Neurogenese: neu denken lernen

Im 20. Jahrhundert vertraten führende Naturwissen-schaftler meist die Theorie, dass sich Hirnzellen nicht wie andere Körperzellen teilen. Die generelle Lehrmeinung besagte, nach der frühesten Kindheit könnten sich keine neuen Neuronen im Gehirn bilden. Ein angesehener Vertreter dieser Theorie war Pasko Rakic, der Leiter des Neurobiology Department an der Universität Yale, den seine Forschung in den frühen 80er-Jahren zu dem Schluss brachte, dass sich im Gehirn erwachsener Primaten keine neuen Neuronen bildeten. 

Im Licht jüngster Forschungsergebnisse haben allerdings viele Neurowissenschaftler umgedacht – auch Rakic. 

Die Psychologieprofessorin Elizabeth Gould von der Universität Princeton untersuchte die Schädigung der Gehirne von Ratten und Primaten durch chronischen Stress und fand dabei unerklärliche Indizien für die Fähigkeit des Gehirns zur Selbstheilung durch die Bildung neuer Neuronen – einen Prozess, der als Neurogenese bezeichnet wird. 

Frau Gould konnte nachweisen, dass die Mechanismen des Gehirns Umwelteinflüssen unterliegen. In einem Kommentar über ihre Arbeit mit dem Titel „The Reinvention of the Self“ für die Zeitschrift Seed (Februar-März 2006) verwendet Jonah Lehrer den Begriff „environ-mental conditions“ [Umwelt-Denkbedingungen]. Er beschreibt Frau Goulds Entdeckungen: „Die Struktur unseres Gehirns, von den Details unserer Dendriten bis zur Dichte unseres Hippocampus, wird unglaublicherweise durch unsere Umgebung beeinflusst. Setzt man einen Primaten Dauerstress aus, beginnt sein Gehirn zu verkümmern. Es stellt die Bildung neuer Zellen ein. Die Zellen, die es bereits hat, ziehen sich nach innen zurück. Die Denkfähigkeit wird entstellt.“ 

Wenn die Struktur des Gehirns durch stressvolle oder negative Umweltbedingungen geschädigt wird, können positive Kräfte seine Funktionen dann verbessern, gar heilen? Wie Lehrer aufzeigt, ist diese hoch aktuelle Untersuchung der Neurogenese von enormer sozialer Tragweite. 

DIE ERFORSCHUNG DER DEPRESSION 

Ronald Duman, Professor für Psychiatrie und Pharmakologie an der Universität Yale und Depressionforscher, untersucht die molekularen und zellulären Veränderungen, die durch Stress, aber auch durch Antidepressiva verursacht werden. In einem Bericht, der 2001 im Journal of Pharmacology and Experimental Therapeutics erschien, kam auch er zu dem Schluss: „Verringerte Zellvermehrung ist als Reaktion auf Stress zu sehen.“ Darüber hinaus merkte er an: „Medikamente sowie Hormone und Wachstumsfaktoren können die Zellvermehrung regulieren.“ 

Ihm zufolge ist jedoch fraglich, ob Serotoninmangel die eigentliche Ursache der Depression ist – eine Annahme, auf der die Wissenschaft hinter den Antidepressiva beruht. In einem Artikel mit dem Titel „Antidepressants and Neuroplasticity“ in der Zeitschrift Bipolar Disorders vom Juni 2002 vertraten Duman und seine Kollegin Carrol D’Sa die Ansicht, ihren Untersuchungen zufolge seien Antidepressiva nicht deshalb wirksam, weil sie den Serotoninspiegel anheben (was zu einer unmittelbaren Linderung der Symptome der Depression führen müsste, es aber nicht tut), sondern weil sie die Bildung trophischer Faktoren fördert – Proteine, die zur Neurogenese führen. Mit anderen Worten: Die Medikamente fördern das Wachstum neuer Zellen; dies wiederum erhöht die Plastizität des Gehirns, d.h. seine Anpassungs- und somit Bewältigungsfähigkeit. 

Dumans Arbeit verändert die heutige Sicht der Neurowissenschaft auf die Depression. Zudem hat sie weitere Untersuchungen der Zusammenhänge zwischen Neurogenese, Depression und Stress angeregt. In einer Studie trennten Frau Gould und ihr Team neugeborene Ratten entweder 15 Minuten oder drei Stunden täglich von ihren Müttern und setzten sie damit einem hohen Maß an Stress aus. Über die länger abgesonderten Ratten berichten sie: „Unsere Ergebnisse legen nahe, dass die frühe negative Erfahrung die strukturelle Plastizität beeinträchtigt . . . und die Fähigkeit des Hippocampus zur Stressbewältigung im Erwachsenenalter vermindert“ (Nature Neuroscience, August 2004). Mit anderen Worten: Die Ratten erlangten nie ihre Fähigkeit zurück, ein hohes Maß an Stress – wie in diesem Fall die frühe Absonderung von ihrer Mutter – zu verkraften. Chronischer Stress schwächt die Dendriten, behindert die Zellneubildung und atrophiert den Hippocampus, ein Gehirnareal, das für Lernen und Gedächtnis zuständig ist und auch bei Verstimmungen eine Rolle spielt. Der Zugang zu einem erwachsenen, versorgenden Tier hingegen trug direkt zur Entwicklung einer gesunden Struktur und Funktion des Gehirns bei. 

Lehrer meint: „Neurogenese ist eine optimistische Vorstellung.“ Doch Frau Goulds Team, das gezeigt hat, dass Deprivation und Stress negative und lang anhaltende Folgen haben, führt derzeit den Nachweis, dass „das Gehirn sich selbst heilen kann wie die Haut“. Wie Lehrer anmerkt, findet sie nun „viel versprechende Mittel gegen Neurogenese-hemmende Schädigungen. ,Ich glaube, dass viele dieser [stressbedingten] Anomalien im Erwachsenenalter reparabel sind‘, sagt sie. ,Ich glaube, es gibt sehr viele Beweise für die Selbstheilungskraft des Gehirns‘.“ 

DER ZUSAMMENHANG 

In einer anderen Studie untersuchten Frau Gould und ihre Mitarbeiter die Gehirne erwachsener Krallenaffen. Einige von ihnen waren in großen Gehegen mit natürlicher Vegetation und der Möglichkeit zum Herumstreifen gehalten worden, andere dagegen in Standard-Laborkäfigen. Als das Team die Gehirne der Tiere beider Gruppen verglich, fanden sich „dramatische Unterschiede in der strukturellen Plastizität“.Die an den komplexeren Lebensraum gewöhnten Krallenaffen hatten, wie sich zeigte, nicht nur mehr Verbindungen zwischen Neuronen, sondern auch eine höhere Neurogenese als die anderen, die in nackten Laborkäfigen gelebt hatten. Als die in Käfigen gehaltenen Affen von ihrer tristen Umgebung in das natürlichere, reichere Gehege versetzt wurden, reagierten sie mit chemischen Veränderungen im Gehirn: Die Bildung neuer Hirnzellen beschleunigte sich. 

Ich denke, die Tatsache, dass so viele Neuronen gebildet werden, . . . legt die Vermutung nahe, dass sie eine wichtige Funktion haben müssen, denn es wäre nicht sinnvoll, dass das Gehirn so viel Energie aufwendet, um diese neuen Zellen zu produzieren, wenn sie nicht gebraucht würden.“

Elizabeth Gould 2002 bei der Jahrestagund der AMERICAN PSYCHOLOGICAL ASSOCIATION (APA), Zitiert IN APA, Monitor on Psychology 

Die Forschung in diesem faszinierenden Bereich geht weiter, und viel bleibt noch zu entdecken. Doch wenn nachgewiesen werden kann, dass verschiedene Arten der Deprivation eine Verschlechterung der Dendriten im Gehirn verursachen, würde dann nicht eine Umgebung, die um Güte, Fürsorge und Liebe reicher ist, auch zum Aufbau oder zur Wiederherstellung eines gesunden Gehirns beitragen? 

Sind wir nicht dabei, zu entdecken, dass wir unsere Denkfähigkeit tatsächlich verändern, neu denken lernen können? Die Neurowissenschaft könnte hier auf einige geistige Wahrheiten stoßen: Die positive Macht der Liebe und Fürsorge, die wir nach dem Willen des Schöpfergottes erleben und vorleben sollen, könnte tatsächlich das menschliche Gehirn wiederherstellen. 

Bedenkenswert ist auch, dass die Hebräische Heilige Schrift und die apostolischen Schriften immer wieder Menschen aufrufen, ihre schädlichen Einstellungen und Taten zu bereuen und umzukehren. Geht es Menschen, die umkehren, körperlich und geistig besser? 

Das scheint allerdings die Botschaft des Paulus zu sein, wenn er in Römer 12, 2 schreibt: „… ändert euch durch Erneuerung eures Sinnes!“