„Sozial“ im Netz
Wann immer eine neue Technik zu einem wesentlichen Bestandteil des menschlichen Lebens wird, mögen wir uns mit Recht fragen, ob sie nicht nur unsere Lebensweise, sondern auch uns selbst verändern wird.
Als z. B. das Telefon aufkam, gab es Bedenken hinsichtlich seiner potenziellen Auswirkungen auf das gesellschaftliche wie auch das private Leben. Würde es die Menschen fauler machen? Eine schnelllebigere Gesellschaft zur Folge haben? Würde es das Familienleben stören oder persönliche Besuche verhindern? Manche Beobachter sind zu dem Schluss gekommen, dass diese frühen sozialen Bedenken zumindest teilweise berechtigt waren. Das Telefon, meinten sie, habe Menschen vielleicht in einer Weise verbunden, aber auch „eine spürbare Leere“ geschaffen, „über die hinweg Stimmen seltsam körperlos und fern klangen“ (Stephen Kern, The Culture of Time and Space, 1880-1918).
„Würden Sie in ein Büro oder an eine Wohnungstür stürzen und als erstes sagen: ,Hallo! Hallo! Mit wem spreche ich?‘ Nein, man eröffnet ein Gespräch lieber mit Formulierungen wie dieser: ,Mein Name ist Wood, Firma Curtis und Söhne; ich möchte Herrn White sprechen‘[...] ohne unnötige und unwürdige ,Hallos‘.“
Ob das Telefon wirklich ein Gefühl emotionaler Distanz geschaffen hat oder nicht – diese Bedenken sind geblieben, ebenso wie Fragen, ob dieses neue soziale Medium Lücken in der persönlichen Sicherheit bewirken könnte. Laut einer „Sozialgeschichte des Telefons“ wurde es in mehrfacher Hinsicht als problematisch für die Privatsphäre empfunden: „Anrufe kommen ungebeten; durch Hintergrundgeräusche bekommt der Anrufer Intimitäten des Haushalts mit; die Angerufenen können sich nicht auf das Gespräch vorbereiten oder nachdenken wie bei Briefen; die Stimmen der Anrufer sind körperlos, ohne räumlichen Kontext.“ (Claude S. Fischer, America Calling)
VOM TELEFON ZU FACEBOOK
Heute bereitet uns das Internet fast die gleichen Sorgen, besonders in den letzten zehn Jahren, seit ein breites Angebot an sozialen Netzen und anderen Formen sozialer Medien aufgekommen ist. Machen uns Onlinesozialnetze faul? Sind sie ein unkontrollierbares Risiko für unsere Privatsphäre? Stören sie unsere Beziehungen und bewirken sie eine grundlegende Veränderung dessen, was Vertrautheit und Nähe bedeuten?
In seinem Buch, das ein entschieden antiutopisches Bild von der Technologie sozialer Medien zeichnet, schreibt die Psychoanalytikern Sherry Turkle: „Technologie ist verführerisch, wenn sie anbietet, was zu unseren menschlichen Schwachstellen passt.“ (Alone Together) Ähnlich wie andere über das Telefon, schreibt sie: „Unser vernetztes Leben erlaubt es, uns voreinander zu verstecken, während wir miteinander verbunden sind.“ Und in solchem Verbundensein aufzuwachsen, „verführt zu narzisstischen Beziehungen“.
Dem würden viele zustimmen, und gewiss herrscht in der Onlinekommunikation kein erkennbarer Mangel an narzisstischem Verhalten. Aber ist es „unser vernetztes Leben“, das uns dazu verführt? Und ist dieser Narzissmus eine Neuheit des Internetzeitalters? Alex Lambert, der die Neuen Medien erforscht, führt Argumente dieser Art auf eine falsche Dichotomie zurück – ein etwas simples Schwarz-Weiß-Konstrukt, das es uns erspart, den Autopilotmodus des Gehirns abzuschalten, um uns mit Nuancen oder Komplexität auseinanderzusetzen. Diejenigen, die Narzissmus als besonderen Bettgenossen sozialer Netze sähen, so meint er, verstünden das Leben als Gegensatz von „privat“ und „öffentlich“; sie glaubten, enge Beziehungen könne man nur durch private Kommunikation pflegen. Nur Menschen, mit denen wir tatsächlich eng vertraut sind, könnten wirklich Freunde genannt werden; und da wir nur mit einer Handvoll Menschen eng vertraut sein können, seien die Bekannten, aus denen unsere „Communities“ (Onlinegemeinschaften) bestehen, nicht wirklich Freunde. „Öffentliche Freundschaft“ werde als Widerspruch in sich gesehen, schreibt Lambert, und das führe zu grob vereinfachenden Schlüssen darüber, ob öffentliche Plattformen für soziale Beziehungen in sich gut oder schlecht seien. Menschen, die große Netze öffentlicher Beziehungen haben, müssten demzufolge narzisstisch sein oder das Konzept einer echten Freundschaft nicht verstehen.
Dagegen wendet Lambert ein: „Gibt es nur entweder private Vertrautheit oder öffentliche Allgemeinheit? Nichts dazwischen? Können wir nuancenreichere, kontextuellere, facettenreichere Vorstellungen von öffentlichen sozialen Netzen entdecken, die vielleicht über diese beschränkte Dichotomie hinausgehen?“
Natürlich ist Schwarz-Weiß-Malerei nicht nur bei Sozialkritikern zu finden. Wir alle praktizieren sie fast selbstverständlich im Alltag. Wer nicht glücklich ist, muss traurig sein; wer nicht extrovertiert ist, muss introvertiert sein. Wer nicht satt ist, muss noch hungrig sein.
„Entgifte dein Leben – weg mit falschen Freunden, Sackgassenjobs und Spielern, die als Lebenspartner posieren“, riet ein Post, der kürzlich auf Facebook zirkulierte. „Neutrale Leute gibt es nicht“, kommentierte der Autor; „entweder bringen sie dich weiter, oder sie bremsen dich aus!“
„Soziale Netze [...] sind immer da; sie beeinflussen unsere Entscheidungen, unser Handeln, Denken, Fühlen, selbst unsere Wünsche auf gleichzeitig subtile und dramatische Weise.“
Oberflächlich betrachtet sieht das vollkommen vernünftig aus, denn es strotzt vor genau der Art Schwarz-Weiß-Malerei, die die automatischen Prozesse des Gehirns anspricht. Es ist einfach, davon auszugehen, dass jemand, der kein enger Freund ist, nicht so toll sein kann. Oder dass wir, wenn es bei der Arbeit oder in Beziehungen schwierig wird, nur die Möglichkeit haben uns zu entfernen, um etwas Besseres zu suchen.
Wer nur einen Moment nachdenkt, sieht, dass beide Annahmen falsch sind, ebenso wie die Annahme, es könne keine Menschen geben, die in unserem Leben eine neutrale Rolle spielen. Die Annahme, die Leute in meinem sozialen Netz könnten mich nur weiterbringen oder ausbremsen, setzt natürlich voraus, dass ich mich ausschließlich darauf konzentriere, wie sie sich auf meine Ziele auswirken – übrigens eine Sichtweise, die nach Narzissmus riecht, obgleich dazu aufgerufen wird, öffentliche Freundschaften einzuschränken, statt sie zu sammeln. Es gibt gute Gründe, etwas für die Verbesserung von Kommunikationsmustern zu Hause oder bei der Arbeit zu tun, ehe man sich davon entfernt; ebenso spricht einiges dafür, Menschen, die mich mehr brauchen als ich sie, Unterstützung und Freundschaft zu geben. Wie uns Soziologen seit Jahrzehnten sagen, haben lockere und selbst latente soziale Kontakte Vorteile, die wenig mit dem zu tun haben, was sie uns bei oberflächlicher Betrachtung einzubringen scheinen. Latente Kontakte können z. B. das „soziale Brückenkapital“ erhöhen, wie es in der Forschung heißt, und uns mit Menschen in Verbindung bringen, die bei einem Arbeitsplatzwechsel helfen können oder Informationen haben, die in unserem Netz engerer sozialer Bindungen noch nicht bekannt sind. Und wir können im Gegenzug ähnliche Vorteile bewirken.
UMGANG MIT NEUEN MEDIEN
Dass wir anfällig für falsche Dichotomien, breiige Ethik und einen narzisstischen Umgang mit Beziehungen sind, gehört unausweichlich zum Menschsein. Wenn also diese und andere Fallen im Übermaß im Internet vorkommen, liegt es wahrscheinlich daran, dass sie schon offline im Übermaß vorkommen – als Nebeneffekt des Menschseins.
Dieser Möglichkeit will Fischer Geltung verschaffen; er widerspricht einem gewissen „technologischen Determinismus“, der davon ausgeht, dass die Merkmale von Gegenständen wie Autos und Telefonen auf ihre Nutzer übergehen. Fischer zeigt auf, dass diese Argumentation den Glauben voraussetzt, eine Metapher sei plötzlich lebendig geworden. Ja, es ist möglich, dass das Hereinplatzen eines Anrufs in die „heilige Ruhe“ der Privatwohnung ein Gefühl von Dringlichkeit, Ängstlichkeit und Hilflosigkeit auslöst. Aber „das Telefon könnte auch der Ruhe förderlich sein, denn Anrufe geben uns Sicherheit, dass unsere Verabredungen stehen oder unsere Lieben in Sicherheit sind“.
Natürlich gibt es Zeiten, in denen drängendes Telefonklingeln tatsächlich die Privatsphäre stört, doch die Mediensoziologin Deborah Chambers weist darauf hin, dass das Hinzukommen Neuer Medien mehr Kontrolle gebracht hat: Nun hat man die Möglichkeit, über zunächst weniger anspruchsvolle Kommunikationsformen zu engerer Verbundenheit zu kommen. Nachrichten per SMS, Facebook u. Ä. hätten einen Aspekt der Rücksicht und Unaufdringlichkeit, schreibt sie; so könnten Nutzer für ein Telefongespräch einen Zeitpunkt verabreden, der beiden Beteiligten passt. Außerdem, so Chambers, würden für unterschiedliche soziale Zwecke jeweils andere Medien genutzt; das ermögliche es, feinere Unterschiede zu machen, wenn man entscheidet, ob und wann man jemandem Zugang zu vertrauterer Kommunikation erlaubt.
Trotz alledem ist sicher, dass die Neuen Medien mit Herausforderungen der Kontrollierbarkeit einhergehen – z. B. im Zusammenhang mit unserer Privatsphäre oder mit angemessenem Verhalten gegenüber anderen Menschen. Jedes neue Medium konfrontiert uns mit der Notwendigkeit, dazuzulernen, um neue Herausforderungen in den Griff zu bekommen. Oft geschieht dies durch neue Etiketteregeln, die mit der Zeit entwickelt werden, wenn sich die Herausforderungen zeigen. Wenn es so weit ist, kommen wir allerdings nicht um die Erkenntnis herum, dass es sich um nichts wirklich Neues handelt. Man muss in den folgenden Aussagen, die Fischer zitiert, nur Telefon durch Internet ersetzen, um dies deutlich zu verstehen.
„Dr. Jekyll und Mr. Hyde am Telefon“, begann 1910 eine Anzeige der Telefongesellschaft Bell. Sie schloss: „Durch das wunderbare Wachstum des Bell-Systems ist der Gebrauch des Telefons allgegenwärtig und sein Missbrauch zu einer gesellschaftlichen Besorgnis geworden.“
„Ich glaube an die goldene Regel und werde mich bemühen, am Telefon so höflich und rücksichtsvoll zu sein wie im persönlichen Gespräch“, lautete das „Telefongelöbnis“, das Bell in Umlauf brachte.
So gut lässt sich vielleicht nicht jede Etiketteregel von einem Medium auf das andere übertragen („Sprechen Sie direkt in das Mundstück und halten Sie den Schnurrbart aus der Öffnung heraus“, empfahl ein Benutzerhandbuch für ein Telefon.); aber das Wesentliche ändert sich nicht merklich. Die goldene Regel – das biblische Prinzip, anderen die gleiche Behandlung angedeihen zu lassen, die wir selbst erwarten – bleibt entscheidend für einen erfolgreichen Umgang mit jedem neuen sozialen Medium.
„Den meisten von uns ist der direkte Einfluss, den wir auf Freunde und Familie haben, schon bewusst; unser Handeln kann sie glücklich oder traurig, gesund oder krank, sogar reich oder arm machen. Doch wir bedenken selten, dass alles, was wir denken, fühlen, tun oder sagen, sich verbreiten kann – weit über die Menschen hinaus, die wir kennen.“
Natürlich wird es gerade hier oft schwierig. Die soziale Logik des jeweiligen medialen Raums, in dem wir kommunizieren, ist nicht immer unmittelbar ersichtlich. Wie wird ein Medium genutzt und welchen Platz kann es in unserem sozialen Leben einnehmen? Wie öffentlich oder privat wird es sein? Dies ist ganz entscheidend dafür, wie wir es nutzen. So, wie wir uns in einem Restaurant oder auf einem öffentlichen Platz logischerweise zurückhaltender äußern als vielleicht mit engen Freunden im eigenen Zuhause, müssen wir uns auch in manchen Onlineräumen regelmäßig daran erinnern, dass wir von einem breiteren oder auch einfach anderen Publikum wahrgenommen werden.
PRIVATES UND ÖFFENTLICHES AUFTRETEN
Bedauerlicherweise können wir aus menschlichem Leichtsinn den einen oder anderen Fehler begehen, ehe wir beginnen, die volle soziale Tragweite jedes neuen Mediums richtig zu verstehen. Doch wenn wir mit der Begrenztheit der Privatsphäre in Onlineräumen vertraut werden, können wir allmählich lernen, dort die goldene Regel anzuwenden, selbst wenn die Grenze zwischen unseren privaten und öffentlichen sozialen Kontakten unklar erscheint.
Ein Beispiel für solches Lernen ist die Entwicklung sozialer Normen für das Hochladen von Fotos auf Facebook. In früheren Ausgaben der populären Benimmbücher von Emily Post bestand keine Notwendigkeit für ein Kapitel über den Umgang mit Fotos im Internet; doch ihre Nachkommen, die ihr Werk fortführen, mussten sich in ihrer Lebenszeit an einige recht folgenreiche technologische Umwälzungen anpassen. Emilys Ururenkel Daniel Post Senning wird als technologieaffin beschrieben; deshalb war er in den Augen der übrigen Familie genau der Richtige, um Emily Post’s Manners in a Digital World: Living Well Online (Emily Posts Manieren in einer digitalen Welt – online gut leben) zu schreiben. Seine Cousine Anna schreibt im Vorwort dieses Buches: „Wir sind noch dabei, herauszufinden, welche digitalen Manieren wir brauchen, und zu lernen, welche Konsequenzen es hat, ohne sie zu leben.“
Kapitel acht ist ausschließlich dem Umgang mit Fotos im Internet gewidmet. Es beginnt mit einigen Grundregeln: „Respektieren Sie Urheberrechte. Fotografieren Sie niemals jemanden ohne sein Wissen. Holen Sie immer die Erlaubnis des Betreffenden ein, bevor Sie ein Foto von ihm posten [...] Posten Sie nie ein Bild, das jetzt oder künftig peinlich für jemanden sein könnte [...] Posten oder taggen Sie nie Bilder von Kindern ohne Erlaubnis ihrer Eltern.“
Eine Randbemerkung: Taggen bedeutet, Gesichter auf Onlinefotos mit Namen zu identifizieren. Senning betont, ehe man jemanden auf diese Weise kennzeichnet, „ist es eine gute Idee, sich zu fragen: Wenn ich diese Person wäre, wie würde es mir gefallen, dass dieses Bild öffentlich zugänglich ist? Wenden Sie dann einen Standard an, der sogar noch etwas strikter ist als der, den Sie für sich selbst anwenden würden [...] Wenn jemand Sie auffordert, die Markierung zu entfernen oder das Bild zu löschen, sollten Sie das unverzüglich tun.“
In der Zeit vor dem Internet konnte man fast jedes Partyfoto in ein persönliches Album kleben und dies auf dem Tisch liegen lassen, ohne jemanden, der dort verewigt war, um Erlaubnis zu bitten; die Chancen waren gering, dass jemand in den niederen Regionen ihres sozialen Umfeldes es zu sehen bekam. Allerdings haben wir in unseren Offlineaktivitäten weit mehr Kontrolle darüber, wer was über unser Leben erfährt. Unterschiedliche Grade von Freundschaft lassen sich sauber voneinander trennen, und wir geben jedem die Informationen, die wir ihm geben wollen.
Bei Onlinemedien ist dies nicht der Fall, auch wenn sie verschiedene Filtereinstellungen bieten, denn auf unseren Facebook-Pinnwänden überschneiden sich viele soziale Gruppen. Eine Facebook-Pinnwand kann man sich wie einen öffentlichen Platz im Gegensatz zu einem Privatgarten vorstellen. Wenn Tante Mechthild ihren Neffen privat an das Abendessen erinnert, bei dem er so viel aß, dass ihm drei Hemdknöpfe absprangen, stört ihn das vielleicht nicht – aber er würde sich wohl kaum wünschen, dass sie vor seiner hübschen Kollegin davon erzählt. Sich in öffentlichen sozialen Netzen nach der goldenen Regel zu verhalten, erfordert eindeutig, dass man auf die Verschiedenheit des jeweiligen Publikums achtet – in den eigenen Netzen und den Netzen seiner Freunde. Außerdem muss man verstehen, was für wen anstößig sein könnte.
Das Ausmaß dieser Verschiedenheit zu verstehen, könnte uns auch dabei helfen, eine besser integrierte Identität zu entwickeln, und vielleicht zu mehr Konsistenz in der Selbstdefinition beitragen. Bin ich in all meinen Kontaktbereichen freundlich, geduldig und stabil? Oder egozentrisch und paranoid? Forschungsergebnissen zufolge werden persönliche Stärken und Schwächen in unseren Onlineauftritten überaus deutlich.
Trotzdem sind Sorgen laut geworden, dass Onlinesozialnetze wie Facebook eine Versuchung sein könnten, der Welt eine sorgfältig konstruierte Identität zu präsentieren – mit dem Ergebnis, dass das echte Ichgefühl verloren geht, statt dass die Identität besser integriert wird. Doch Lambert zeigt auf: „Facebook-Nutzer haben keine unbegrenzte Kontrolle über ihre Selbstdarstellung“; die Mutter, Cousine und Schulfreunde sind mit dem Nutzer auf Facebook vernetzt, aber sie können auch offline miteinander in Kontakt sein. Dieses „biografische Publikum“ weiß, wer er ist, und darin sieht Lambert eine „normalisierende Kraft“. Vielleicht wird deshalb in der Forschung immer wieder festgestellt, dass Facebook-Profile generell recht gut der tatsächlichen Persönlichkeit der Nutzer entsprechen, nicht einer idealisierten Selbstdarstellung.
Allerdings gibt es Befürchtungen, dass dies ein Problem für junge Menschen sein könnte, die gerade erst dabei sind, herausfinden, wer sie sind. Wenn eine Vielzahl von Kreisen – Bekannten-, Freundes-, Familienkreise –, die jeweils eine eigene normalisierende Kraft sind, nun ein einziges Publikum bilden, stagniert dann die Identitätsfindung? Lambert zitiert eine Forscherin, die schreibt: „Statt mit mehreren Identitäten experimentieren zu können, müssen junge Menschen nun oft eine eingeschränkte, einheitliche Identität für mehrere Publikumsgruppen präsentieren – Gruppen, die früher vielleicht getrennt waren.“ Natürlich setzt das voraus, dass wir immer den Luxus eines vielfachen Publikums hatten, vor dem wir getrennte Identitäten ausprobieren konnten. Doch was war, als unsere Kreise viel kleiner, weniger nach Altersgruppen getrennt und weniger mobil waren? Könnte es tatsächlich hilfreich für junge Menschen sein, normalisierende Kräfte zu haben, die sie zu einem integrierten Selbstgefühl leiten?
BEZIEHUNGEN, ONLINE UND OFFLINE
Manche der Herausforderungen, mit denen uns Onlinesozialnetze konfrontieren, sind vielleicht gar nicht so neu, wie wir meinen. Schon lange vor Facebook haben Beobachter der Gesellschaft über jede neue Ära vorausgesagt, sie werde den Tod nicht nur enger Beziehungen, sondern auch des sozialen Zusammenhalts bringen. Gewiss haben wir einiges verloren, als wir von ländlichen Gemeinden in städtische Ballungsräume zogen, doch gleichzeitig haben wir andere Dinge gewonnen. Und auch wenn mit neuen sozialen Medien potenzielle Gefahren einhergehen, haben sie uns vielleicht an eine Position zurückgebracht, wo wir wieder innehalten, ehe wir in der Öffentlichkeit etwas sagen, das Tante Mechthild nicht billigen würde – denn nun besteht wieder eine durchaus realistische Möglichkeit, dass es ihr zu Ohren kommt. Unser Kommen und Gehen ist nicht mehr so unsichtbar, wie es unter dem großstädtischen Mantel der Anonymität war, als Tante Mechthild weit weg auf dem Dorf war und nicht unsere Facebook-Freundin.
Natürlich gibt es online wie offline noch viele soziale Räume, die nicht so öffentlich sind wie Facebook. Das Internet hat unser Bedürfnis nach vertrauten, privaten Beziehungen nicht abgetötet, sagt die Forschung; unser Streben nach ihnen ist ungebrochen. Tatsächlich wurde in Studien festgestellt, dass Internetnutzer eher mehr Kontakt mit ihren Offlinebeziehungen haben als Nichtnutzer. Auch unser Gemeinschaftsbezug ist nicht verloren gegangen. Beides war schon immer da und allmählich zeigt sich, dass es auch bleiben wird, weil wir den Drang haben, in Verbindung zu sein. Dafür setzen wir jedes Instrument ein, das uns zur Verfügung steht. Wir sind soziale Wesen oder gar nichts – ganz allein auf der Welt zu sein, ist für uns unvorstellbar. Und angesichts dessen, was wir über die Voraussetzungen eines gesunden Geistes wissen, sollte es auch so sein.
So sehr der Mensch die Kommunikation mit anderen braucht, ist dennoch festzustellen, dass nicht jeder dafür technische Mittel einsetzen will. Wir alle haben unterschiedliche Präferenzen für die Befriedigung dieses Grundbedürfnisses und sogar unterschiedliche Komfortniveaus, wenn es darum geht, mit neuen Methoden zu kommunizieren. Für bestimmte Menschen können manche Methoden sogar problematisch sein; Suchtgefährdete können z. B. ebenso anfällig für den neurochemischen Kick sein, den ihnen ihr Gerät gibt, wie für Glücksspiel oder andere genussvolle Aktivitäten.
„Behandelt die Menschen so, wie ihr selbst von ihnen behandelt werden wollt.“
Gleichgültig welche Methoden wir wählen, um unser Bedürfnis nach Verbundenheit zu befriedigen: Die natürliche Folge ist, dass wir eine Wirkung auf andere haben – positiv oder negativ. Dies, und nicht die Medien, die wir nutzen, ist der Kern unserer sozialen Probleme. Wenn unser soziales Umfeld labil ist, liegt es daran, dass wir uns nicht die Zeit genommen haben, unsere Freundschaften zu pflegen, oder dass wir uns negative Arten des Kommunizierens angewöhnt haben. Für solche Probleme sind wir in persönlichen Begegnungen ebenso anfällig wie in der Kommunikation über irgendein verfügbares Medium, und sie haben weitreichende Folgen – nicht nur für unsere individuelle psychische Gesundheit, sondern für unsere kollektive Gesundheit als Gesellschaft.
Wenn wir Medien konstruktiv nutzen wollen, könnten wir uns darauf konzentrieren, Onlinesozialnetze als Übungsplätze für öffentliche soziale Fähigkeiten zu nutzen, so wie Kleinkinder durch den Umgang mit Geschwistern oder Spielkameraden soziale Fähigkeiten für das persönliche, vertraute Miteinander einüben. Der Zweck der Kommunikation mit anderen, ob online oder offline, ist es, positive Beziehungen zu pflegen. Die Versuchung, technischen Medien die Schuld zu geben, wenn dies nicht gelingt, mag groß sein, doch deutet viel darauf hin, dass wir eher persönlich die Urheber unseres Misserfolgs sind. Ein kurzer Blick auf unsere Geschichte reicht aus, um zu bestätigen, dass wir es immer selbst waren.