Was ist Altenmisshandlung?
Altenmisshandlung wird weltweit als wachsendes Problem erkannt. Sozialarbeitern und der Justiz kommen eine breite Palette von Fällen zur Kenntnis – von dem alten Menschen, der von mit seiner Pflege betrauten, überarbeiteten Angehörigen vernachlässigt oder ständig angeschrien wird, bis zum Angehörigen oder Fremden, der einen alten Menschen um sein Geld bringt, ihn körperlich misshandelt oder sexuell missbraucht.
Natürlich ist nicht jeder Übergriff notwendigerweise als Misshandlung einzustufen. Der Mann, der seine Mutter nicht allein spazieren gehen lässt, bevormundet sie vielleicht, aber er begeht nicht unbedingt eine Misshandlung. Der Verkäufer, der einem alten Menschen gegenüber laut wird, ist vielleicht respektlos, aber sein Verhalten würde wahrscheinlich auch nicht als Misshandlung eingestuft. Damit ein Übergriff als Misshandlung gilt, muss er generell mindestens einer der folgenden Kategorien zuzuordnen sein.
1. Finanzieller Missbrauch
Finanzieller Missbrauch ist die ungesetzliche oder ungeeignete Verwendung, Aneignung oder Ausbeutung von Vermögen und Besitz des älteren Menschen. Hierzu zählt auch die Verwendung dieser Mittel ohne dessen Zustimmung oder die Manipulation des alten oder abhängigen Erwachsenen zum finanziellen oder materiellen Vorteil eines anderen. Er kann relativ geringfügige Geldbeträge betreffen – der Sohn kennt z. B. die Scheckkartennummer seines Vaters und benutzt die Karte gelegentlich, um € 40 abzuheben, die er selbst im Restaurant ausgibt. Es kommt aber auch vor, dass weit größere Geldsummen gestohlen werden oder dass jemand sich die Kontrolle über das Vermögen eines alten Menschen verschafft.
„Es gibt Gesetze gegen finanzielle Ausbeutung, doch sie ist manchmal schwer zu beweisen“, sagt Carmel Bitondo Dyer, Kodirektorin des Texas Elder Abuse and Mistreatment Institute. Sie sieht viele Fälle des Missbrauchs von Vollmachten. Der Bevollmächtigte muss Rechenschaft dafür geben können, wie das Geld ausgegeben wird und dass es für die Versorgung des alten Menschen ausgegeben wird. Doch Frau Dyer sagt: „Wenn niemand hinterfragt, wie das Geld ausgegeben wird, können die Leute ungestraft davonkommen.“ Dies trifft insbesondere zu, wenn die Senioren keinen Kontakt mit Außenstehenden haben, sodass niemand darauf aufmerksam wird, was geschieht.
2. Emotionale Misshandlung
Emotionale (oder seelische) Misshandlung ist die absichtliche Zufügung von emotionalen Qualen und Schmerzen oder Bekümmernis. Sie kann die Form von Drohungen, Einschüchterung, Beleidigungen oder Erniedrigung annehmen, z. B. „Wenn du dich noch einmal nass machst, kommst du ins Heim“, oder „Wenn du das nicht unterschreibst, gebe ich dir dein Schmerzmittel nicht.“
„Irgendwann schreit jeder einmal jemanden an“, bemerkt Lee Stones, Gerontologin in Thunder Bay (Ontario) und Regionalberaterin für die Ontario Strategy to Combat Elder Abuse. „Es ist nicht das gelegentliche unfreundliche Wort, sondern ständiges Ausgrenzen, Herabwürdigen und Anschreien, das eine Misshandlung darstellt.“
Emotionale Misshandlung kann auch darin bestehen, jemanden von Freunden und Angehörigen zu isolieren, ihm nicht zu erlauben, Kontakt mit Menschen außerhalb des Haushalts zu haben (Telefonate oder Besuche).
3. Sexueller Missbrauch
Sexueller Missbrauch ist jedweder sexuelle Kontakt mit dem älteren Menschen, in den er nicht eingewilligt hat. Die sexuelle Handlung kann von Exhibitionismus über nicht verantwortbare Berührungen bis zu sexuellen Akten jeglicher Art reichen.
4. Vernachlässigung und Verlassen/im Stich lassen
Vernachlässigung liegt vor, wenn eine Pflegeperson die Erfüllung der körperlichen, seelischen und sozialen Bedürfnisse des alten Menschen absichtlich oder unabsichtlich unterlässt. Sie kann in der Vorenthaltung von Nahrung, Medikamenten, Pflegeleistungen oder auch einer lebensfreundlichen Umgebung bestehen, wie z. B. dem Einsperren in einem leeren Raum ohne Beschäftigungsmöglichkeit.
Vernachlässigung ist gewöhnlich die Folge einer Überlastung der Pflegeperson oder mangelnder Kenntnis geeigneter Pflegestrategien. „Jemand nimmt vielleicht einen alten Menschen in seiner Familie auf, ist aber schon mit der eigenen Arbeitslast oder gesundheitlichen Problemen überfordert und nicht in der Lage, den alten Menschen angemessen zu versorgen“, sagt Sharon Brangman, Leiterin der Geriatrischen Abteilung an der SUNY Upstate Medical University von Syracuse (New York). In anderen Situationen wissen die Pflegepersonen einfach nicht, was sie tun müssen, um den älteren Menschen richtig zu pflegen.
In Extremfällen kommt es zum Verlassen/im Stich lassen, dem vollkommenen Rückzug einer für die Pflege verantwortlichen Person von dem alten oder abhängigen Menschen. „Dies geschieht, wenn man die Pflege eines alten Menschen übernommen hat und einfach nicht mehr damit zurechtkommt“, erklärt Laura Mosqueda, Direktorin des Elder Abuse Forensic Center in Orange County (Kalifornien). „So setzt man ihn vielleicht bei einer Notaufnahme ab, oder man verschwindet in einen anderen Bundesstaat [ins Ausland] und blickt nicht zurück.“
5. Körperliche Misshandlung
Körperliche Misshandlung älterer Menschen ist die Anwendung körperlicher Gewalt, die zu körperlichen Verletzungen, Schmerzen oder Beeinträchtigungen führen kann. Dazu gehören Schläge, Tritte und Festbinden. Körperliche Misshandlungen hinterlassen oft am Körper des Opfers: Wunden, Beulen, Striemen oder Brandwunden.
Diese Art Misshandlung ist gewöhnlich beabsichtigt, kann jedoch auch unbeabsichtigt sein. Deana Johnson, Regionalberaterin des Ontario Network for the Prevention of Elder Abuse und Geschäftsführerin des Council on Aging in Windsor (Ontario), erläutert: „Man ist vielleicht frustriert, weil man es eilig hat und der alte Vater sich nicht schnell genug bewegt; da packt man ihn ziemlich unsanft und setzt ihn auf seinen Stuhl.“ Die Knochen alter Menschen sind weit brüchiger, und wenn man das nicht berücksichtigt, kann man aus Versehen zu viel Kraft anwenden und die Knochen brechen. „Obwohl nicht beabsichtigt war, dem Vater wehzutun, würde es trotzdem als körperliche Misshandlung gelten“, sagt sie.
6. Selbstvernachlässigung
Senioren, die sich selbst vernachlässigen, lehnen gewöhnlich professionelle Hilfe ab; dies kann problematisch für Angehörige und medizinisches Personal sein, ganz zu schweigen von der Gefahr für den Betroffenen. Carlos Reyes Ortiz von der Medizinischen Fakultät der Universidad del Valle in Kolumbien meint, es könne „in solchen Fällen gerechtfertigt werden, die Aufnahme in ein Krankenhaus oder Pflegeheim zu empfehlen oder möglicherweise sogar zu erzwingen“ („Neglect and Self-Neglect of the Elderly in Long-Term Care,“ in Annals of Long-Term Care, Februar 2001).
Das National Center on Elder Abuse schränkt jedoch ein: „Die Definition der Selbstvernachlässigung schließt eine Situation, in der ein alter Mensch, der bei klarem Verstand ist und die Folgen seiner Entscheidungen versteht, sich bewusst und freiwillig für Handlungen entscheidet, die seine Gesundheit oder Sicherheit gefährden, als Sache des persönlichen Willens aus.“ Solche Menschen, die sich scheinbar selbst vernachlässigen, gelten als geistig fähig, über ihre Angelegenheiten zu entscheiden; für die in der Situation involvierten Angehörigen und Sozialdienste ist dies frustrierend.