etablierte der Führer rasch ein System autoritärer Kontrolle. Doch parallel zu seiner extremen Brutalität gegenüber jeder Opposition behauptete er weiterhin, traditionelle Werte und legale Mittel seien zentral für sein Handeln. Der Historiker Ian Kershaw bemerkt: „Sobald er Kanzler geworden war, wurde Hitlers Sprache betont ,messianisch‘ im Ton, und seine öffentlichen Reden waren häufig mit religiöser Symbolik gesättigt. Themen der Erneuerung und Sendung verknüpften religiöse Vorstellungen mit den politischen Absichten des Führers. In seiner ersten Rundfunkansprache als Kanzler erkannte er ,das Christentum als Basis unserer gesamten Moral‘ an und ,die Familie als Keimzelle unseres Volks- und Staatskörpers‘ und schloss mit einem Appell, den er später oft benutzte: Er bat, ,der allmächtige Gott‘ möge die Arbeit seiner Regierung ,segnen‘.
Wenige Tage später hielt Hitler bei einem Parteitag in Berlin eine Rede, die für eine Hörerschaft von schätzungsweise 20 Millionen Menschen live übertragen wurde, und schloss mit Elementen des Vaterunsers in der evangelischen Fassung. Er beschwor „das neue Deutsche Reich der Größe und der Ehre und der Kraft und der Herrlichkeit und der Gerechtigkeit. Amen!“
Einmal äußerte Hitler auch: „Wer den Nationalsozialismus nur als politische Bewegung versteht, weiß fast nichts von ihm. Es ist mehr noch als Religion: Er ist der Wille zur neuen Menschenschöpfung“ (Joachim C. Fest, Hitler: Eine Biographie,1987).
Bei aller zur Schau gestellten Religiosität war Hitlers Glaube ein ganz anderer als der der Kirchen. Doch irgendwie trennte er die atheistische Seite der Nazi-Philosophie mit Erfolg von dem persönlichen Glauben, zu dem er sich bekannte. So gelang es ihm lange, der Öffentlichkeit und vielen führenden Persönlichkeiten der Kirchen vorzugaukeln, dass Nazi-Aktionen gegen Christen lediglich Ausschreitungen einiger seiner Anhänger seien. Natürlich hatte Hitler erkannt, dass es verfrüht gewesen wäre, die katholische und die evangelische Kirche offen zu attackieren. Sein erstes Ziel war, die Juden zu vernichten und erst dann „,den verrotteten Ast‘ des Christentums“. Zunächst brauchte er den kirchlichen Rückhalt im Volk und wollte den politischen Katholizismus innerhalb des Staates unter Kontrolle halten.
So schloss er im Juni 1933 schlau, wie Mussolini vor ihm, ein Konkordat mit dem Vatikan. Gegner der Übereinkunft innerhalb der Partei beruhigte er, indem er ihnen privat sagte, er müsse „eine Atmosphäre der Harmonie in religiösen Angelegenheiten“ schaffen. Dementsprechend bemühte er sich, viele führende Kirchenmänner davon zu überzeugen, dass er ein aufrichtiger, gläubiger Christ sei. Noch 1936 schrieb der Münchner Kardinal Faulhaber in einer privaten Mitteilung: „Der Reichskanzler lebt ohne Zweifel im Glauben an Gott.“ Bei den evangelischen Kirchen war Hitler weniger erfolgreich, obwohl sogar hier viele führende Persönlichkeiten bereit waren, bei ihren Mitgliedern um Unterstützung für ihn zu werben.
GLAUBENSMISCHMASCH
Hitlers persönlicher Glaube war eine seltsame Mischung. Katholisch getauft und erzogen, hatte er sich offenbar Aspekte der heidnischen germanischen Religion und Verdrehungen des biblischen Glaubens zu eigen gemacht. Dem Vatikan-Experten Peter Godman zufolge „sah er sich als Erlöser. . . [und] behauptete, seine Bewegung habe den wahren Sinn des Neuen Testaments entdeckt. Das Alte Testament sei auszuschließen, da es ,semitisch‘ sei; Gottes Gesetz sei mit Rassismus zu identifizieren. Hitler stellte sich als den Propheten dieser Lehre dar, die durch die katholische Lehre pervertiert worden sei.“ Hitler sah die arische/nordische Rasse als höherwertig. Ihm zufolge war das Neue Testament über Jesus im Irrtum, denn er sei nicht Jude gewesen, sondern in Wirklichkeit nordischen Geblüts.
In seinem autobiografischen Buch Mein Kampf gab er seinen Antisemitismus zu erkennen und schrieb, „daß sich niemand zu wundern braucht, wenn in unserem Volke die Personifikation des Teufels als Sinnbild alles Bösen die leibhaftige Gestalt des Juden annimmt“. Dagegen solle der völkische deutsche Staat der Ehe „die Weihe jener Institution (…) geben, die berufen ist, Ebenbilder des Herrn zu zeugen“. Godman merkt an: „Durch die Dämonisierung der Juden heroisierte sich der Führer als Retter und Erlöser des arischen Blutes. Als christusartige Gestalt im Kampf des germanischen Volkes um Gut und Böse sprach der Hitler von Mein Kampf in apokalyptischen Tönen.“
Der Historiker Fest beschreibt, wie skrupellos Hitler bereits 11 Jahre vor der Machtergreifung biblische Beispiele für seine Zwecke verdrehte und missbrauchte: „Ohne Zögern griff er selbst zur blasphemischen Inanspruchnahme ,meines Herrn und Heilands‘ für seine antisemitischen Hassausbrüche: ,In grenzenloser Liebe lese ich als Christ und Mensch die Stelle durch, die uns verkündet, wie der Herr sich endlich aufraffte und zur Peitsche griff, um die Wucherer, das Nattern- und Ottergezücht hinauszutreiben aus dem Tempel! Seinen ungeheuren Kampf aber für diese Welt, gegen das jüdische Gift, den erkenne ich heute, nach zweitausend Jahren, in tiefer Ergriffenheit am gewaltigsten an der Tatsache, dass er dafür am Kreuz verbluten musste.‘“ (Auszug aus einer Rede Hitlers vom 12.4.1922)
HERRSCHAFTSSICHERUNG
Hitlers Chance, die Diktatur einzuführen, kam sehr bald nach seinem Amtsantritt. Und sie kam zufällig, nach einem Brandanschlag auf den Reichstag Ende Februar 1933. Die Tat entweder eines bulgarischen Kommunisten oder eines psychisch gestörten Holländers mit kommunistischen Verbindungen – die Historiker konnten sich bislang nicht einigen – war Grund genug für Hindenburg, dem Kanzler darin zuzustimmen, dass die Nation nun in großer Gefahr vom Bolschewismus sei. Infolgedessen unterzeichnete der Präsident unverzüglich die Verordnung zum Schutz von Volk und Staat, die bürgerliche Grundrechte suspendierte. Nun war die Verhaftung von „Verdächtigen“ ohne formelle Anklage oder Zugang zu einem Rechtsbeistand möglich. Obwohl damals weitgehend unerkannt, bildete dieser „demokratische“ Akt des Präsidenten die Rechtsgrundlage all des Terrors, der die Bewohner der von Deutschland kontrollierten Gebiete in der Nazizeit heimsuchte.
Doch Hitler ging noch weiter. Da er keine parlamentarische Mehrheit hatte, verlangte er vom Reichstag die Ermächtigung, Gesetze im Alleingang zu erlassen. Erstaunlicherweise stimmten die Parteien zu (mit den Sozialdemokraten als einziger Ausnahme) und gaben damit die Macht an den noch kooperativen Kanzler ab, der sich nun immer schneller der Stellung des allmächtigen Führers näherte. Bis März wurden in Bayern 10 000 Personen verhaftet – Kommunisten, Sozialisten und Demokraten – und in Dachau bei München das erste Konzentrationslager eröffnet. Bis April hatte die preußische Polizei weitere 25 000 Menschen verhaftet. Innerhalb der ersten sechs Monate nach Hitlers Amtsantritt folgten die Abschaffung der Gewerkschaften und das Verschwinden – freiwillig oder mit Gewalt erzwungen – aller anderen politischen Parteien.
SEELENVERWANDTE?
Im Juni 1934 erfolgte in Venedig die lang erwartete persönliche Begegnung von Hitler und Mussolini, die erste von 17. Es war Hitlers erste Auslandsreise als Führer. Er bewunderte den Duce seit Jahren, eiferte ihm nach, und in seinen persönlichen Räumen im Münchner Nazi-Hauptquartier, dem „Braunen Haus“, stand sogar eine lebensgroße Büste seines Helden. Aus Hitlers Sicht war Deutschland Italiens natürlicher Verbündeter und das Gegengewicht zu Italiens natürlichem Feind Frankreich.
Doch von der Begegnung in dem venezianischen Palazzo, der einst Napoleon gehört hatte, waren beide Seiten aus persönlichen Gründen enttäuscht. Hitler störten die dekadente Kunst der Stadt und ihre allgegenwärtigen Mücken, während Mussolini von den bombastischen Monologen des Führers gelangweilt war. Von größerer Bedeutung war, dass der Besuch die allmähliche Verschiebung ihres Verhältnisses einleitete. Von nun an sollte Hitler nicht mehr in der untergeordneten Position sein. Im Lauf der nächsten zehn Jahre trug diese Verschiebung erheblich zum Fall des Duce bei.
ABSOLUTE MACHT
Bald brachten zwei getrennte Ereignisse Deutschland vollständig unter Hitlers Kontrolle. Nach seiner Rückkehr von Venedig arrangierte er die „Nacht der langen Messer“. Ohne Skrupel gegenüber Herausforderern innerhalb der eigenen Partei ließ er die Führung der SA ermorden, darunter seinen früheren Münchner Landsmann Ernst Röhm. Als Nächstes wurden zwei deutsche Generäle und einige Juden hingerichtet. Heinrich Himmlers SS führte die gesamte Säuberung aus. Hitler erhielt für sein rechtzeitiges Einschreiten gegen das, was als eine weitere „Gefahr“ für die Nation dargestellt wurde, eine offizielle Danksagung von Hindenburg, doch bestehen Zweifel daran, dass der Reichspräsident sie persönlich sandte.
Das zweite Ereignis war der Tod des kranken Reichspräsidenten selbst im August. Ein hastig eingeführtes Gesetz hatte Hindenburgs Amt mit dem Hitlers verbunden, sodass der kaltblütige Kanzler mit dem Ableben des Veteranen zum Oberbefehlshaber der Reichswehr wurde. Der Vertreter der alten Garde war nicht mehr da, um Hitlers Ambitionen zu bremsen, und alsbald bestätigte die Reichswehr den Diktator durch einen Treueeid, obwohl er gerade erst zwei der Ihren beseitigt hatte.
VERGÖTTLICHUNG DES DIKTATORS
Bis September befürwortete praktisch ganz Deutschland Hitlers neue Machtbefugnisse als Staatsoberhaupt. Beim jährlichen Reichsparteitag in Nürnberg in jenem Monat huldigte die Partei treulich ihrem Führer. Kershaw bemerkt, dass Hitler, der in früheren Jahren im Mittelpunkt des Parteitags gestanden hatte, „nun turmhoch über seiner Bewegung stand, die gekommen war, um ihm Ehre zu erweisen“. Leni Riefenstahls berüchtigter Kultfilm zu diesem Anlass, Triumph des Willens (von Hitler in Auftrag gegeben und mit diesem Titel versehen), wurde bald in ganz Deutschland gezeigt. In der Eröffnungsszene schwebt das Flugzeug des Führers aus den Wolken herab und wirft einen kreuzförmigen Schatten auf marschierende Truppen unten auf der Straße. Der Historiker David Diephouse weist auf diese offensichtliche „Wiederkunftssymbolik“ und den „Ton eines penetranten Messianismus“ im gesamten Film hin. Am Ende sieht man den Stellvertreter des Führers, Rudolf Hess, der die mystische Einheit von Führer, Partei und Volk beschwört: „Die Partei ist Hitler, Hitler aber ist Deutschland, wie Deutschland Hitler ist. Hitler! Sieg Heil!“
Im März 1936 war der Führer offenbar schon überzeugt, nicht nur mit dem Volk in einer Art mystischer Beziehung zu stehen, sondern auch mit Gott. Es war ihm gelungen, das Rheinland zu Deutschland zurückzubringen, indem er, die Schwäche Frankreichs und die Passivität Englands nutzend, einfach in die entmilitarisierte Zone einmarschierte. Nun überkamen ihn Gefühle der Unfehlbarkeit. Als er im gleichen Monat zu einer Menschenmenge in München sprach, sagte er: „Ich gehe mit der Sicherheit eines Schlafwandlers entlang des Pfades, den mir die Vorsehung geebnet hat.“ Pseudoreligiöse Begriffe begannen seine Sprache zu beherrschen.
Diese Art von Sprache pflegte nicht nur Hitler. Propagandaminister Joseph Goebbels kommentierte die Rede seines Herrn bei der letzten Wahlkampfveranstaltung von 1936: „Man hatte das Gefühl, Deutschland sei in eine einzige, große Kirche verwandelt, die alle Stände, Berufe und Konfessionen umfasst, in die nun ihr Fürsprecher vor den hohen Sitz des Allmächtigen getreten ist, um Zeugnis zu geben für Wille und Tat.“ Goebbels selbst schien von Hitlers messianischen Ambitionen überzeugt. Im selben Wahlkampf behauptete er, in den Reden des Führers „Religion im tiefsten und geheimnisvollsten Wortsinn“ erlebt zu haben.
„Die Ausrufung Hitlers zu einer Art Messias, einer von Gott bestimmten Personifikation des deutschen Schicksals, war nicht nur ein Artikel des Nazi-Glaubens, sondern dessen notwendige Voraussetzung.“
Einige Monate später, beim September-Parteitag in Nürnberg, „strotzte seine Rede vor den Parteifunktionären vor messianischen Anspielungen“, wie Kershaw schreibt. In einer seiner typischen Reden am späten Abend (der Tageszeit, die er für wichtige Reden wählte) sagte Hitler zu der Menge: „Wie fühlen wir nicht wieder in dieser Stunde das Wunder, das uns zusammenführte! Ihr habt einst die Stimme eines Mannes vernommen, und sie schlug an eure Herzen, sie hat euch geweckt, und ihr seid dieser Stimme gefolgt. . . . Wenn wir uns hier treffen, dann erfüllt uns alle das Wundersame dieses Zusammenkommens. Nicht jeder von euch sieht mich und nicht jeden von euch sehe ich. Aber ich fühle euch und ihr fühlt mich! Es ist der Glaube an unser Volk, der uns kleine Menschen groß gemacht hat. . . . Ihr kommt aus der kleinen Welt eures täglichen Lebenskampfes und eures Kampfes für Deutschland und für unsere Nation, um einmal dieses Gefühl zu erleben: Jetzt sind wir zusammen, wir sind bei ihm und er ist bei uns, und jetzt sind wir Deutschland!“
Zwei Tage danach bediente sich Hitler erneut messianischer Anspielungen, indem er seinen Zuhörern erklärte: „Das ist das Wunder unserer Zeit, dass ihr mich gefunden habt . . . unter so vielen Millionen. Und dass ich euch gefunden habe, das ist Deutschlands Glück!“
Seit seiner Ernennung zum Kanzler war Hitler ganz in der Innenpolitik aufgegangen. Nun, da er den Einparteienstaat etabliert, seine Herausforderer aus der eigenen Nazipartei aus dem Weg geräumt, einen Wirtschaftsaufschwung in Gang gebracht und das Rheinland heim ins Reich gebracht hatte, konnte er sich der Eroberung der Welt widmen.
(Eine interessante Expertendiskussion über den Holocaust finden Sie unter „Endlösungen“ in der Ausgabe Winter 2006.)
IMPERIALE TRÄUME ITALIENISCHER ART
Weiter im Süden hatte der Duce solche Ambitionen schon seit Langem gehegt. Mussolini hatte schon seit vielen Jahren darüber gegrübelt, das Römische Reich zu erneuern. Eine Chance bot Äthiopien, eingeklemmt zwischen den beiden italienischen Kolonien Eritrea und Somaliland am Horn von Afrika. Ende 1934 schrieb er, nun sei Gewalt notwendig, um die festgefahrene diplomatische Situation aufzulösen. Ein Jahr später besiegten italienische Truppen die armselig bewaffneten Äthiopier mit Giftgasbomben. Nun konnte der Duce grandios erklären: „Italien hat endlich sein Imperium. . . . Es ist eine faschistische Herrschaft, eine Herrschaft des Friedens, eine Herrschaft der Zivilisation und Menschlichkeit.“ Wohl kaum. Bald versanken die neuen Kolonien in Africa Orientale Italiana (AOI) in Verschwendung, Korruption und Ineffizienz; ihre Entfernung vom Mutterland war eine ständige Herausforderung.
In Italien wurde dem „göttlichen“ Führer dennoch grenzenlose Verehrung für die „Eroberung“ zuteil, wie der Historiker Richard Bosworth berichtet. Der Journalist Gravelli schrieb ein Buch, in dem er die Spiritualität des Duce mit den Worten hervorhob: „Homer, der Göttliche in der Kunst; Jesus, der Göttliche im Leben; Mussolini, der Göttliche in der Tat.“ Auch sei „sein Lächeln wie ein Strahl des Sonnengottes, erwartet und ersehnt, weil er Gesundheit und Leben bringt“. „Mit wem ist er vergleichbar? Mit niemandem. Schon der Vergleich mit Politikern aus anderen Landen setzt Ihn [sic ] herab.“ Bosworth zitiert einen anderen Propagandisten mit den Worten: „Ihn anzusehen, war wie die Sonne anzusehen; man konnte nicht den Mann sehen, sondern ,eine immense Flut strahlender Schwingungen vom Äther‘.“
DIE ACHSE
Im November 1936 prägte Mussolini den Namen, unter dem die Alliierten des Zweiten Weltkriegs ihre faschistischen Feinde kennen lernen sollten. In einer Rede in Mailand sagte er, die Beziehung zwischen Italien und Deutschland sei „eine Achse, um die alle europäischen Staaten, beseelt von einem Wunsch nach Zusammenarbeit und Frieden, sich drehen können“. Mussolini dachte dabei, er und Hitler würden das europäische Festland untereinander aufteilen. Die Nazis hatten ihm einen Besuch in Deutschland vorgeschlagen, und er hoffte, sein Aufenthalt werde ein Signal sein, „nicht nur für die Solidarität zwischen den beiden Regimen, sondern auch für eine gemeinsame Politik der beiden Staaten, die klar nach Osten und Westen, Süden und Norden vorgezeichnet werden muss“. Damit meinte er offenbar, Italien werde den Mittelmeerraum übernehmen, und Deutschland würde sich auf Osteuropa und den Ostseeraum konzentrieren.
Im Sommer 1937 spielten die Faschisten vor Sizilien Krieg, und der Duce nahm dies zum Anlass, die Region zu besuchen. Inzwischen hatte die religiöse Inbrunst stratosphärische Höhen erreicht. Wie Gentile berichtet, erklärte ein verzückter Einheimischer voll Vorfreude: „Wir erwarten unseren Vater, den Messias. Er kommt, seine Herde zu besuchen, mit Glauben zu erfüllen. . . .“
Ende September machte Mussolini seinen ersten Staatsbesuch in Deutschland. Bosworth berichtet, dass der Duce vor 800 000 Zuhörern in Berlin verkündete, der Faschismus und der Nationalsozialismus seien „die größten und wahrhaftigsten Demokratien, die in der heutigen Welt existieren“. Diesen Widerspruch verdoppelte er nach seiner Rückkehr: Er begann darüber nachzudenken, den Rassismus in seine politische Plattform einzubauen. Dieser Gedanke gewann in den kommenden Monaten an Bedeutung, als Hitlers Ruhm für sein entschiedenes Handeln begann, Mussolinis Status als erster Führer des Faschismus zu überstrahlen.
Als Hitler im März 1938 in Österreich einfiel und es (unter dem Beifall eines erheblichen Teiles der Bevölkerung) zum Anschluss an Deutschland zwang, akzeptierte Italien diesen Überfall. Dies brachte den Duce bei einigen seiner eigenen Leute in Misskredit, und manche Forscher halten es für das Ende der italienischen Unabhängigkeit von Hitler.
Um seine Rolle innerhalb des Staates aufzuwerten, hatte Mussolini sich zum „Ersten Reichsmarschall“ erklärt und den König als alleinigen Befehlshaber des Militärs in Kriegszeiten verdrängt. Doch als der Führer im Mai zum zweiten Mal Italien besuchte, musste laut Protokoll der König (als Staatsoberhaupt) und nicht der Premierminister mit ihm reiten. Dies verstärkte in der Öffentlichkeit den Eindruck, Mussolini sei der zweite Mann nach Hitler. Die erste Stimme des Faschismus sollte bald die zweite Geige spielen.
Der Duce spürte die Wende, und in dem verzweifelten Versuch, mit der Nazipolitik Schritt zu halten, führte er verschiedene rassenpolitische Maßnahmen ein, die sich speziell auf Juden bezogen. Mussolini erklärte, wahre Italiener seien arischen Geblüts, und schloss sich dem virulenten Antisemitismus an, den er zuvor als „wissenschaftsfeindliches Geschwafel“ der Nazis bezeichnet hatte. Dies war ein Beispiel nackten Nützlichkeitsdenkens mit entsetzlichen Folgen. Die Italiener erlebten, wie ihre Landsleute jüdischer oder sonstiger „nichtarischer“ Abstammung daran gehindert wurden, „arische“ Italiener zu heiraten; im Jahr 1943 wurden 8500 Juden aus Italien in österreichische Todeslager verschleppt.
Im Februar 1939 unterzeichneten Italien und Deutschland ein neues Handelsabkommen, in dem vereinbart wurde, 500 000 italienische Gastarbeiter in der deutschen Industrie einzusetzen. Der Morast der Anpassung wurde immer tiefer. Im Mai kam das militärische Bündnis, das als „Stahlpakt“ bezeichnet wird. Doch obwohl Mussolini wusste, dass ein Krieg in Europa unausweichlich war, stellte er sich gegen eine sofortige Kriegserklärung. Er hätte sie gern bis 1942 hinausgezögert, um Italien Zeit zu geben, seine jammervoll unzulänglichen Truppen zu stärken. Als er Hitler im März 1940 an der deutschen Grenze am Brenner traf, konnte der Duce sich nicht zum Kriegseintritt entschließen. Doch im Juni witterte er eine Chance auf einen Anteil an der Beute und den Gewinn französischen Territoriums an der italienischen Grenze; so beteiligte er sich zögerlich an Hitlers bereits erfolgreicher Invasion in Frankreich.
Später im gleichen Jahr brachten fruchtlose militärische Abenteuer in Griechenland den Duce trotzdem auf einen Weg, der abwärts führte, bis er 1944 aus Rom vertrieben wurde, als die Alliierten nach der Eroberung Siziliens nordwärts zogen und der König ihn seines Amtes enthob.
NIEDERGANG UND TOD
Im April 1945 entdeckten Partisanen den Duce – „Großkopf“, wie sie ihn abfällig nannten – hinten in einem Lastwagen, als er über die Schweiz nach Deutschland flüchten wollte. Nach seiner Festnahme wurde er ohne weitere Umstände von einem Exekutionskommando erschossen und seine Leiche in Mailand zur Schau gestellt, wo sie von einstigen Anhängern bespuckt wurde. In den Tagen vor seinem Tod hatte er einem alten Freund bekannt, dass alles verloren war. Doch seinen messianischen Wahn gab er nicht auf: „Ich werde von meinem Schicksal gekreuzigt. Es kommt.“
Zwischen Bomben und Bränden in seinem Berliner Bunker erfuhr Hitler vom Tod des Duce. Zwei Tage später plante er, schwankend zwischen Verzweiflung und der Hoffnung, dass seine Truppen doch noch den russischen Vormarsch durchbrechen und ihn retten würden, seine letzte Zerstörungstat. Mit dem Blut von sechs Millionen Menschen an den Händen und gleichgültig gegenüber dem Leid des deutschen Volkes machte sich einer der meistgehassten Menschen der Geschichte bereit für den Selbstmord.
Es gab viele Parallelen zwischen Mussolini und Hitler: Elemente ihrer Kindheit, der Erste Weltkrieg, Enttäuschung über die Nachkriegsentwicklungen in ihren Ländern, eine rechtsradikale Politik, antikommunistische Überzeugungen, Brutalität, Größenwahn. Natürlich inspirierte Mussolini den Führer, wie dieser bekannte – war er doch ein Jahrzehnt früher an die Macht gekommen. Doch mit der Zeit wurde Mussolini zu seinem Schmerz von seinem Bewunderer überstrahlt. Die vielleicht aufschlussreichste Ähnlichkeit war der enorme Stolz, mit dem beide ihren Weg verfolgten. Kershaw gab dem ersten Band seiner Hitler-Biografie den Untertitel Hubris [Anmaßung]. Den zweiten Band benannte er nach der griechischen Göttin der Vergeltung, Nemesis, wegen der unausweichlichen Folgen übersteigerten Stolzes. Diese Worte passen gewiss auch zu Mussolinis Lebensgeschichte.
Nach dem Sturz des Duce schrieb der Parteisekretär Giovanni Giurati, er habe geglaubt, Mussolini sei „der Mann, der bestimmt war, Dantes Gedanken mit Leben zu erfüllen: dass die beiden großen Symbole, der Adler und das Kreuz, in Rom wieder vereint würden und dass moralische und gesellschaftliche Unordnung, Irrglaube und Krieg in die Flucht geschlagen würden, nicht nur aus Italien, sondern aus der ganzen Welt“.
Wie Kershaw bemerkt, brachten auch Hitlers Anhänger „echten Glauben an seine Macht“ zum Ausdruck. Er zitiert den einstigen Reichsjugendführer Baldur von Schirach: „Diese grenzenlose, fast religiöse Verehrung, zu der ich ebenso beitrug wie Goebbels, Göring, Hess, Ley und zahllose andere, verstärkte in Hitler selbst den Glauben, er sei mit der Vorsehung im Bunde.“
Sowohl Mussolini als auch Hitler versuchten und scheiterten daran, eine Art universaler menschlicher Messias zu werden. Derartige Ambitionen haben wir über Jahrtausende hinweg untersucht – auf der menschlichen Ebene ist dies niemals möglich. In der nächsten Ausgabe geht es darum, was wir aus diesen Tausenden von Jahren gescheiterter Messiasse lernen können.
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(TEIL 9)