Voreingenommen?

In unserer Welt soll jedermann eine Meinung haben (und zum Ausdruck bringen), doch dabei mangelt es uns auffallend oft an Klugheit. Warum glauben wir, was wir glauben?

Was denken Sie?

Seit 2013 hat es an Schulen und Hochschulen in den USA über 160 Schießereien gegeben. Im Jahr 2014 wurden mindestens 65 % der über 14 000 Morde in den USA mit Schusswaffen verübt. Muss der Besitz von Schusswaffen angesichts dieser erschreckenden Statistik schärfer kontrolliert werden? Oder sollten mehr Bürger bewaffnet sein, um sich, ihre Familie und ihr Eigentum verteidigen zu können? Ist es ein verfassungsmäßiges Recht aller amerikanischen Staatsbürger, Waffen zu besitzen und bei sich zu tragen? Oder hat sich die Gesellschaft so sehr verändert, dass die „gut ausgebildete Miliz“, von der in Zusatzartikel II der Verfassung die Rede ist, nicht mehr relevant ist?

Eine noch größere Sorge als der Waffenbesitz ist vielleicht die Versorgung der Welt mit Nahrung. Achten Sie darauf, was Sie essen? Mitte der 1990er-Jahre kamen genmodifizierte Nahrungsmittel auf den Markt. Im Labor werden genmodifizierte Pflanzen produziert, die gegen Schädlinge und Schädlingsbekämpfungsmittel resistent sind, Dürren oder Frost aushalten, länger haltbar sind oder einen besseren Nährwert haben. Schätzungen zufolge enthalten nahezu 75 % der verarbeiteten Nahrungsmittel, die man in Amerika kaufen kann, mindestens einen genmodifizierten Bestandteil. Derzeit werden in den USA zehn genmodifizierte Feldfrüchte erzeugt; weitere befinden sich im Zulassungsverfahren. Verspricht die Fähigkeit, mithilfe von Gentechnik Nahrungsmittel herzustellen, eine sichere Versorgung der Milliarden verarmter, unterernährter Menschen in aller Welt mit Nahrung? Oder sind die Gesundheits- und Umweltrisiken der modifizierten Organismen zu groß, um auf den Zufall zu vertrauen?

Die Fakten in Erfahrung zu bringen und sich ein fundiertes Urteil über diese und andere Fragen zu bilden sollte eigentlich kein Problem sein, denn schließlich steht uns auf Mausklick eine Welt von Informationen zur Verfügung. Dennoch provoziert so ziemlich jedes vorstellbare Thema diametral entgegengesetzte Stellungnahmen von Leuten, die ihre Ansichten mit Leidenschaft verteidigen, oft im Angesicht von Aspekten, die anderen als überwältigende Gegenbeweise erscheinen.

Wenn Menschen eine Theorie konstruieren oder untermauern wollen, wie quälen sie dann die Fakten, damit sie ihnen dienstbar sind!“ 

Charles Mackay, „Extraordinary Popular Delusions“

Wie kann man eine Sicht einer Frage so glühend verfechten, wenn andere ihre Sicht ebenso vehement vertreten? Wie können die meinen, sie hätten recht, wenn so offensichtlich wir recht haben? Sind ihre Folgerungen ebenso richtig wie unsere? Können wir überhaupt wissen, was stimmt?

NACHDENKEN ÜBER UNSER DENKEN 

Jeden Tag fällen wir Entscheidungen und Urteile über unsere Welt. Unserer Meinung nach sind wir gut informiert; wir sind überzeugt, dass unsere Schlussfolgerungen richtig sind, weil sie auf einer gründlichen Analyse der verfügbaren Fakten beruhen. In Wahrheit unterliegen wir Menschen jedoch Vorurteilen, Denkfehlern, Anpassungsdruck, sogar Schwankungen unserer eigenen emotionalen Verfassung. Mit unseren eigenen Meinungen, unserer eigenen Auffassung von dem, was wahr ist, fühlen wir uns am wohlsten. Aber woher kommen diese Meinungen? Und warum denken wir, wir hätten recht?

Das menschliche Gehirn ist bemerkenswert. Bei Erwachsenen wiegt es nicht einmal drei Pfund und es besteht aus den gleichen Fetten, Kohlehydraten, Salzen, Eiweißen und Wasser wie der übrige Körper. Gleichzeitig leistet es etwas, wozu kein anderes Organ fähig ist. Ohne unser Zutun oder auch nur unser Wissen überwacht und steuert unser Gehirn unsere Körperfunktionen, speichert und aktiviert Erinnerungen an Gesichter, Orte, Ereignisse und Fähigkeiten und ermöglicht uns die Kommunikation mit der Welt um uns herum.

Wenn ein Kind zur Welt kommt, hat es keine Urteile, keine Meinungen, außer dass es lieber satt, sauber und auf dem Arm ist als hungrig, schmutzig und alleingelassen. Wenn es größer wird, lernt es durch Erfahrung, dass manche Dinge gut sind, gut schmecken, trösten und Spaß machen, andere dagegen nicht; dass man manchen Menschen vertrauen kann, anderen dagegen besser aus dem Weg geht und dass es Gut und Böse gibt. Erwachsen geworden, gehen wir unbewusst davon aus, dass unsere Überzeugungen, Werte und Urteile das Ergebnis über Jahre gewachsener Erfahrung sind, das wir analysiert und für fundiert befunden haben. Wenn wir mit neuen Informationen konfrontiert werden oder etwas eine seit Langem gehegte Überzeugung infrage stellt, verarbeiten wir die Informationen objektiv und erklären sie für richtig oder falsch. Tatsächlich?

Seit Jahrtausenden forschen Menschen danach, wie wir zu unseren Meinungen kommen und uns Urteile bilden. Das Nachdenken über das Denken hat Philosophen von Sokrates, Platon und Aristoteles über Hume und Kant bis Russell beschäftigt; in jüngerer Zeit ist der Prozess des Denkens Gegenstand der Sozialwissenschaften geworden.

In den 1960er-Jahren begann der Kognitionspsychologe Peter Wason eine Untersuchung darüber, wie Menschen Hypothesen prüfen und sich Urteile bilden. Er glaubte nicht an die damals gängige Theorie, die besagte, dass Menschen logisch denken. In einer Testreihe stellte er fest, dass die Probanden in überwältigender Mehrheit dazu neigten, Beweise, die nicht zu ihren Hypothesen passten, abzulehnen oder zu ignorieren; lieber konzentrierten sie ihre Anstrengungen darauf, Antworten zu finden, die ihre Prämissen bestätigten. Dieses Denkmuster nannte Wason confirmation bias, auf Deutsch bekannt als „Bestätigungsfehler“ (eigentlich „Bestätigungsvoreingenommenheit“).

Der Bestätigungsfehler kommt in zwei Varianten vor: motiviert und unmotiviert. Raymond S. Nickerson von der Tufts University merkt an: „Menschen können Beweise voreingenommen behandeln, wenn sie von dem Wunsch motiviert sind, Überzeugungen zu verteidigen, die sie aufrechterhalten möchten. […] Doch Menschen können auch dann voreingenommen verfahren, wenn sie Hypothesen oder Behauptungen prüfen, die für sie nicht wichtig oder von offensichtlichem persönlichem Interesse sind.“

Wollte man einen einzelnen problematischen Aspekt menschlichen Denkens identifizieren, der vor allen anderen Aufmerksamkeit verdient, so müsste der Bestätigungsfehler unter den Kandidaten sein.“ 

Raymond S. Nickerson, „Confirmation Bias: A Ubiquitous Phenomenon in Many Guises“

In der Regel suchen wir uns also Informationen aus, die zu dem passen, was wir bereits empfinden und denken, verlassen uns am meisten auf Daten, die unsere Überzeugungen stützen, und arrangieren manchmal sogar Informationen so um, dass sie das tun. Umgekehrt meiden, bagatellisieren oder ignorieren wir oft Beweismaterial, das unsere Überzeugungen infrage stellt. Allerdings ist uns nicht immer bewusst, dass wir das tun.

Das menschliche Gehirn hat Tag für Tag eine enorme Menge von Informationen zu bewältigen. Eine Art, auf die es diesen ständigen Zustrom verarbeitet, ist ein heuristisches Vorgehen – um zu Entscheidungen zu gelangen, nimmt es auf der Grundlage von Erfahrungswerten Abkürzungen. Heuristik spart in Alltagssituationen Zeit und geistige Energie und ist außerdem wichtig, wenn man mit Risiken konfrontiert ist: Wir können rasch Entscheidungen treffen, die uns helfen, Gefahren aus dem Weg zu gehen. Das Gehirn bestätigt automatisch, was es bereits kennt, und entscheidet danach. Weil es diese Abkürzungen gibt, müssen wir nicht alle Facetten jeder einzelnen Information analysieren, um eine Entscheidung zu treffen: Wenn ein defekter Rasensprenger den Gehweg beregnet, wechseln wir auf die andere Straßenseite; und wir vertrauen darauf, dass unser Navigationsgerät uns um Unfälle und Straßenbaustellen herumführt. Es wäre ein mühsames Leben, wenn jede Reaktion und jede Entscheidung im Alltagsgeschehen von allen Seiten überdacht werden müssten.

Wenn es aber um Ansichten und Überzeugungen geht, ist es dann klug, einfach eine Abkürzung zu nehmen oder bewusst abzutun, was uns nicht passt, ohne es zu prüfen?

Ob wir aktiv einen Standpunkt vertreten oder einfach Partei ergreifen: Wenn wir unsere Standpunkte oder Entscheidungen nicht überprüfen, laufen wir Gefahr, Vorstellungen, die einfach nicht richtig sind, aufrechtzuerhalten und zu bestärken – und infolgedessen schlechte Entscheidungen zu treffen. Standpunkte und Überzeugungen, an denen wir festhalten, haben Auswirkungen auf unser Leben, unsere Finanzen und unsere Beziehungen. Deshalb ist es ratsam, ein tatsächlich uraltes Prinzip zu befolgen, um sicherzustellen, dass das, was wir glauben und wonach wir handeln, richtig und fundiert ist: „Prüft aber alles und das Gute behaltet“ (1. Thessalonicher 5, 21, alle Bibelzitate Luther-Bibel 1984).

KRITISCH DENKEN 

Unsere Schlussfolgerungen und die Art, wie wir zu ihnen kommen, sorgfältig zu überdenken ist durchaus kein leichtes Unterfangen. Die Erkenntnis, dass wir voreingenommen sind, ist nur ein Anfang; es kostet Zeit und konzentriertes Bemühen, Irrtümer zu identifizieren und notwendige Änderungen zu vollziehen. Eigene Schwächen und Fehler einzuräumen ist schwierig, aber man kann etwas ändern.

Unsere Voreingenommenheit zu erkennen ist ein entscheidender Schritt in die richtige Richtung. Wenn wir die Notwendigkeit einsehen, unsere Denkmuster zu ändern, müssen wir lernen, zu erkennen und zu regulieren, woran wir denken.

Dabei müssen wir darauf achten, was wir in unser Denken hineinlassen. Die mediengetriebene Allgegenwart lärmender, seichter Aussagen aller Seiten über jedes Thema macht es schwierig, lärmenden, seichten Inhalten zu entgehen, es sei denn, man bemüht sich entschieden darum. Eine „Abnabelung“ ist weder realistisch noch notwendig; wollen wir aber einen wirklichen Wandel unseres Denkens in Gang setzen, müssen wir tatsächlich aufhören, immer wieder die gleichen Inhalte aufzunehmen. Ein Konservativer, der sich ausschließlich konservative Radio- bzw. Fernsehsendungen anhört bzw. ansieht, wird seine Meinung über die Opposition kaum ändern. Ein Junge-Erde-Kreationist, der vor wissenschaftlichen Gegenbeweisen die Augen verschließt, wird bei der Überzeugung bleiben, die Welt sei erst ein paar Jahrtausende alt. Und ein Atheist kommt weniger wahrscheinlich zu der Ansicht, dass die Bibel eine wertvolle Quelle von Weisheit und Trost ist, wenn er nur mit anderen Atheisten Umgang hat.

Die Bibel bietet eine Fülle von Anleitungen und Weisungen dazu, wie und was wir denken. Das Buch Sprüche mahnt insbesondere, nach Wissen, Klugheit und Urteilsvermögen zu streben, und es warnt davor, „unverständig“ zu sein – nicht nachzudenken oder es an Klugheit mangeln zu lassen.

Wer sich auf seinen Verstand verlässt, ist ein Tor; wer aber in der Weisheit wandelt, wird entrinnen.“

Sprüche 28, 26

Das Buch empfiehlt auch, klugen Rat zu suchen (Sprüche 12, 15; 28, 26). Da wir unser eigenes Denken und seine Auswirkungen auf unser Verhalten und unsere Einstellungen nicht immer sicher beurteilen können, kann es von Nutzen sein, den Rat eines Menschen zu suchen, der uns gut kennt und unsere Fehler wahrscheinlich besser sieht als wir selbst.

Es ist hilfreich, einen Standard zu haben, nach dem man seine Überzeugungen beurteilen kann. Unser Denken braucht eine Grundlage. Diese Grundlage besteht nicht in unseren eigenen Erfahrungen oder menschlichen Überlegungen, die bekanntlich fehlerhaft sein können, sondern in etwas, das weit zuverlässiger ist (Sprüche 9, 10). Wenn wir uns entscheiden, uns von diesem Standard leiten zu lassen, um unser Denken zu prüfen und zu ändern, können wir darauf vertrauen, auf der richtigen Seite zu sein.