Terror – Herrschaft des Schreckens
Was ist Terrorismus und warum ist er die Waffe der Wahl für marginalisierte Minderheiten in aller Welt geworden? Mindestens ein Teil der Antwort lautet, dass er für diejenigen, die sich darauf einlassen, offenbar ein menschliches Grundbedürfnis erfüllt.
Terrorismus. Eine Bedrohung, die den Westen nur am Rand zu betreffen schien, ist in den letzten 50 Jahren allmählich ein Problem von globaler Bedeutung geworden. Seit dem Anschlag auf die USA vom 11. September 2001 hat sich das Zielgebiet deutlich erweitert: Terroristen haben in Deutschland, Spanien, England und Irland, Norwegen, Frankreich, Bulgarien, Schweden und Belgien zugeschlagen – zahlreiche Medien haben daraufhin die Frage aufgeworfen, ob Terrorismus inzwischen Europas „neue Normalität“ sei.
Ob er nun annähernd etwas Normales geworden ist oder nicht – neu ist er gewiss nicht. Und das soll nicht nur daran erinnern, dass andere Regionen der Welt ununterbrochen von Terrorattacken betroffen sind (allerdings werden diese nicht ebenso breit publiziert wie die gegen westliche Ziele: Eine Autobombe, die im Juli 2016 in Bagdad über 300 Todesopfer forderte, schlug, verglichen mit dem Medienecho auf die Anschläge in Frankreich, Belgien und Deutschland, in den sozialen Medien kaum wahrnehmbare Wellen). Es soll auch daran erinnern, dass Terrorismus als eine Machttaktik nicht erst mit der RAF, dem „Islamischen Staat“, Al-Qaida oder der Provisional Irish Republican Army begonnen hat.
Der Ursprung des Wortes „Terrorismus“ (abgeleitet vom französischen terrorisme bzw. dem lateinischen terror – Schrecken) ist leichter zu erkennen als der Ursprung der Taktik. Es wurde während der französischen „Terreur“ geprägt, Maximilien Robespierres blutiger Schreckensherrschaft des Staatsterrorismus nach der Hinrichtung Ludwigs XVI., und bezeichnete das Vorgehen eines Regimes, das es als seinen Auftrag empfand, Schrecken zu verbreiten. Schätzungen zufolge töteten Robespierre und seine Revolutionäre in kaum mehr als einem Jahr zwischen 16 000 und 40 000 Menschen im Namen der Gerechtigkeit – die offenbar jedes noch so grauenvolle Mittel rechtfertigte. In einer Rede sagte Robespierre 1794: „Der Schrecken ist nichts anderes als eine schnelle, strenge und unbeugsame Gerechtigkeit. . . . Dämpfet durch den Schrecken die Feinde der Freiheit, und ihr werdet . . . als die Gründer der Republik Recht haben.“
Edmund Burke war 1795 in Frankreich und erlebte die Zustände dort. „Sie haben ein starkes Freischärlerkorps, bereit und bewaffnet“, schrieb er. „Tausende von diesen Höllenhunden, Terroristen genannt, die sie bei ihrer letzten Revolution als Satelliten der Tyrannei ins Gefängnis gesperrt hatten, sind auf das Volk losgelassen worden.“
130 Jahre später kam auf der Karibikinsel La Martinique, die lange französische Kolonie war und heute ein französisches Département ist, Frantz Fanon zur Welt. Er soll durch seine weitverbreiteten Schriften über die Folgen des Kolonialismus „das Evangelium der Gewalt – und indirekt den Terrorismus“ verbreitet haben. Fanon beschrieb die Dynamik des Kolonialismus als einen Krieg der Identitäten: Der Kolonist zwingt dem Kolonisierten seine Traditionen, Werte und Moralvorstellungen auf, wobei der Kolonisierte rasch begreift, dass seine eigenen Traditionen, Werte und Moralvorstellungen vom Kolonisten folglich als minderwertig erachtet werden müssen – untermenschlich. „Und zur gleichen Zeit, in der er seine Menschlichkeit entdeckt, beginnt er seine Waffen zu polieren, um ihr zum Triumph zu verhelfen“, schrieb Fanon in Les Damnés de la Terre (deutsch Die Verdammten dieser Erde).
Und so beginnt der Weg zum Sturz der Invasoren durch „Dekolonisation“, laut Fanon „ein Programm des absoluten Chaos“. Doch dieses Programm „kann nicht das Ergebnis magischer Praktiken, einer natürlichen Erschütterung oder einer gütlichen Einigung sein“, schrieb er. „Der Kolonisierte, der beschließt, dieses Programm in die Tat umzusetzen, seine treibende Kraft zu werden, ist jederzeit gewaltbereit. Seit seiner Geburt ist für ihn klar, dass diese eingeengte, mit Verboten durchsetzte Welt nur durch absolute Gewalt infrage gestellt werden kann.“
„Der Kolonialismus ist keine denkende Maschine, er ist kein vernunftbegabter Körper. Er ist Gewalt im Naturzustand und kann sich nur einer größeren Gewalt beugen.“
Man könnte einwenden (und viele tun es), dass Fanon nicht so sehr für eine Strategie warb, als vielmehr Beobachtungen wiedergab. „Terror, Gegenterror, Gewalt, Gegengewalt . . . das stellen Beobachter mit Bitterkeit fest, wenn sie den Kreislauf des Hasses beschreiben, der in Algerien so offensichtlich und so hartnäckig ist“, schrieb er über Algeriens Unabhängigkeitskrieg gegen Frankreich.
Wenn es wahr ist, dass der Kreislauf von Kolonisation und Dekolonisation so oft Hand in Hand mit Gewalt und Terror auf beiden Seiten geht, dann wäre es ein Fehler, zu glauben, es hätte Terroristen und Terrorismus nicht gegeben, bevor diese modernen Begriffe erfunden wurden. Tatsächlich ist beides vielfach geschichtlich belegt. Ein Beispiel sind die Sikarier im 1. Jahrhundert (lat. sicarii – Dolchträger), eine Gruppierung radikaler jüdischer Attentäter, die den Zeloten nahestanden. Sie praktizierten etwas, was heute bisweilen als Befreiungsterrorismus bezeichnet wird: Sie erdolchten römische Soldaten und als Kollaborateure verdächtigte Juden, um Palästina von der Fremdherrschaft Roms zu befreien. Schon davor verwendeten die Römer den Begriff terror cimbricus für den Schrecken und die Panik angesichts der eindringenden Kimbern, die dem Römischen Reich verheerende Verluste zufügten.
Noch früher prahlte Assurnasirpal II., der Eroberer und König Assyriens (ca. 884–859 v. Chr.) mit Taten, die kalkuliert waren, um seine Gegner in Schrecken zu versetzen: „Ich habe eine Säule errichtet gegenüber dem Stadttor und alle revoltierende Anführer geschunden, die Häute habe ich um die Säule gewunden und auf Pfähle gespießt. Solche stellte ich in großer Zahl bis an die Grenzen meines Landes auf. . . . Ich nahm viel Krieger lebend gefangen. Ich schnitt einigen Arme und Hände ab; anderen schnitt ich Nasen, Ohren und Extremitäten ab. Ich stach vielen Kriegern die Augen aus. Ich machte einen Haufen mit Lebenden und einen mit Köpfen.“
Verwirrung um den Terrorismus
Aber halt, das ist doch kein Terrorismus, oder? Das Zitat beschreibt Kriegsopfer; sicher hängt doch alles davon ab, wie man Terrorismus definiert? Ja, genau. Und das ist einer der Bereiche, über die der Soziologe Neil Smelser schreibt, dass wir uns verheddern, uns in unserem eigenen Denken verfangen, bis wir keine nützlichen Schlussfolgerungen mehr zustande bringen. Es mag ein Klischee sein, dass ein und derselbe Mensch für den einen ein Terrorist, für den anderen dagegen ein Freiheitskämpfer ist; aber Klischees drücken oft etwas Wahres aus. „Terrorismus ist weder von Wissenschaftlern noch von politischen Amtsträgern je richtig definiert worden“, schrieb Smelser 2007 in The Faces of Terrorism.
„Für Terrorismus gibt es Dutzende von Definitionen“, meint auch Anthony Marsella, ein Fachmann für internationale und interkulturelle Psychologie. Zu den Gemeinsamkeiten zähle der Einsatz von Gewalt und Furcht, um ein wie auch immer geartetes Ziel innerhalb eines politischen Kontexts zu erreichen. „Gewöhnlich treffen oder konfrontieren Terroristen nicht Streitkräfte im Feld, in offenem, bewaffnetem Kontakt; die Vorgehensweisen sind zumeist heimlich und die Angriffsziele zivil“, schreibt Marsella. „Die Intention ist nicht nur Zerstörung, sondern auch die Verbreitung von Furcht und Schrecken in einer Bevölkerung.“
Eine solche Beschreibung schließt nicht aus, dass Terror auch von Staaten praktiziert wird – sei es gegen die Bevölkerung eines kolonisierten Gebiets oder die eigene Bevölkerung – oder von substaatlichen Gebilden, etwa religiös-extremistischen Gruppierungen wie Al-Qaida und dem „Islamischen Staat“.
Neben dem Grundproblem, Terrorismus zu definieren, haben wir auch Schwierigkeiten, zu nützlichen Forschungsergebnissen zu kommen, die helfen, ihn zu erklären. Dies ist noch immer so, obgleich es in den letzten Jahrzehnten eine Flut von Büchern und Daten über Terrorismus aus mehreren Forschungsbereichen gegeben hat.
So schreibt der Forscher und Professor John Horgan: „Trotz dieser Datenmasse, oder vielleicht wegen ihr, kommen wir ironischerweise selbst jetzt noch immer nicht an eine echte Wissenschaft über terroristisches Verhalten heran. Noch immer überrascht es uns, dass wir Terrorismus, nur weil es mehr Informationen darüber gibt als je zuvor, nicht notwendigerweise besser verstehen.“
Ein Teil des Problems besteht darin, dass von den existierenden Daten nur sehr wenige verifizierbar sind. In der Forschung ist das Thema Terrorismus ein interdisziplinärer Wirrwarr, an dem viele Wissenschaften beteiligt sind; es geht um Ökonomie, Politik, Psychologie, soziale Einflüsse, Kultur und Geschichte. Selbst wo es fächerübergreifenden Konsens geben könnte, bleibt die Schwierigkeit der Verifikation.
Auch weil unser Verständnis der komplexen Kräfte, die hinter dem Terrorismus stecken, so begrenzt ist, verheddern wir uns zudem in Debatten darüber, wie das Problem am besten anzugehen sei.
„Terrorismus ist gleichzeitig kriminell, politisch, ökonomisch, sozial, psychologisch und moralisch in Ursprung und Konsequenz.“
Zwar wird von einigen behauptet, sie wüssten genau, wie Terrorismus mit Strategien der Kriegsführung zu bekämpfen und zu besiegen sei, doch gibt es wenig historische Anhaltspunkte dafür, dass einfach Waffenarsenale zu modernisieren, Grenzen zu schützen oder Sicherheitsvorkehrungen zu verstärken mehr bewirken würde, als die Strömungen des Terrorismus auf alternative Routen umzuleiten. Tatsache ist, dass Terrorismus seit Urzeiten als Taktik eingesetzt wird, ebenso lange wie jede andere Kriegsstrategie. Und wie alle Krieg Führenden – Staaten und Staatenlenker, Tyrannen und Diktatoren – wurden Terroristen und ihre Aktivitäten nie ausgemerzt. Sie haben sich lediglich angepasst und neue Hemmnisse überwunden, indem sie neue Strategien erdacht und neue Technologien genutzt haben, um ihre Ziele zu erreichen.
Was ist der Zweck?
Doch was sind die Ziele, die sie erreichen wollen? Sicher verfolgte doch jede Gruppierung im Lauf der Geschichte – ob Kolonisten, Antikolonialisten, Freiheitskämpfer oder Dschihadisten – ihre spezifischen Ziele?
Sind ihre Differenzen rein ideologisch? Eine Gruppe hat etwas gegen die Politik und Lebensweise einer anderen, und damit ist Terrorismus gerechtfertigt? Diese Annahmen sind unsinnig, wie Marsella aufzeigt: „Es ist eindeutig möglich, mit einer Regierung sehr unzufrieden zu sein, bis hin zu öffentlichen Protesten und Verurteilungen, ohne zu Gewalt und Zerstörung gegen den Staat zu greifen.“
Man könnte versucht sein, Terrorismus mit der Globalisierung der westlichen Kultur zu erklären. In der Tat hat Amerika besonders dazu beigetragen, westliche Werte und Weltbilder in nicht westlichen Kulturen zu verbreiten. Doch wie viele Unzufriedene verfallen nicht in Terrorismus. Für diejenigen, die Terroristen werden, bleibt diese Verwestlichung trotzdem ein Faktor, insbesondere soweit die Invasion (oder kulturelle Kolonialisierung, wenn man so will) die Identität der kolonisierten Kultur im Kern gefährdet. In der Tat, schreibt Marsella, „wird die techno-kommerzielle Massengesellschaft, die von der amerikanischen Kultur ausgeht und in den Rest der Welt vordringt, als reale und greifbare Bedrohung traditioneller kultureller Identitäten und Lebensweisen wahrgenommen“.
Allerdings empfinden auch manche Amerikaner Aspekte ihrer eigenen Kultur als Bedrohung ihrer traditionellen Identität. Daher protestieren viele Sympathisanten der sogenannten religiösen Rechten gegen die liberalen Vorstöße der Linken und glauben den Verheißungen aller möglichen politischen Messiasse, den Lauf der Dinge aufzuhalten. Doch die überwiegende Mehrheit dieser Unzufriedenen baut keine Schreckensherrschaft auf, um ihre ideologische Empörung zum Ausdruck zu bringen.
Für den islamischen Terrorismus geben viele im Westen dem Islam die Schuld, und in ihrer Angst würden sie am liebsten ihre Grenzen für alle Muslime schließen. Tatsächlich unterstützen jedoch nicht alle Muslime terroristische Aktivitäten; viele fliehen vor ebendem Terror, dem der Westen den Krieg erklärt hat. Und wenn ihre Glaubensüberzeugungen auch aus demselben Buch stammen wie die extremistischer Gruppierungen, folgt daraus doch nicht, dass ihre Arten der Auslegung oder Umsetzung miteinander vereinbar sind.
Zu bedenken ist auch, dass Extremisten die Heilige Schrift verdrehen können (und es manchmal tun), um Gewalt zu rechtfertigen. Die Zivilgesetze für das antike Volk Israel, die in der Bibel überliefert sind, sehen z. B. vor, dass Mörder zu töten sind. Heute empfinden viele Menschen, die sich Christen nennen, Abtreibung als offenkundigen Mord. Diese Überzeugung teilen sie mit denen, die ihre Ablehnung der Abtreibung mit Gewalt zum Ausdruck bringen, doch die meisten Christen würden niemals eine Klinik bombardieren, in der Abtreibungen vorgenommen werden, oder die Ärzte oder ihre Klientel entführen. Leider hat der internationale Terrorismus gegen Ziele im Westen ein allgemeines Misstrauen gegenüber Muslimen gesät, das nicht zwischen terroristischen und antiterroristischen Überzeugungen unterscheidet.
Jessica Stern von der Boston University, Mitautorin von ISIS: The State of Terror, hält dies nicht für einen Zufall. Es sei vielmehr eines der widersprüchlichen Ziele des „Islamische Staates“: „Zusätzlich zu der Kontrolle von Territorien will der ,Islamische Staat‘ auch Chaos säen, Muslime gegeneinander aufbringen, den Westen im Inneren spalten und den Westen gegen den Islam aufbringen“ („Why the Islamic State Hates France“). Mit einigen dieser Ziele ist der IS offenbar recht gut vorangekommen. Stern kommt zu dem Schluss: „Terrorismus ist psychologische Kriegsführung. Er wird seit Jahrtausenden von den Schwachen gegen die Starken eingesetzt. Eines seiner vielen Ziele ist, seine Opfer zu Überreaktionen zu reizen. Wir wollen Krieg führen, um das Gefühl zu bannen, dass wir ungerechtfertigt attackiert werden oder die Schuldlosen nicht schützen können. Wir wollen Krieg führen gegen das Böse. Doch manchmal ist die Wirkung unserer Reaktion genau das, was wir verhindern wollten – mehr Terroristen und mehr Anschläge, noch breiter verteilt in aller Welt. Das ist das Paradoxon der Terrorismusbekämpfung – die militärischen Strategien, die erforderlich sind, um heute die Bedrohung niederzuschlagen, bringen oft morgen mehr Terrorismus.“
Vielleicht ist dies das Paradoxon des Krieges überhaupt. Das biblische Prinzip „Auge um Auge, Zahn um Zahn“ war nicht dafür gedacht, nach Belieben von jedem, der atmet, angewandt zu werden. Es war für jene Zeit eine zivile Antwort auf zivile Verbrechen. Doch im Krieg werden beide Seiten von einem Rachedurst erfasst, der die ganze Welt blind und zahnlos zu machen droht. „Die Rache ist mein; ich will vergelten“, sagt der Gott der Bibel. Aber wir Menschen sind süchtig nach Krieg. Das müssen wir sein, sonst würden wir nicht immer wieder Krieg führen und uns jedes Mal sagen: „Dieses Mal wird das letzte sein.“
Der altgediente Auslandskorrespondent Chris Hedges, der viele Kriegsgräuel persönlich gesehen hat, schrieb 2002 in seinem Buch War Is a Force That Gives Us Meaning: „Ich lernte früh, dass Krieg seine eigene Kultur schafft. Der Sturm der Schlacht ist eine machtvolle und oft tödliche Sucht, denn Krieg ist eine Droge – eine, die ich viele Jahre lang genommen habe. Gehandelt wird sie von Mythenmachern: Historikern, Kriegskorrespondenten, Filmemachern, Romanautoren und dem Staat. Sie alle statten den Krieg mit Eigenschaften aus, die er oft auch besitzt: Spannung, Exotik, Macht, Aufstiegschancen und einem bizarren, fantastischen Universum, das eine groteske und dunkle Schönheit hat. . . . Die zeitlose Anziehungskraft des Krieges ist dies: Selbst mit seiner Zerstörung und seinem Blutvergießen kann er uns geben, was wir uns im Leben ersehnen. Er kann uns ein Ziel geben, einen Sinn, einen Grund, zu leben.“
„Krieg ist ein verführerisches Elixier.“
Das ist wahr. Sinn und Lebenszweck sind spirituelle und psychische Grundbedürfnisse. Sie formen unsere Identität, bewahren uns davor, in einem lähmenden Sumpf von Demütigung und Selbsthass zu versinken, und treiben uns voran – auf etwas zu, was außerhalb von uns selbst ist. Wenn sie fehlen, würden wir unser Leben dafür geben, sie zu haben, und dieses menschliche Bedürfnis machen sich terroristische Gruppierungen jeden Tag zunutze, wenn sie Mitglieder rekrutieren.
In seiner Fernsehsondersendung „Why They Hate Us“ im Mai 2016 merkte Fareed Zakaria von CNN an, dass die gewaltbereiten Rekruten des Dschihad oft sehr wenig über den Islam wissen. Der amerikanische Historiker Rashid Khalidi, der palästinensische Wurzeln hat, pflichtete ihm bei: „In vielen Fällen sind das Kleinkriminelle, in vielen Fällen sind es Aussteiger, in vielen Fällen sind es Arbeitslose, in vielen Fällen sind es Drogensüchtige, die niemals etwas mit Religion zu tun hatten, die keinerlei religiöse Ausbildung haben. Sie sind, mit anderen Worten, religiös vollkommen unwissend. Und sie fahren auf den radikalen Islam als eine Möglichkeit ab, ihre Entfremdung auszuleben.“
Natürlich ist es viel leichter, das Denken eines Rekruten auf einen Sinn und Zweck zu prägen, wenn er (oder sie) keine eigenen hat.
Sterns Forschung und Erfahrung bestätigen die Bedeutung von Lebenssinn und Identität innerhalb des Terrorismus: „Viele Fachleute konzentrieren sich auf die Siegesvorstellung des ,Islamischen Staates‘, doch ich sehe eine Vorstellung, Demütigung zu überwinden, und eine Chance, verlorene Würde wiederzugewinnen. Diese Vorstellung soll alle Unterdrückten der Welt ansprechen.“ Mit der globalen Verbreitung seiner Ideologie, so Stern, „spricht der ,Islamische Staat‘ in seinen eigenen Worten die Menschen an, ,die in Ozeanen der Schande ertranken, genährt mit Milch der Demütigung und beherrscht von den abscheulichsten aller Menschen‘.“
Diese verdrehte Vorstellung resultiert aus besonders gewaltbetonten Auslegungen des Islam. Die muslimische Reformerin Irshad Manji hofft, diese Vorstellung für diejenigen zu verändern, die in Gefahr sein könnten, die falsche Identität zu übernehmen. Sie weist darauf hin, dass der Koran das Rohmaterial für ein positives Umdenken enthält. Zu Zakaria sagte sie: „Es gibt eine wunderschöne Passage im Koran, eine von vielen schönen Passagen, in der steht: Gott ändert die Lage der Menschen nicht, bis sie ändern, was in ihnen selbst ist.“
Auch die Bibel erklärt, dass ein grundlegender innerer Wandel – eigentlich ein Wandel der Identität – geschehen muss, bevor das menschliche Dasein anders werden kann; er muss so weit gehen, dass die Menschen „ihre Schwerter zu Pflugscharen und ihre Spieße zu Sicheln machen“. Dieser Wandel, fordert die Bibel, muss von Dauer sein: „Es wird kein Volk wider das andere das Schwert erheben, und sie werden hinfort nicht mehr lernen, Krieg zu führen“ (Jesaja 2, 4).
Eine solche Wandlung ist schwer vorstellbar, wenn man sich in der derzeitigen Realität umsieht. Leider neigen die meisten von uns – ob wir unsere Standards aus der Bibel beziehen oder aus dem Koran – zu den Auslegungen, die unsere Kriegslust rechtfertigen, statt zu denen, die uns dazu aufrufen, in unserem Herzen und unserem Denken die Wandlung zu vollziehen, die für dauerhaften Frieden nötig ist.
Doch solange nicht ein brennendes Verlangen, Frieden zu suchen, unsere „neue Normalität“ wird, wird unweigerlich die alte Normalität bleiben. Und solange das der Fall ist, kann die Herrschaft von Gewalt in all ihren Formen, einschließlich des Terrorismus, nur andauern.