Wenn unsichtbare Wunden heilen
Woran denken Sie, wenn Sie den Begriff „posttraumatische Belastungsstörung“ (PTBS) hören? Wenn Sie dabei das Gesicht eines Soldaten vor sich sehen, geht es nicht nur Ihnen so. Dieses Bild wird in Medienberichten zu diesem Thema gewöhnlich gezeigt; und in der Tat leidet ein hoher Prozentsatz der Kriegsveteranen an posttraumatischen Symptomen.
Doch die verschiedenen Gesichter von PTBS-Betroffenen erzählen eine andere Geschichte. Unter den Betroffenen sind zwar viele Soldaten, gleichzeitig aber auch viel mehr Zivilisten, die nie ein Schlachtfeld gesehen haben. Dass die PTBS 1980 in das Diagnostic und Statistical Manual of Mental Disorders (Diagnostischer und statistischer Leitfaden psychischer Störungen) aufgenommen wurde – den Kanon, nach dem psychische Störungen in den USA und vielen anderen Ländern beurteilt werden –, beruhte allerdings auf bei heimgekehrten Vietnamveteranen beobachteten Symptomen. Damals untersuchten die Forscher frühere Kampfsituationen, wobei die daraus resultierenden Reaktionen traumatisierter Soldaten noch als „Kriegsneurose“ oder „Schlachtermüdung“ bezeichnet wurden; man verstand so wenig von der Reaktion des Gehirns auf Traumata, dass Militärs sie oft mit Feigheit oder moralischer Schwäche gleichsetzten.
Vietnamveteranen halfen den Forschern, die Behandlung psychisch Kranker einen wichtigen Schritt voranzubringen, obwohl die ersten Betroffenen überwiegend Männer waren und ihre Traumata scheinbar hauptsächlich von Kämpfen herrührten. Als sich für die Erforschung anderer Traumaarten neue Wege öffneten, verstand man die PTBS als eine Kombination von psychischen Reaktionen auf Autounfälle, Kämpfe, Naturkatastrophen, einmalige körperliche bzw. sexuelle Gewalterlebnisse usw.
„Man muss nicht kämpfender Soldat sein oder ein Flüchtlingslager in Syrien oder dem Kongo besuchen, um ein Trauma zu erleben. Traumata widerfahren uns, unseren Freunden, unseren Familien und unseren Nachbarn.“
Die Forschung zeigte allerdings bald, dass die PTBS in einer einzigartig komplexen Form häufig auch bei Opfern von Kindesmisshandlung auftrat, insbesondere, wenn es sich um wiederholte Misshandlungen im Umfeld der Familie und in wichtigen Entwicklungsphasen handelte. Im Erwachsenenalter wiesen solche Opfer häuslicher Gewalt – Männer wie Frauen – schwerwiegende Defizite im Bereich der zwischenmenschlichen Kompetenzen auf. Infolgedessen wurden ihnen zusammen mit PTBS häufig mehrfache Diagnosen gestellt, darunter Borderline-Persönlichkeitsstörungen (meist bei Frauen) und antisoziale Persönlichkeitsstörungen (meist bei Männern).
Für die Kliniker wurden diese Muster immer erkennbarer, das Wissen der Neurowissenschaft über die Entwicklung des menschlichen Gehirns wuchs, und Traumaforscher begannen zu verstehen, warum Traumaerlebnisse in der Kindheit derart komplexe Symptome nach sich ziehen. In diesem Zusammenhang wurde auch nach Antworten auf Fragen gesucht, die sich im Familien- und Freundeskreis oft stellen, wenn ein Angehöriger eine solche Diagnose bekommt: Warum reagieren manche Menschen auf Traumata mit PTBS und andere nicht? Warum einer von meinen Leuten? Und wie kann ich helfen? Um diese Fragen beantworten zu können, ist es wichtig, in Grundzügen zu verstehen, wie das Gehirn auf ein Trauma reagiert.
WAS EIN TRAUMA BEWIRKT
Unser Gehirn ist nicht nur für das Denken und Lernen zuständig – es ist auch das zentrale Steuersystem des Körpers; es reguliert die Ausschüttung von Hormonen, die verschiedene Körperfunktionen bestimmen. Wenn wir in Gefahr sind, wird das Gehirn von Stresshormonen überflutet, die vorübergehend sämtliche Ressourcen dem Kampf-Flucht-System zuweisen. Wachsen, Lernen, Verdauung und viele andere Funktionen werden ausgesetzt, bis die Gefahr vorüber ist und sich diese Funktionen wieder normalisieren können. Generell entsteht dadurch kein Schaden – außer, wenn die Gefahr nicht vorübergeht. Ein Gehirn, das unter anhaltendem Stress steht, kann im Kampf-Flucht-Modus stecken bleiben. Schlimmer noch: Wenn ein Kind in den entscheidenden Entwicklungsphasen des Gehirns chronischem Stress ausgesetzt ist, können die Folgen für das Wachstum des Gehirns, die Aufmerksamkeit und das Lernen, aber auch die Herzfrequenz, die Verdauung und das Immunsystem im Hinblick auf die künftige psychische und körperliche Gesundheit verheerend sein.
Es ist wichtig, zu wissen, dass die automatischen Kampf-Flucht-Reaktionen im Gehirn von höheren Strukturen gesteuert werden, die durch die emotionale Einstellung auf Bezugspersonen vom Säuglingsalter bis weit in die ersten drei Lebensjahre hinein geformt werden. Wer in diesen entscheidenden Jahren sichere, fürsorgliche Beziehungen erlebt, hat bessere Voraussetzungen dafür, traumatische Ereignisse später im Leben zu verkraften.
Wenn aber Eltern – die Bezugspersonen, zu denen ein Kind in der Regel die engste Bindung entwickelt – ein Kind in dieser entscheidenden Entwicklungsphase misshandeln oder einfach nicht beachten, kann dessen Fähigkeit, die automatischen Reaktionen seines Körpers auf emotionale Erregung zu regulieren und auf Stress richtig zu reagieren, stark verkümmern. Dies hat weitreichende Folgen für die Entwicklung des Kindes. Wird gegen dieses Defizit bis zum Teenageralter, in dem sich bindungsabhängige Fähigkeiten wie Selbstregulierung und prosoziales Verhalten im Normalfall stabilisieren, nichts unternommen, so wird die Fähigkeit zur Regulierung von Emotionen, Aufmerksamkeit und Verhalten sowie zum Eingehen von stabilen zwischenmenschlichen Beziehungen mit hoher Wahrscheinlichkeit schwer geschädigt.
Das Ausmaß der menschlichen Belastbarkeit wird auch mit genetischen Voraussetzungen in Verbindung gebracht, doch der Forschung zufolge ist das soziale Umfeld ein wichtiger Bestimmungsfaktor dafür, ob und wie die dafür verantwortlichen Gene während der Entwicklung aktiviert werden. Eine Studie der Columbia University in Zusammenarbeit mit der University of Michigan ergab 2014 tatsächlich einen Wirkzusammenhang zwischen einer Kindheit in Not und einem spezifischen Gen, das beeinflusst, ob ein Kind ein späteres Trauma gut oder schlecht verkraften wird. Zwar betraf diese Studie Soldaten, doch war bei den Zivilisten der Kontrollgruppe die gleiche Interaktion zu beobachten. Je nachdem, welche der drei Formen des Gens vorhanden war (und unabhängig davon, ob die Person Zivilist oder Soldat war), ließ sich ein Risiko für Traumareaktionen vorhersagen, wenn der Betroffene als Kind mehr als eine Art von Not erlitten hatte. Diese Befunde helfen, die Korrelation zu erklären, die zwischen hohen Selbstmordquoten bei Soldaten und schon vor dem Eintritt in das Militär messbaren Traumasymptomen infolge von Kindesmisshandlung besteht, wie andere Studien aufzeigen. Diese Faktoren werden als das „Urtrauma“ hinter der PTBS als Kriegsfolge bezeichnet.
Der Einfluss des Umfelds auf die Aktivierung von Genen erklärt weitgehend, warum nicht jeder Traumatisierte eine PTBS entwickelt. Für Familien und Freunde kann es ein Trost sein, dass es ihren PTBS-Betroffenen nicht an Mut oder Charakter fehlt und die Unterstützung durch ein tragfähiges soziales Netz einen wichtigen Beitrag zu deren Heilung leisten kann. Tatsächlich steht und fällt der Behandlungserfolg mit einer therapeutischen Beziehung, die von Vertrauen geprägt ist; deshalb ist es so ungemein wichtig, eine Therapeutin oder einen Therapeuten zu finden, bei dem sich der Betroffene wohlfühlt.
Es mag selbstverständlich scheinen, dass Menschen, die ihre emotionalen und körperlichen Reaktionen auf Angst nicht gut regulieren können, auch mit Stress Schwierigkeiten haben. Dieses Wissen ist jedoch unabdingbar, wenn man Betroffenen während der Zeit der Therapie zur Seite stehen will. Wer an einer PTBS leidet –egal, ob Erwachsener oder Kind –, muss grundlegende Fähigkeiten der Selbstregulierung zur Bewältigung von Stress zurückgewinnen, bevor das traumatisierende Ereignis selbst erkundet wird. Andernfalls besteht das Risiko, dass der Betroffene destabilisiert oder sogar retraumatisiert wird.
Was bedeutet dies für Freunde und Familienmitglieder? Zuallererst, dass der unter PTBS Leidende Ihre Liebe, Unterstützung und aufmerksame Fürsorge benötigt, um wieder gesund zu werden. Es lässt sich nicht leugnen, dass es Mühe kosten kann, diese menschlichen Grundbedürfnisse zu erfüllen. Mit PTBS-Symptomen ist nicht leicht zu leben; man muss eine Menge Geduld und Verständnis aufbringen. Ihr Angehöriger mag zwischen emotionaler Distanz und zorniger Reaktivität schwanken; er oder sie kann wechselweise trotzig, aggressiv, bedürftig, fordernd, abwesend und emotionslos oder wahllos vertrauensselig sein. Zum Glück hilft schon ein wenig Wissen sehr viel. Sich darüber zu informieren, welches die gängigen Symptome sind und was zur Behandlung notwendig ist, kann Familienmitgliedern und Freunden das Verständnis vermitteln, das sie benötigen, um nicht erdrückt zu werden, während sie einen Angehörigen unterstützend durch den Heilungsprozess begleiten.
GÄNGIGE PTBS-SYMPTOME
Zwischenmenschliche Verbindungen spielen sich primär auf der Ebene der Emotionen ab. Gerade auf dieser Ebene sind die Symptome einer PTBS am verheerendsten: Posttraumatische Reaktionen auf extremen Stress können selbstzerstörerische Tendenzen, Selbstmordgedanken und unkontrollierbare Wutausbrüche sein, aber auch Aufmerksamkeitsstörungen wie Abwesenheit, Entpersönlichung oder Gedächtnisverlust, Störungen der Selbstwahrnehmung wie Schuldgefühle, Scham, Unfähigkeit, ein Gefühl dauerhaften Beschädigtseins; Isolation aufgrund des Gefühls, unmöglich von jemand anderem verstanden werden zu können; Störungen der Beziehungen zu anderen Menschen einschließlich der Unfähigkeit, zu vertrauen, Überempfindlichkeit und unverhältnismäßige Wachsamkeit gegenüber wahrgenommenen Gefahren sowie Verzweiflung, Hoffnungslosigkeit oder Verlust wichtiger Glaubensüberzeugungen. Doch auch die körperlichen Symptome einer PTBS sind schwerwiegend. Der Körper behält Traumareaktionen im Gedächtnis, selbst wenn das Gehirn dies anscheinend nicht tut. Mögliche Symptome sind unter anderem Störungen im Verdauungssystem oder chronische Schmerzen, Herz-Lungen-Probleme oder neurologische Störungen.
Kliniker, die auch mit der Borderline-Persönlichkeitsstörung (BPS) vertraut sind, erkennen offensichtliche Überschneidungen zwischen komplexen PTBS- und BPS-Symptomen. Nicht alle, aber viele Borderliner haben in ihrer Kindheit ein Trauma erlitten; außerdem gibt es einzigartige Merkmale, wenn BPS und PTBS in Kombination auftreten.
Wegen des Stigmas, mit dem Borderline-Symptome behaftet sind – vor allem, wenn Patienten als manipulierend oder bedürftig betrachtet werden –, kommt es leider vor, dass Opfer von Kindesmisshandlung nicht optimal behandelt werden, sondern so, als hätten sie mehrere verschiedene, nicht zusammenhängende Störungen. Dies liegt zum Teil an fragmentierten Therapieansätzen, aber auch daran, dass ein Patient durch Therapien, die er emotional noch nicht verkraftet, Schaden nehmen kann.
Als einer der Hauptrisikofaktoren für schwere posttraumatische Reaktionen gilt das Alter zum Zeitpunkt der Traumatisierung. Bei jüngeren Kindern ist das Risiko höher, gleichgültig, ob die Traumatisierung zu Hause geschah oder nicht. Doch auch die Anzahl verschiedener Traumatisierungen und das Maß des Verrats durch eine Bezugsperson sind signifikante Faktoren. „Trauma durch Verrat“ meint die Misshandlung oder den Missbrauch durch den Menschen, der dem Kind am nächsten steht; und je wichtiger der Täter oder die Täterin im Leben des Opfers ist, desto schwerer sind wahrscheinlich die Folgeschäden des Traumas. Leider sind die Täter in der großen Mehrheit der Fälle Eltern (meist die leiblichen Eltern) – die wichtigsten Bezugspersonen eines Kindes.
„Die Arbeit mit traumatisierten und misshandelten Kindern hat … bewirkt, dass ich gründlich über das Wesen des Menschen und den Unterschied zwischen Menschheit und Menschlichkeit nachgedacht habe. Nicht alle Menschen sind menschlich. Ein Mensch muss lernen, menschlich zu werden.“
Wenn ein Kind ein Trauma durch Verrat erleidet, tritt häufig ein Effekt ein, der als „Abspaltung“ bezeichnet wird – ein Überbegriff für mehrere Formen, sich innerlich von seiner Umgebung zu trennen. Kinder nehmen darin oft Zuflucht, wenn sie mit erdrückenden Bedingungen konfrontiert werden. In dem traumatischen Moment hilft ihnen das, zu überleben, doch die Abspaltung stört den normalen Bezug zwischen Erfahrung und Wahrnehmung. Dies liegt vielen PTBS-Symptomen zugrunde und kann zu extrem beeinträchtigenden Störungen führen.
Komplexe Traumasymptome sind bei Kindern auf subtile Weise anders als bei Erwachsenen. Praktisch gesehen können sie sich darin manifestieren, dass das Kind zu häufigen Gefühlsausbrüchen neigt, Angst vor Gefühlen hat (und sie nicht beschreiben kann), Schlafstörungen und/oder Schmerzen hat, sich nicht anfassen lassen mag, Ess- oder Verdauungsstörungen hat, übermäßig auf wahrgenommene Gefahren achtet, leicht ablenkbar, aggressiv und/oder risikofreudig ist, Verrat erwartet, sich übermäßig mit der Not anderer identifiziert, den Verlust von Bezugspersonen erwartet und/oder selbstzerstörerische Bewältigungsstrategien wie Selbstverletzung oder Suchtmittelmissbrauch entwickelt. Weil diese Kinder Schwierigkeiten haben, ihre Gefühle in Worten auszudrücken, fehlen ihnen angemessene Strategien, auf diese zu reagieren, und es ist wahrscheinlicher, dass sie sie körperlich ausleben.
Aufgrund dieser Vielfalt von Symptomen, die in der Mehrzahl mit Selbstregulierungsdefiziten verbunden sind, werden bei Kindern mit einer PTBS oft zusätzliche Störungen diagnostiziert, zum Beispiel Phobien, Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung (ADHS) und Trotzverhalten bzw. Autoritätsabwehr. Angesichts der Beiträge der Neurowissenschaft zur Feststellung eines Zusammenhangs zwischen der Bindung im Säuglingsalter und der späteren Selbstregulierung ist von Interesse, dass auch ADHS mit Defiziten in der Selbstregulierung in Verbindung gebracht wird; dies legt nahe, dass die Klassifizierung als Aufmerksamkeitsstörung vielleicht nicht die beste ist. Wenn Kliniker sich darauf konzentrieren, Probleme wie ADHS als separate Probleme dieser Kinder zu behandeln statt als Symptome, die von einer gemeinsamen Ursache herrühren, können die Folgeschäden von Traumata für die Entwicklung leicht übersehen werden. Wenn dies geschieht, ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass die Entwicklung von Fähigkeiten zur Selbstregulierung oder zur Erholung von Traumata nicht früh genug einsetzt, sodass diese Kinder als Erwachsene oft von Neuem zu Patienten werden.
„Wir sind von Grund auf soziale Wesen – unser Gehirn ist dafür verdrahtet, zusammen zu arbeiten und zu spielen. Trauma verwüstet das System für Gemeinsamkeit und Bindung und stört die Zusammenarbeit, die Fürsorglichkeit und die Fähigkeit, als produktives Mitglied der Sippe zu funktionieren.“
Tatsächlich können Traumata, das behauptet die Forschung, bei Kindern komplett übersehen werden, weil zwischen den Reaktionen von Kindern und Erwachsenen auf traumatische Ereignisse signifikante Unterschiede bestehen. Wenn ein Trauma aber früh genug entdeckt wird, sodass das Kind innerhalb von 30 bis 45 Tagen Hilfe bekommt, es auf eine funktionierende Familie zurückgreifen kann und soziale Unterstützung erfährt, ist die Wahrscheinlichkeit deutlich geringer, dass es zu Spätfolgen wie eine PTBS kommt.
NOTWENDIGE ASPEKTE DER BEHANDLUNG
Um ein traumatisiertes Gehirn erfolgreich wiederherzustellen, sollte die Behandlung die natürliche sequenzielle Entwicklung des Säuglingsgehirns imitieren; das heißt, sie sollte in Phasen erfolgen und mit der Stabilisierung beginnen. Dabei werden die Betroffenen über ihre Symptome aufgeklärt und erlernen Techniken zur Bewältigung und Bewusstmachung emotionaler Zustände, damit sie negative Emotionen ertragen und mit Stress umgehen können. Strategien hierfür können unter anderem Atemübungen, spezifische Körperhaltungen oder sogar Achtsamkeitstraining sein. In dieser Phase ist die Beziehung zwischen Therapeut und Patient ein wichtiger stützender Rahmen für den Aufbau von Fähigkeiten zur Selbstregulierung, Selbstberuhigung und Führung zwischenmenschlicher Beziehungen; so wird der stützende Rahmen nachempfunden, den die Bindung an Bezugspersonen dem Gehirn eines Babys bietet.
Familienmitglieder und Freunde können in dieser Zeit dazu beitragen, ein Gefühl von Sicherheit zu schaffen, indem sie nach bestimmten Schlüsselreizen fragen und auf diese achten – Dinge, die an das Trauma erinnern und einen „Flash-back“ (ein Wiedererleben) auslösen. Solche Schlüsselreize können etwas sein, das der Betroffene sieht, hört, riecht; starke Emotionen oder Körpergefühle, sogar Hunger oder Durst. Wenn ein traumatisierter Angehöriger einen Flash-back oder eine starke Empfindung hat, die er nur schwer regulieren kann, ist es nicht immer einfach, zu wissen, wie man ihm helfen kann. In manchen Fällen wird Ihre einzige Option darin bestehen, ihn zu fragen, was er jetzt von Ihrer Seite braucht.
Das Bedürfnis nach Unterstützung hört zwar nie auf, doch im Lauf des Heilungsprozesses verändert es sich im Hinblick auf Form und Intensität. So kann Ihr Angehöriger in der zweiten Phase, in der das Trauma selbst angesprochen wird, bereit sein, immer wieder mit Ihnen darüber zu sprechen. An dieser Stelle bedeutet hilfreiche Unterstützung, zuzuhören und dabei dem Impuls zu widerstehen, mit negativen oder urteilenden Emotionen zu reagieren, die Sie unter Umständen empfinden. Einfach zuzuhören und Verständnis für Emotionen zu zeigen, ohne sie zu minimieren oder abzutun, ist der beste Weg, Unterstützung zu bieten. Aussagen wie „Das musst du hinter dir lassen“ oder „Denk doch nicht immer daran“ sind in dieser Phase das Gegenteil von hilfreich.
In der dritten Phase wird Ihr Angehöriger seine Aufmerksamkeit allmählich von dem Trauma lösen und sie stattdessen zunehmend darauf richten, Beziehungen einzugehen bzw. zu stärken sowie eine Identität zu entwickeln, die auf neue Fähigkeiten und Hoffnung für die Zukunft ausgerichtet ist. Einer der destruktivsten Aspekte traumatischer Erlebnisse besteht darin, dass das Opfer sie nicht kontrollieren kann; deshalb ist es ein wichtiger Teil des Heilungsprozesses, das Gefühl einer gewissen Kontrolle zurückzugewinnen. Im Zentrum steht dann das Interesse an Arbeit, Leistung, Freizeitbeschäftigungen und anderen Aktivitäten. An diesem Punkt können Sie dazu beitragen, ein Unterstützungssystem außerhalb der Therapie aufzubauen, das in der dritten Phase Priorität erhält. Forschungsergebnisse zeigen darüber hinaus, dass Patienten, die einer bewusst gewählten Religionsgemeinschaft angehören – ein weiterer Aspekt von Verbundenheit und Belastbarkeit – in dieser Zeit verstärkt davon profitieren. Nicht nur, weil das Potenzial für weitere menschliche Verbindungen hilfreich ist, sondern den Forschungsergebnissen zufolge können der Glaube an eine höhere Macht und das Gefühl der Verbundenheit mit dieser Macht helfen, ein Gefühl der Sinnhaftigkeit zu schaffen, das für die Belastbarkeit von entscheidender Bedeutung ist. Zusätzlich können Meditation und Gebet eine beruhigende Wirkung auf die Schaltkreise des Gehirns ausüben, die Aufmerksamkeit und Emotion regulieren, während selbstbezogene Gehirnareale ausgeschaltet werden. Diese Nutzeffekte sind höchst relevant für das Therapieziel dieser Phase, nämlich den Betroffenen darin zu unterstützen, eine feste Identität, die über die des Opfers oder Überlebenden hinausgeht, zu entwickeln und zu verfeinern.
Einige der Betroffenen entscheiden sich in dieser Phase für eine Konfrontation mit der Person, die sie misshandelt hat, doch das ist keineswegs ein notwendiger Schritt. Andere ziehen es vor, ihre Geschichte hilfsbereiten Familienmitgliedern oder Freunden zu offenbaren. In beiden Fällen sollte nicht ausschließlich darauf geachtet werden, wie die entsprechenden Erlebnisse kommuniziert werden, sondern auch darauf, was die Folgen sein könnten, denn ungute Kommunikationsmuster innerhalb einer Familie können schwer zu durchbrechen sein, selbst mit den neuen Fähigkeiten eines Traumaüberlebenden. Doch wenn zumindest einige Familienmitglieder die Notwendigkeit erkennen, eine Veränderung zu fördern, und entschlossen sind, ihrem traumatisierten Angehörigen emotionale Unterstützung zu geben, bestehen gute Aussichten auf eine Genesung – auch wenn es immer passieren kann, dass manche Symptome unter Stress erneut auftreten.
WIE SIEHT HEILUNG AUS?
Zur Heilung gehört, dass ein Punkt erreicht wird, an dem es Ihrem Angehörigen gelingt, mit den Symptomen und traumatischen Erinnerungen umzugehen, das Ereignis in einen sinnvollen Kontext zu stellen und sich mehr auf Gegenwart und Zukunft als auf die Vergangenheit zu konzentrieren. Noch wichtiger ist, dass zur Heilung die Fähigkeit gehört, positive Beziehungen zu genießen und starke Bindungen im persönlichen Umfeld, aber auch in der größeren Gemeinschaft aufzubauen. Trauma isoliert. Das Gefühl, dass niemand außer ihnen selbst das Erlebte verstehen kann, isoliert Traumaüberlebende von der menschlichen Verbundenheit, die so entscheidend ist für die psychische und körperliche Gesundheit. Ohne soziale Unterstützung und sichere zwischenmenschliche Bindungen kann die Heilung von einem Trauma nicht einmal beginnen.
Für einen Freund oder ein Familienmitglied eines PTBS-Patienten beutet dies, dass Sie erst einmal verstehen müssen, was ein Trauma ist, damit Sie die Unterstützung leisten können, die Ihr Angehöriger braucht. Dadurch können aber auch Sie anfällig werden. Auch Sie brauchen möglicherweise Unterstützung, um die Anforderungen an Ihre Liebe, Ihr Mitgefühl und Ihr Durchhaltevermögen zu bewältigen – und dies auf einem oft sehr holprigen Weg, wie die Traumaforscherin Judith Herman schreibt: „Psychologische Traumaforschung bedeutet, sowohl mit der menschlichen Verletzlichkeit in der Umwelt als auch mit der Fähigkeit zum Bösen in der Innenwelt des Menschen direkt konfrontiert zu werden“ (s. „Überwinde das Böse mit Gutem“).
„Siehe da, die Hütte Gottes bei den Menschen … und Gott wird abwischen alle Tränen von ihren Augen, und der Tod wird nicht mehr sein, noch Leid noch Geschrei noch Schmerz wird mehr sein; denn das Erste ist vergangen.“
Einem Angehörigen während des Heilungsprozesses beizustehen kann emotional durchaus belastend sein, am Ende aber durchaus reichen Lohn bringen. Familie und Freunde erleben die Heilung des Traumatisierten als Augenzeugen aus nächster Nähe mit, werden Zeuge, wie Schmerz und Tränen zu Dankbarkeit und Hoffnung werden. Und dabei bekommen wir einen kleinen Einblick in die enorme Macht der Liebe, das Böse zu überwinden.